Anerkennung weiterer Unfallfolgen
Bewilligung einer Verletztenrente
Anerkennung der Gesundheitsstörungen Anpassungsstörung, schwere Angststörung und mittelschwere Depression (vorliegend verneint)
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung weiterer Unfallfolgen sowie um die Bewilligung einer Verletztenrente.
Der im Jahre 1969 geborene Kläger war als Fleischbeschauer beim Veterinäramt des Landkreises I. angestellt und wurde in dieser
Funktion seit dem Jahre 2000 in der Schlachterei „J.“ in K. eingesetzt. Mittlerweile bezieht der Kläger eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung auf Dauer.
Der Kläger wurde am 31. Januar 2011 verletzt, als ihm ein Kollege bei der Arbeit mit der Faust ins Gesicht schlug und er mit
dem Rücken gegen die Metallkante einer Duschkabine gestoßen wurde.
Der Kläger wurde daraufhin in das L. -Hospital in M. gebracht, wo der Durchgangsarzt Dr. N. nach einem Röntgen des Unterkiefers
und des Thorax des Klägers keine Frakturen erkennen konnte. Dr. N. diagnostizierte eine Schädel- und eine Thoraxprellung links
und ging davon aus, dass der Kläger voraussichtlich am 8. Februar 2011 wieder arbeitsfähig sei (vgl. dessen Bericht vom 1.
Februar 2011). Nachdem der Kläger über den 8. Februar 2011 hinaus über Schmerzen am Kiefer und Kopfschmerzen klagte, veranlasst
Dr. N. dessen Vorstellung beim Neurologen und Psychiater Dr. O.. Dieser diagnostizierte in seinem Bericht vom 18. Februar
2011 beim Kläger einen Zustand nach Schädelprellung, den Verdacht auf ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, symptomatische posttraumatische
Cephalgien sowie eine akute Belastungsreaktion. Eine Computertomographie (CT) –Untersuchung des Neurocraniums (Teil des Schädels,
der das Gehirn umschließt) und des Gesichtsschädels des Klägers am 15. Februar 2011 ergab eine unauffällige Situation von
vorderer Schädelbasis und Gesichtsschädel ohne Zeichen einer aktuellen Fraktur oder Fehlstellung (vgl. Arztbrief des Radiologen
P. vom 14. März 2011). Die Vorstellung des Klägers in der Klinik für Zahn-, Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie/Plastische Operationen
des Klinikums Q. ergab den Verdacht auf eine Verletzung des Kiefergelenksdiskus rechts (Befundbericht des Klinikdirektors
Dr. Dr. R. vom 14. Februar 2011). Eine MR-Untersuchung am 28. Februar 2011 zeigte in den Funktionsaufnahmen bei zunehmender
Mundöffnung ein regelrechtes Gleiten des linken Kiefergelenkköpfchens sowie des Diskus nach ventral und caudal und ein im
Vergleich zur Gegenseite verzögertes Gleiten des rechten Diskus, wobei der Nachweis einer Einklemmung nicht erbracht werden
konnte (Befundbericht des Radiologen S. vom 4. März 2011). Der Kläger war nach Auffassung des Dr. N. ab dem 7. März 2011 wieder
arbeitsfähig, wobei zu diesem Zeitpunkt auch keine Behandlungsbedürftigkeit mehr vorlag (vgl. dessen Mitteilung an den Beklagten
vom 20. Oktober 2011).
Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 10. März 2015, Eingang bei dem Beklagten am 11. März 2015, die Gewährung einer Verletztenrente
beantragt hatte, zog der Beklagte neben den o.g. medizinischen Unterlagen die Unfallanzeige des Arbeitgebers des Klägers vom
11. Februar 2011 bei. Darüber hinaus nahm er Einsicht in die Akte der Staatsanwaltschaft (StA) Oldenburg (Verfahren NZS 795 Js 17411/11), welche auf die Strafanzeige des Klägers gegen dessen Arbeitskollegen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte. Aus dieser
Akte ergibt sich, dass das Amtsgericht I. das gegen den Kollegen des Klägers geführte Verfahren nach erfolgter umfangreicher
