Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten in dem zugrundeliegenden Verfahren (ursprüngliches Az. S 23 AS 243/13), ob den Klägern für den Bewilligungszeitraum 1. Dezember 2012 bis 31. Mai 2013 höhere Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zustehen. Die anwaltlich vertretenen Kläger machen ausdrücklich die Rechtswidrigkeit des "Bescheides vom 20. November 2012
in Gestalt des Änderungsbescheides vom 7. Januar 2013 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 11. Januar 2013 und 18. Juli
2014 in Gestalt der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 2. Juni 2014 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 5. März 2015"
geltend. Nachdem das Sozialgericht (SG) Bremen nach Fortführung des zuvor als erledigt ausgetragenen Verfahrens unter dem Az. S 23 AS 1247/18 in dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 17. September 2018 keine Entscheidung in der Sache getroffen hat, sondern festgestellt
hat, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahmefiktion beendet ist, ist Gegenstand des Berufungsverfahrens allerdings allein
die Frage, ob das Verfahren S 23 AS 243/13 durch fiktive Klagerücknahme nach §
102 Abs.
2 S. 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) beendet und die Feststellung des SG insoweit zu Recht erfolgt ist.
Der Kläger zu 1, seine Ehefrau - die Klägerin zu 2 - sowie die 1992 geborene Klägerin zu 3 standen als Bedarfsgemeinschaft
zumindest in der Vergangenheit im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Mit Bewilligungsbescheid vom 20. November 2012 bewilligte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis 31. Mai 2013. Mit Änderungsbescheid vom 24. November 2012 änderte der Beklagte
die Leistungshöhe für den Zeitraum 1. Januar bis 31. Mai 2013 ab, ohne diese Leistungsbewilligung ebenfalls für vorläufig
zu erklären. Den gegen diese beiden Bewilligungsbescheide eingelegten Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 11. Januar 2013 zurück. Die Kläger haben am 12. Februar 2013 Klage bei dem SG Bremen erhoben. Der Beklagte hat mit Schriftsatz
vom 19. März 2013 die angefochtenen Bescheide verteidigt und darauf hingewiesen, dass die Absetzungen vom Einkommen der Klägerin
zu 2 im Rahmen ihrer Selbstständigkeit keine Fehler erkennen lassen würden. Es sei allerdings zuzugeben, dass in den Bescheiden
die beiliegenden Berechnungsbögen falsche Beträge enthalten würden. Dies beruhe offensichtlich auf einem Programmfehler. Mit
Schriftsätzen vom 29. Mai 2013 und vom 12. Dezember 2013 haben die Kläger ihre Klage ergänzend begründet und unter anderem
eine fehlerhafte Anrechnung des Existenzgründungszuschusses und eine fehlerhafte Berechnung der Kosten für Unterkunft und
Heizung, insbesondere betreffend die Stromkosten der Flüssiggasheizungsanlage, beanstandet. Weiter haben sie einen ernährungsbedingten
Mehraufwand wegen Laktoseintoleranz geltend gemacht. Am 2. Juni 2014 hat der Beklagte mehrere Aufhebungs- und Erstattungsbescheide
hinsichtlich des Zeitraums 1. Dezember 2012 bis 31. Mai 2013 erlassen und die hiergegen eingelegten Widersprüche mit Widerspruchsbescheiden
vom 18. Juli 2014 verworfen. Die Kläger haben die Bescheide vom 2. Juni 2014 im gerichtlichen Verfahren vorgelegt und darauf
hingewiesen, dass sie nach §
96 Abs.
1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sein dürften. Mit Bewilligungsbescheid vom 5. März 2015 hat der Beklagte den Klägern für
den streitigen Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis 31. Mai 2013 Leistungen nach dem SGB II in geänderter Höhe unter abschließender Berücksichtigung des inzwischen nachgewiesenen Einkommens aus Selbstständigkeit bewilligt.
Jeweils mit Bescheid vom 5. März 2015 hat der Beklagte gegenüber den drei Klägern unter Bezugnahme auf § 40 SGB II i.V.m. §
328 Abs.
1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB III) eine Erstattungsforderung hinsichtlich des Zeitraums 1. Dezember 2012 bis 31. Mai 2013 festgestellt und zugleich die jeweiligen
Aufhebungs- und Erstattungsbeschiede vom 2. Juni 2014 aufgehoben. Mit gerichtlicher Verfügung vom 23. September 2015 hat das
SG die Kläger aufgefordert, konkrete Angaben zu den behaupteten Stromkosten zu machen. Darüber hinaus hat es ihnen aufgegeben
- unter Vorlage von Einkaufsbelegen der letzten drei Monate - darzulegen, worin der Ernährungsmehrbedarf des Klägers liege.