Beweisaufnahme mit Beschluss vom 4. Oktober 2011 gemäß §
153 Abs.
2 Strafprozessordnung eingestellt hat (Verfahren 18 Cs 795 Js 17411/11 (239/11)). Weiterhin holte der Beklagte das Vorerkrankungsverzeichnis des Klägers von dessen gesetzlicher Krankenversicherung
vom 14. April 2015, den Befundbericht der Psychologischen Psychotherapeutin T. vom 30. April 2015 sowie das Ärztliche Attest
des Facharztes für Allgemeinmedizin U. vom 28. Juni 2015 ein. Daneben holte er das psychiatrisch-psychosomatische Gutachten
des Dr. V. vom 31. August 2015, dessen ergänzende Stellungnahme vom September 2015 sowie die beratungsärztlichen Stellungnahmen
des Prof. Dr. W. vom 8. Juli 2015 und 10. September 2015 ein. Dr. V. kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Kläger
infolge des Unfalls an einer reaktiven mittelschweren Angst- und Depression, gemischt (ICD F 41.2, F 43.21) leide. Darüber
hinaus leide der Kläger an einer somatoformen Schmerzstörung und einem arzneimittelinduzierten Kopfschmerz, die jedoch nicht
auf den Unfall vom 31. Januar 2011 zurückzuführen seien. Die unfallbedingte Erkrankung sei mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) um 15 vom Hundert (v.H.) einzuschätzen. Mit Bescheid vom 21. Oktober 2015 erkannte der Beklagte das Unfallereignis des
Klägers vom 31. Januar 2011 (konkludent) als Arbeitsunfall an und lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab. Als Unfallfolgen
anerkannte er auf der Grundlage des Gutachtens des Dr. V. vom 31. August 2015 die Gesundheitsstörungen “kurzfristige, reaktive
mittelschwere Angst und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik
und unbewusster Krankheitsfehlverarbeitung.“ Ausdrücklich nicht als Unfallfolgen anerkannte er die Gesundheitsstörungen „somatoforme
Schmerzstörung sowie arzneimittelinduzierter Kopfschmerz.“
Der hiergegen erhobene Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 20. Juni 2016).
Hiergegen hat der Kläger am 18. Juli 2016 vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg Klage erhoben und sein bisheriges Vorbringen unter Vorlage des psychologischen Attestes der Frau T. vom 14. Juli
2016, des psychotherapeutischen Abschlussberichtes dieser Psychologin vom 30. September 2016 sowie des psychotherapeutischen
Befundberichtes der Frau T. vom 18. Oktober 2019 bekräftigt.
Der Beklagte ist dem Vorbringen des Klägers entgegengetreten.
Das SG Oldenburg hat aus dem parallel geführten Rentenverfahren des Klägers (Verfahren S 81 R 574/13) den Entlassungsbericht der X. vom 10. März 2016 beigezogen. Daneben hat es von Amts wegen das nervenfachärztliche Gutachten
des Dr. Y. vom 23. April 2018 einschließlich des psychologischen Zusatzgutachtens der Dipl.-Psychologin Z. vom 16. April 2018
(unter Mitarbeit von Dr. Y.) eingeholt. Darüber hinaus hat es auf Antrag des Klägers nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) das nervenfachärztliche Gutachten des Dr. Dr. AA. von Dezember 2018 eingeholt. Mit Urteil vom 8. November 2019 hat das SG
Oldenburg die Klage abgewiesen und seine Entscheidung im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. Y. vom 23. April 2018 gestützt.
Der Kläger hat gegen das ihm am 28. November 2019 zugestellte Urteil am 11. Dezember 2019 Berufung eingelegt und sein bisheriges
Vorbringen unter Vorlage diverser medizinischer und psychologischer Unterlagen (Psychotherapeutischer Befundberichte der Frau
T. vom 14. April 2021, 10. Oktober 2020 und 16. März 2020, Entlassungsbericht der AB. -Klinik AC. vom 16. Januar 2015 und
16. November 2018, Auszug aus den medizinischen Daten des Klägers bei dem Psychiater AD., Befundbericht des Psychiaters AD.
vom 18. Juni 2020) weitergeführt. Er ist der Ansicht, dass weitere bei ihm auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegende Gesundheitsstörungen
als Unfallfolge anzuerkennen seien. Darüber hinaus sei ihm infolge dieser anzuerkennenden Unfallfolgen eine Verletztenrente
zu gewähren.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 8. November 2019 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober
2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2016 zu ändern,
2. den Beklagten zu verurteilen,
a) die Gesundheitsstörungen „Anpassungsstörung, schwere Angststörung und mittelschwere Depression“ als weitere Folgen seines
Arbeitsunfalls vom 31. Januar 2011 anzuerkennen,
b) ihm Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v. H. der Vollrente zu gewähren.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung des SG Oldenburg für zutreffend.
Der Senat hat das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, Sozialmedizin und Rehabilitationswesen
AE. vom 24. Juni 2021 nebst neuropsychologischen Zusatzgutachtens der Dipl.-Psychologin AF. vom 18. Mai 2021 eingeholt. Der
Sachverständige AE. kommt in seinem Gutachten zu der Einschätzung, dass für den Kläger auf nervenfachärztlichem Gebiet die
Diagnosen „anhaltende somatoforme Schmerzstörung unter fibromyalgieformem Bild (ICD 10 F 45.41) sowie Angst- und depressive
Störung, gemischt (ICD 10 F 41.2)“ zu stellen sind. Diese Gesundheitsstörungen seien nicht auf den Arbeitsunfall vom 31. Januar
2011 zurückzuführen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senates durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 SGG zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakten
und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die der Entscheidungsfindung des Senats zugrunde gelegen haben.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet durch Urteil ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden
erklärt haben und der Senat eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG Oldenburg mit seinem Urteil vom 8. November 2019 die Klage
abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2016 ist
rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen
auf nervenfachärztlichem Gebiet als Unfallfolgen noch auf die Gewährung einer Verletztenrente.
Der Antrag des Klägers auf Verurteilung des Beklagten zur Anerkennung der Gesundheitsstörungen „Anpassungsstörung, schwere
Angststörung und mittelschwere Depression“ als weitere Folgen des Arbeitsunfalls vom 31. Januar 2011 ist als Verpflichtungsklage
gemäß §
54 Abs.
1 SGG zulässig (vgl. zum Verhältnis von Feststellungsklage und Verpflichtungsklage in diesem Zusammenhang Keller in: Meyer-Ladewig
u.a.,
SGG, Kommentar, 13. Aufl. 2020, §
55, Rz. 13c, §
54, Rz. 20b m.w.N.). Dabei geht der Senat davon aus, dass die im Antrag des Klägers genannten Unfallfolgen nicht mit den bereits
von dem Beklagten in seinem Bescheid vom 21. Oktober 2015 genannten Unfallfolgen (“kurzfristige, reaktive mittelschwere Angst
und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik und unbewusster Krankheitsfehlverarbeitung“)
identisch sind. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Beklagte die anerkannten nervenärztlichen Gesundheitsstörungen in
seinem angefochtenen Bescheid als kurzfristig bezeichnet hat. Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Zwar liegt ein Arbeitsunfall
nach den §§
7,
8 Abs.
1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (
SGB VII) am 31. Januar 2011 unstreitig vor. Neben den bereits mit Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober 2015 anerkannten Unfallfolgen
sind jedoch keine weiteren Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen anzuerkennen.
Nachgewiesene Gesundheitsstörungen sind als zusätzliche Folgen des Arbeitsunfalls anzuerkennen, wenn zwischen dem Unfallereignis
und ihnen entweder direkt oder vermittelt durch den Gesundheitserstschaden ein Ursachenzusammenhang im Sinne von §