Unter Berücksichtigung einer fehlenden Rückmeldung durch die Kläger hat das SG mit Verfügung vom 22. Dezember 2015 diese aufgefordert das Verfahren zu betreiben und binnen drei Monaten zu dem Hinweis
vom 23. September 2015 Stellung zu nehmen. Zugleich hat es auf die Rechtsfolgen des §
102 Abs.
2 SGG hingewiesen. Nachdem auch in den folgenden drei Monaten auf diese gerichtliche Verfügung keine Äußerung durch die Kläger
erfolgt war, hat das SG das Verfahren am 25. April 2016 als erledigt ausgetragen und sowohl den Beklagten als auch die anwaltlich vertretenen Kläger
entsprechend benachrichtigt.
Am 20. Juni 2018 haben die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten - unter Erinnerung an die ausstehende Entscheidung über
den Prozesskostenhilfeantrag - sinngemäß die Fortsetzung des Verfahrens beantragt und darauf hingewiesen, dass die gerichtliche
Nachricht vom 25. April 2016 gegenstandslos sei. Eine Klagerücknahmefiktion könne vorliegend nicht durchgreifen, das SG habe von ihnen keine konkreten Unterlagen angefordert. Im Übrigen hätten die erforderlichen Nachweise dem Beklagten seit
Jahren in der Leistungsakte vorgelegen. Schließlich seien auch die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide Gegenstand des Verfahrens
geworden.
Das SG hat das Verfahren unter dem Az. S 23 AS 1247/18 fortgeführt und nach vorheriger Anhörung der Kläger mit Gerichtsbescheid vom 17. September 2018 festgestellt, dass das Verfahren
wirksam beendet sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, die ursprünglich zulässige Klage sei durch fiktive Klagerücknahme nach
§
102 Abs.
2 SGG erledigt. Die Betreibensaufforderung erfülle die formellen Anforderungen. Sie habe auch die Fiktion der Klagerücknahme ausgelöst.
Aufgrund des Verhaltens der Kläger vor Ergehen der Betreibensaufforderung habe die Kammer davon ausgehen können, dass kein
Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens mehr bestanden habe. Die Kläger hätten am Verfahren nicht mehr mitgewirkt und
die gerichtlichen Schreiben nicht beantwortet.
Die Kläger haben am 22. Oktober 2018 Berufung eingelegt und sich im Berufungsverfahren im Wesentlichen mit den materiell-rechtlichen
Voraussetzungen ihrer Leistungsansprüche befasst.
Die Kläger beantragen ausdrücklich,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 17. September 2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Klägern
unter Abänderung des Bescheides vom 20. November 2012 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 7. Januar 2013 in Gestalt der
Widerspruchsbescheide vom 11. Januar 2013 und 18. Juli 2014 in Gestalt der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 2. Juni
2014 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 5. März 2015 hierüber hinaus für den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 31.
Mai 2013 weitergehende Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und Kosten der Unterkunft und Heizung nebst Mehrbedarfe in
gesetzlicher Höhe zu bewilligen,
hilfsweise den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 17. September 2018 aufzuheben und festzustellen, dass das beim
Sozialgericht Bremen ursprünglich unter dem Az. S 23 AS 243/13 geführte Verfahren in der ersten Instanz fortzusetzen ist und dahin zurückverwiesen wird, äußerst hilfsweise die Revision
zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Mit Beschluss vom 25. Mai 2020 hat der Senat, nachdem er zuvor mit Beschluss vom 20. März 2019 die Entscheidung über die Berufung
nach §
153 Abs.
5 SGG dem Berichterstatter übertragen hatte, die Berufung auf den Senat zurückübertragen.
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 4. Oktober 2019, 26. November 2019 und 10. Mai 2019 ihr Einverständnis erteilt
mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Dieses Einverständnis haben sie für den Fall der Rückübertragung der Berufung
auf den Senat mit Schriftsätzen vom 14. und 18. Mai 2020 wiederholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten
des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Über die Berufung konnte der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten dieser Verfahrensweise