8 Abs.
1 SGB VII besteht (Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 09. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, Juris). Während die geltend gemachte Unfallfolge im Sinne des sogenannten Vollbeweises feststehen, also mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit belegt sein muss, gilt für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall
und ihr der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Sie liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände
mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden, so dass darauf die richterliche Überzeugung
gegründet werden kann. Die Feststellung des Ursachenzusammenhangs erfolgt nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen
Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2009 - B 2 U 18/07 R -, Juris Rz. 12). Danach ist nur diejenige Bedingung rechtlich erheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Eintritt
des geltend gemachten Gesundheitsschadens „wesentlich“ beigetragen hat. Nicht jede Gesundheitsstörung, die im naturwissenschaftlichen
Sinne durch das Unfallereignis beeinflusst worden ist, ist auch rechtlich dessen Folge, sondern nur diejenige, die „wesentlich“
durch das Ereignis verursacht worden ist. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, ist aus der Auffassung des praktischen
Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abzuleiten. Gesichtspunkte für die
Beurteilung der besonderen Beziehung der Ursache zum Erfolg sind z. B. die Art und das Ausmaß der Einwirkung, die konkurrierenden
Ursachen, die gesamte Krankengeschichte und ergänzend der Schutzzweck der Norm. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt
hingegen nicht (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2009 - B 2 U 29/07 R -, Juris Rz. 16). Dabei ist die Beurteilung der Kausalität im Ergebnis eine Frage der richterlichen Würdigung. Wesentlich
verursacht sind die Gesundheitsstörungen, wenn der Unfall gegenüber sonstigen schädigungsfremden Faktoren wie z. B. Vorerkrankungen
nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung von überragender Bedeutung für die Entstehung der Gesundheitsstörung war
oder zumindest von annähernd gleichwertiger Bedeutung (wesentliche Mitursache).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist das SG Oldenburg in seinem angefochtenen Urteil zu der auch vom Senat geteilten
zutreffenden Auffassung gelangt, dass bei dem Kläger keine weitere Unfallfolge anzuerkennen ist, weil die bei ihm auf nervenfachärztlichem
Gebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung notwendigen hinreichenden
Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 31. Januar 2011 zurückgeführt werden können. Der Senat stützt seine Entscheidung
auf die überzeugenden Gutachten der Sachverständigen AE. vom 24. Juni 2021 und Dr. Y. vom 23. April 2018. Der Sachverständige
AE. ist nach umfangreicher ambulanter Untersuchung des Klägers einschließlich dessen zusätzlicher neuropsychologischer Untersuchung
durch die Diplom-Psychologin AF. unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten und der Gerichtsakten
in seinem Gutachten für den Senat plausibel zu dem Ergebnis gekommen, dass für den Kläger die Diagnosen „Angst- und depressive
Störung, gemischt, anhaltende somatoforme Schmerzstörung unter fibromyalgiformen Bild“ zu stellen sind. Diese Erkrankungen
des Klägers – so dieser Sachverständige in seinem Gutachten für den Senat überzeugend weiter – seien nicht auf seinen Arbeitsunfall
am 31. Januar 2011 zurückzuführen. So liege der Beginn der im Vordergrund der Beschwerden des Klägers stehenden, in wesentlichen
Teilen psychosomatisch bedingten Schmerzstörung deutlich vor dem Unfallereignis. Dies ergebe sich – so dieser Sachverständige
in seinem Gutachten weiter - insbesondere aus dem Entlassungsbericht der AB. -Klinik AC. vom 16. November 2018. Dort hat der
Kläger von beginnenden Rückenschmerzen im Jahre 1991 berichtet, wobei nach seinen Angaben im Verlauf der Jahre Schmerzen im
Kopf, Knie, Hüfte und Sprunggelenken dazu gekommen seien. Die Schmerzen hätten sich immer weiter generalisiert. Auch von einem
Herzstechen ist in diesem Bericht die Rede. Darüber hinaus – so der Sachverständige AE. in seinem Gutachten für den Senat
plausibel weiter - könne diese Erkrankung auch deshalb nicht als Unfallfolge anerkannt werden, weil sie entsprechend der der
Begutachtung zugrunde zu legenden herrschenden unfallmedizinischen Meinung, die in den aktuellen Leitlinien „Begutachtung
bei Kausalitätsfragen im Sozial-, Zivil- und Verwaltungsrecht“ Teil 3 – AWMF Registrier-Nr. 051-029“ niedergelegt sei, nicht
mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung einhergehe, die beim Kläger (im Übrigen auch nach Auffassung von Dr. V., Dr.