zugestimmt haben (§
124 Abs.
2 SGG).
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist - wie dargelegt - ausschließlich die Frage, ob das Verfahren S 23 AS 243/13 durch fiktive Klagerücknahme nach §
102 Abs.
2 S. 1
SGG beendet ist bzw. ob die vom SG in dem angefochtenen Gerichtsbescheid getroffene entsprechende Feststellung zu Recht erfolgt ist. Gegenstand des ursprünglichen
Verfahrens S 23 AS 243/13 war hingegen das Begehren der Kläger, den Beklagten zu verurteilen, ihnen für den Bewilligungszeitraum 1. Dezember 2012 bis
31. Mai 2013 höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Soweit die Kläger auch in Kenntnis des gerichtlichen Hinweises vom 12. Mai 2020 ohne weitere Begründung ausdrücklich mit ihrem
Hauptantrag im Berufungsverfahren im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage die Abänderung verschiedener Bescheide
des Beklagten und die Gewährung weitergehender Leistungen geltend machen, erweist sich die Berufung als unzulässig, da die
Kläger den Streitgegenstand des Berufungsverfahrens verkennen. Weitere Ausführungen zu dem gestellten Antrag sind mithin entbehrlich.
Soweit die Kläger - mit ihrem Hilfsantrag - die Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG Bremen vom 17. September 2018 und
die Fortsetzung des ursprünglich bei dem SG Bremen geführten Verfahrens begehren, ist die Berufung zulässig, aber unbegründet.
Das SG hat mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 17. September 2018 im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass das ursprüngliche
erstinstanzliche Verfahren S 23 AS 243/13 erledigt ist. Das erstinstanzliche Verfahren ist daher nicht fortzuführen.
Nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG, der mit dem Gesetz zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I Satz 444) zum 1. April 2008 auch in die in der Sozialgerichtsbarkeit anzuwendende Prozessordnung
eingeführt wurde, gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger
als drei Monate nicht betreibt. §
102 Abs.
1 SGG gilt entsprechend (§
102 Abs.
2 Satz 2
SGG), der Kläger ist in der Betreibensaufforderung auf die sich aus Satz 1 und ggf. aus §
197a Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
155 Abs.
2 Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO) ergebenden Rechtsfolgen für eine etwaige Kostenentscheidung hinzuweisen (§
102 Abs.
2 Satz 3
SGG). Als sog. ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal setzt der Entschluss des Richters, an einen rechtschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten
eine Betreibensaufforderung zu richten, voraus, dass im Einzelfall das Verhalten des Beteiligten hinreichenden Anlass zu der
Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist (so bezüglich der vergleichbaren Vorschriften in
§
92 Abs.
2 VwGO und §
81 Asylverfahrensgesetz (
AsylVfG): Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Kammerbeschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 - juris Rn. 17; zu §
102 Abs.
2 SGG ausführlich: Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 58/09 R -; Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, § 102 Rn. 8a). Eine prozessrechtlich verankerte Klagerücknahmefiktion steht nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG mit Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz (
GG) im Einklang; grundsätzlich kann ein Gericht im Einzelfall danach von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses ausgehen,
wenn das Verhalten eines Beteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist
(BVerfG, a.a.O.; BSG, Urteil vom 4. April 2017 - B 4 AS 2/16 R). Allerdings kommt die Annahme des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses - im Hinblick auf die Gewährleistung des verfassungsrechtlichen
Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes (Art.
19 Abs.
4 Satz 1
GG) nur in eng begrenzten und eindeutigen Ausnahmefällen in Betracht, sofern konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren
Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist. Ob und unter welchen
Umständen ein solcher Wegfall des Rechtsschutzinteresses angenommen werden kann, ist im Einzelfall zu beurteilen.
Der Senat kann vorliegend offenlassen, ob die Voraussetzungen für eine Klagerücknahmefiktion nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG im dargelegten Sinne erfüllt sind. Denn dem von den Klägern geltend gemachten Anspruch auf Feststellung, dass das erstinstanzliche
Verfahren fortzusetzen ist, steht bereits entgegen, dass die Kläger die Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens S 23 AS 243/13 nicht rechtzeitig beantragt haben. Der Antrag auf Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens vom 20. Juni 2018 erweist
sich als verspätet. Er ist wegen Verwirkung unzulässig.
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass unter bestimmten Umständen auch die Befugnis zur Anrufung der Gerichte nach Art.
19 Abs.
4 Satz 1
GG im Einzelfall der von Amts wegen zu berücksichtigenden Verwirkung unterliegen kann; an die Voraussetzungen der Verwirkung
müssen dieselben Maßstäbe angelegt werden, die für Prozessnormen gelten, die den Rechtsweg nach Art.
19 Abs.
4 Satz 1
GG regeln, d.h. der Weg zu den Gerichten darf durch die Annahme der Verwirkung nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht
mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden; hiervon kann nicht ausgegangen werden, wenn der Zeitraum, auf den abgestellt
wird, nicht zu kurz bemessen ist und wenn vorausgesetzt wird, dass die rechtzeitige Anrufung des Gerichts den Betroffenen
möglich, zumutbar und von ihm zu erwarten war (BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 - 2 BvR 255/67-m.w.N.). Die Verwirkung ist Ausfluss des Grundsatzes von Treu und Glauben, der für die gesamte Rechtsordnung Gültigkeit hat.
Sie bildet einen Anwendungsfall des venire contra factum proprium (Verbot widersprüchlichen Verhaltens) und besagt, dass ein
Recht nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment)
und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen
bzw. der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen
zu werden pflegt (Umstandsmoment; vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 9. Dezember 1998 - 3 C 1/98; Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - 13 A 3802/05.A; vgl. auch BSG, Beschluss vom 29. Juli 1996 - 4 BA 49/95; Jung in: Roos/Wahrendorf,
SGG 1. Auflage 2014, §
66 Rn. 31; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, vor §
60 Rn. 14a). Bei der Verwirkung prozessualer Befugnisse im öffentlichen Recht ist neben dem schutzwürdigen Vertrauen der weiteren
Beteiligten auf das Untätigbleiben des Berechtigten auch ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens zu
berücksichtigen. Die Rechtssicherheit und -klarheit ist ein wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit und gehört damit
zu den wesentlichen Prinzipien des
Grundgesetzes. Die Rechtssicherheit soll auch über gerichtliche Verfahren grundsätzlich in angemessener Frist herbeigeführt werden und
wird im Bereich des Rechtsschutzes bewirkt durch das Institut der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen und hauptsächlich
über prozessuale Fristen für Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen. Denn Fristvorschriften sind ein tendenziell geeignetes
Mittel zur Beschleunigung des Verfahrens, weil Rechtsbehelfsfristen bewirken, dass innerhalb bestimmter Zeit für alle Beteiligten
klargestellt wird, ob es bei einer Entscheidung bleibt. Um der Rechtssicherheit willen darf die Rechtsordnung auch über das
Institut der Rechtskraft in Kauf nehmen, dass selbst unrichtige Gerichtsentscheidungen für den Einzelfall endgültig verbindlich
sind. Die Möglichkeit immerwährender, zeitlich unbegrenzter Rechtsstreitigkeiten besteht hingegen nicht (OVG Münster, a.a.O.).
Ob im Einzelfall eine Verwirkung eingetreten ist, ist eine Frage der Würdigung des Sachverhalts und der Anwendung einfachen
Rechts, die grundsätzlich allein von den zuständigen Gerichten zu beantworten ist.
Die Voraussetzungen der Verwirkung sind vorliegend erfüllt. Der Senat kann dabei offenlassen, ob ein Fall der Verwirkung im
Einzelfall auch in Betracht kommen kann, sofern der Zeitraum zwischen gerichtlicher Zustellung der Mitteilung, dass das Verfahren
nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG als erledigt angesehen wird, und Antrag auf Fortführung des gerichtlichen Verfahrens unter einem Jahr liegt. Der Senat hält
es allerdings für sachgerecht, in vergleichbaren Fällen für die Feststellung, ob ein zulässiger Antrag auf Fortführung des
Verfahrens vorliegt, einen Ein-Jahres-Zeitraum zugrunde zu legen. Sofern nach Mitteilung durch das Gericht, dass ein Verfahren
wegen Annahme fehlenden Rechtsschutzinteresses durch Klagerücknahmefiktion als erledigt angesehen wird, mehr als ein Jahr
vergangen ist, erweist sich ein Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens grundsätzlich als verspätet mit der Folge, dass Verwirkung
eingetreten ist. Erst recht gilt dies, wenn - wie hier - der Antrag auf Fortführung des Verfahrens erst über zwei Jahre nach
Beendigung des Verfahrens und entsprechender Mitteilung an die Beteiligten gestellt wird.