Y. und Dr. Dr. AA.) nicht vorliege. Darüber hinaus habe beim Kläger zu keinem Zeitpunkt ein tiefergreifender Körperschaden
vorgelegen, welcher hier die Krankheitsentwicklung erklären könne. Auch der beim Kläger bestehende doch erhebliche Crescendo-Verlauf
spreche dafür, dass unfallunabhängige Faktoren von erheblicher Bedeutung seien. Die vorgenannte Schmerzstörung hat der Kläger
folgerichtig in seinem Antrag auch nicht als Unfallfolge geltend gemacht.
Aber auch die vom Sachverständigen AE. diagnostizierte „Angst- und depressive Störung, gemischt“ ist nach dessen Auffassung
nicht auf den Arbeitsunfall des Klägers zurückzuführen. Hiermit übereinstimmend ist auch der Sachverständige Dr. Y. in seinem
Gutachten vom 23. April 2018 der Meinung, dass die beim Kläger auf nervenärztlichem Gebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen
nicht auf seinen Arbeitsunfall vom 31. Januar 2011 zurückgeführt werden können. Im Hinblick auf die auch von ihm beim Kläger
diagnostizierte depressive Störung, gemischt mit Angst, führt der Sachverständige für den Senat überzeugend aus, dass der
Arbeitsunfall am 31. Januar 2011 allenfalls zu einer vorübergehend bestehenden, mittlerweile ausgeheilten Anpassungsstörung
geführt habe. Mangels dokumentierten zeitnahen seelischen Gesundheitserstschadens und geringer körperlicher, binnen kurzer
Zeit ausgeheilter Unfallfolgen könne diese beim Kläger bestehende dauerhafte seelische Störung nicht auf den Arbeitsunfall
zurückgeführt werden. Der Senat hält diese Einschätzung für überzeugend, denn sie ist schlüssig und orientiert sich an der
herrschenden unfallmedizinischen Meinung (vgl. zur Prüfung einer nervenärztlichen Gesundheitsstörung als Unfallfolge insgesamt:
Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 158 ff.).
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. Dr. AA. von
Dezember 2018. Zwar bescheinigt dieser Sachverständige dem Kläger das Vorliegen mehrerer auf nervenfachärztlichem Gebiet bestehender
Unfallfolgen, die er mit einer MdE um 30 v.H. einschätzt. Allerdings begründet er seine Auffassung nicht schlüssig. Hier hat
der Sachverständige AE. in seinem Gutachten für den Senat überzeugend darauf hingewiesen, dass die Einschätzung des Dr. Dr.
AA. nicht überzeugt, weil ihr nicht die herrschende unfallmedizinische Meinung zugrunde liegt, dieser Sachverständige insbesondere
bei der Erstellung seines Gutachtens nicht die Standards einer sozialmedizinischen Begutachtung eingehalten habe.
Dem Kläger ist auch keine Verletztenrente zu gewähren, weil die für ihn anerkannte Unfallfolge „kurzfristige, reaktive mittelschwere
Angst und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik und unbewusster
Krankheitsfehlverarbeitung„ keine MdE um wenigstens 20 v.H. bedingt.
Nach §
56 Abs.
1 Satz 1
SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Die Bemessung des Grades der MdE richtet sich nach dem
Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Folgen des Arbeitsunfalls
und nach dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.
Die Bemessung des Grades der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht nach §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der
Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger
Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung
der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich
auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung
der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Betroffenen
durch den Versicherungsfall beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die
Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen
auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der
MdE geschätzt werden. Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen
und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten;
sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung
der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (vgl. BSG, Urteil vom 5. September 2006 - B 2 U 25/05 R -, m. w. N., Juris).
Nach den vorstehenden Grundsätzen ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die von dem Beklagten mit Bescheid vom 21. Oktober
2015 anerkannte Unfallfolge „kurzfristige, reaktive mittelschwere Angst und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden
chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik und unbewusster Krankheitsfehlverarbeitung“ nicht um mindestens 20 v.H. gemindert.
In diesem Zusammenhang geht der Senat aufgrund der identischen ICD-Klassifikation in den Gutachten des Dr. V. und des Sachverständigen
AE. davon aus, dass der Beklagte, der seinen Bescheid ausdrücklich auf das Gutachten des Dr. V. vom 31. August 2015 gestützt
hat, mit der Anerkennung der Unfallfolge „kurzfristige, reaktive, mittelschwere Angst und Depression“ seine Diagnose in Anlehnung
an die Gesundheitsstörung „Angst- und depressive Störung, gemischt“ anerkannt hat. Diese Erkrankung hatte bereits Dr. V. in
Anlehnung an die herrschende unfallmedizinische Meinung (vgl. hierzu Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit,
9. Aufl., S. 171) mit einer MdE um 15 v.H. eingeschätzt. Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Erkrankung verschlechtert hat,
ergeben sich aus dem Gutachten des Sachverständigen AE. nicht. Vielmehr hat dieser Nervenarzt darauf hingewiesen, dass beim
Kläger die (unfallunabhängige) schwerwiegende und fortschreitende, in wesentlichen Teilen psychosomatisch bedingte Schmerzstörung
im Sinne einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung mit hochgradiger Invalidisierung im Vordergrund der Beschwerdeschilderung
stünde. So sei für den Kläger mittlerweile der Pflegegrad I festgestellt worden, seit ein/zwei Jahren laufe der Kläger nur
noch am Rollator, wobei ihm im Februar 2021 ein Elektrorollstuhl verordnet worden sei. Darüber hinaus hat der Sachverständige
AE. in seinem Gutachten für den Senat überzeugend ebenso wie vor ihm bereits der Sachverständige Dr. Y. darauf hingewiesen,
dass der Kläger im Rahmen der Untersuchung eine deutliche Aggravationsneigung gezeigt habe, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt
eine Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörung nicht belegt werden konnte. Zwar konnte der Sachverständige AE. im
Rahmen der bei ihm durchgeführten Untersuchungen die Einnahme der verordneten Medikation durch den Kläger nachweisen. Allerdings
hat dieser Sachverständige auch darauf hingewiesen, dass sich beim Kläger in den eingesetzten Selbstbeurteilungsbögen hoch
auffallende, für eine Aggravation sprechende Werte gezeigt hätten. Auch der Befund in der Hirnleistungsdiagnostik und den
dort eingesetzten Beschwerdevalidierungsverfahren habe für eine verminderte Mitarbeit gesprochen. Demgegenüber habe der erhobene
körperliche Befund (deutlich ausgeprägte Handbeschwielung, Körperzusammensetzungsanalyse mit völlig unauffälligem Muskelstatus
auch der Beine) gegen das vom Kläger angegebene hochgradige Schonungsverhalten gesprochen. Der Senat hält die Einschätzung
des Sachverständigen AE. für überzeugend, denn sie orientiert sich an der herrschenden unfallmedizinischen Meinung (vgl. zur
Begutachtung im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung insgesamt Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 108 ff.).
Bedingt die von dem Beklagten anerkannte Unfallfolge eine MdE von weniger als 20 v.H., musste nicht mehr darüber entschieden
werden, wie die Klassifizierung der anerkannten Unfallfolge als „kurzfristig“ und „vorübergehend“ im angefochtenen Bescheid
des Beklagten zu verstehen ist.
Der Senat verkennt nicht, dass der Sachverständige AE. die Gesundheitsstörung „Angst- und depressive Störung, gemischt“ (ICD
10 F 41.2) ebenso wie der Sachverständige Dr. Y. nicht auf den Arbeitsunfall des Klägers am 31. Januar 2011 zurückführt. Zwar
hält auch der Senat – wie oben ausgeführt - diese Einschätzung für überzeugend. Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen,
dass der Beklagte diese Gesundheitsstörung in seinem Bescheid vom 21. Oktober 2015 (mit einer etwas anderen Formulierung)
als Unfallfolge anerkannt hat und auch der Senat an diese Entscheidung gebunden ist (§
77 SGG). Denn gemäß § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch
Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 26. Oktober 2017 – B 2 U 6/16 R -, Juris).
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) liegen nicht vor.