Auszugehen ist bei der Feststellung der Voraussetzungen für die Verwirkung unter Einbeziehung oben dargelegter Maßgaben von
den gesetzlichen Vorschriften, die eine vergleichbare Zielrichtung verfolgen, insbesondere der Schaffung von Rechtssicherheit
dienen sollen. Dies sind Vorschriften, die den Zeitraum festlegen, nach dessen Ablauf von der Unzulässigkeit eines Rechtsbehelfs
auszugehen ist. Nach §
66 Abs.
2 SGG ist im Regelfall bei unterbliebener oder fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrung die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb
eines Jahres seit Zustellung zulässig; eine vergleichbare Regelung mit einer Begrenzung auf eine Ein-Jahres-Frist findet sich
für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in §
67 Abs.
3 SGG. Der Senat hält es für sachgerecht, in Anlehnung an die genannten Vorschriften und die darin zum Ausdruck kommende gesetzgeberische
Zielsetzung auch für die Frage, innerhalb welchen Zeitraums nach Beendigung eines Verfahrens wegen Klagerücknahmefiktion die
Beantragung der Fortführung zulässig ist, eine Ein-Jahres-Frist zugrunde zu legen. Gerade die Tatsache, dass der Anwendung
der Vorschrift zur Klagerücknahmefiktion (§
102 Abs.
2 Satz1
SGG) regelmäßig die Fragestellung zugrunde liegt, ob der Kläger noch ein Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens hat, stellt
einen Umstand dar, der es - ggf. abgesehen von besonders gelagerten Einzelfällen - grundsätzlich ausschließt, dass ein abweichend
von der Einschätzung des Gerichts von Klägerseite reklamiertes Rechtsschutzinteresse später als ein Jahr nach Kenntnis von
der Entscheidung des SG noch im Wege der Beantragung der Fortsetzung des Verfahrens geltend gemacht werden kann. Insbesondere in einer Fallkonstellation,
in der das Vorliegen eines Rechtsschutzinteresses zweifelhaft erscheint und dies den Beteiligten deutlich gemacht worden ist,
dürfte es zu erwarten und jedem betroffenen Kläger zumutbar sein, ein solches spätestens innerhalb eines Jahres geltend zu
machen.
Nach diesen Kriterien ist der Antrag der Kläger vom 20. Juni 2018 auf Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens S 23 AS 243/13 wegen Verwirkung unzulässig, auch wenn der nach einer Verfahrensbeendigung nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG zu stellende Fortsetzungsantrag grundsätzlich an keine Frist gebunden ist. Das Verfahren S 23 AS 243/13 ist vom SG am 25. April 2016 als erledigt ausgetragen worden, die Beteiligten haben unstreitig ein informatorisches Schreiben hierüber
vom selben Tag erhalten. Erst am 20. Juni 2018, d.h. etwa zwei Jahre und zwei Monate später, haben die Kläger die Fortsetzung
des Verfahrens beantragt. Die anwaltlich vertretenen Kläger hätten erkennen müssen, dass die vom SG festgestellte Beendigung des erstinstanzlichen Verfahrens im April 2016 ganz vorrangig darauf beruhte, dass - zumindest nach
Einschätzung des SG - erhebliche Zweifel am Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses der Kläger an der Fortsetzung des Verfahrens bestanden
haben. Demzufolge hätte es sich insbesondere für einen Rechtsanwalt aufdrängen müssen, dass unter diesen Umständen eine eher
kurzfristige Reaktion geboten war, um das doch noch bestehende Rechtsschutzinteresse anzumelden, die Fortsetzung des Verfahrens
zu erreichen und die Rücknahmefiktion nicht zum Tragen kommen zu lassen. Die Kläger müssen sich das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten
insoweit zurechnen lassen (§§
202 SGG,
85 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO)).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor, da die Grundsätze der Verwirkung im gerichtlichen Verfahren in der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung
anerkannt sind und die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall keine grundsätzliche Bedeutung begründet.