Sanktionen im SGB II vor dem Bundesverfassungsgericht

19.02.2019 opener

Karlsruhe

Der Deutsche Sozialgerichtstag e. V. war am 15. Januar 2019 als sachverständiger Dritter durch seine Präsidentin Monika Paulat und den Vorsitzenden der SGB II-Kommission Gerd Goldmann in der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen im SGB II vertreten.

Die Vorlage

Gegenstand des Verfahrens ist eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha. Nach Ansicht des Sozialgerichts wird durch die Kürzungen des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverletzungen in das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Artikel 1 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes eingegriffen. Die Regelungen verstießen ferner gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Artikel 12 Grundgesetz und ggf. gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz.

Die Anwesenden erlebten unter dem Vorsitz von Vizepräsident Prof. Dr. Stephan Harbarth eine beeindruckende Verhandlung des Ersten Senats. Sie war geprägt von einer beispielgebenden Verhandlungsführung und - bei aller Kontroverse - von einem respektvollen Umgang aller Beteiligten miteinander.

Der Vortrag des Senats

Inhaltlich ließ der Senat eine kritische Haltung sowohl gegenüber den Sanktionsregelungen selbst  als auch gegenüber der Verwaltungspraxis erkennen, die insbesondere in den vom Gericht gestellten Fragen zum Ausdruck kam.

Der Senat hatte offenbar Zweifel daran, dass die bestehenden Sanktionsregelungen die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz (hinreichend) beachten, und daran, dass die Sanktionen zur Erreichung der vorgesehenen, aber nicht hinreichend hergeleiteten Ziele verhältnismäßig sind.

Darüber hinaus war erkennbar, dass der Senat positive Wirkungen der Sanktionen für nicht hinreichend empirisch belegt hielt. Er wies deutlich darauf hin, dass die Wirkungen von Sanktionen gezielt erforscht werden müssten und er diesen Bereich für defizitär erachte. Die in der Verhandlung offenbar gewordene Diskrepanz zwischen den Schilderungen eines Idealzustandes durch die Vertreter und Vertreterinnen von Bundesregierung und Arbeitsverwaltung über die Verwaltungsabläufe bei Verhängung von Sanktionen einerseits und den Berichten der Verbände über die realen Zustände und Abläufe andererseits haben den Senat „nachhaltig irritiert“.

Der Sozialgerichtstag als "Sachverständiger Dritter"

Der DSGT beklagte in seinem Statement, dass bei Prüfung eines wichtigen Grundes nach § 31 SGB II hochkomplexe Lebenssituationen insbesondere von Langzeitarbeitslosen außer Acht blieben. An dieser Stelle des Verfahrens würden psychisch bedingte Motivations- und Kompetenzdefizite nicht erkannt und schon gar nicht fach- und sachgerecht analysiert und bewertet. In ihrem Redebeitrag trat die Vertreterin des DSGT dafür ein, im Verwaltungsverfahren ein weniger juristisch-obrigkeitsgeprägtes als vielmehr ein stärker pädagogisch ausgerichtetes Vorgehen wie etwa in der Kinder- und Jugendhilfe oder in der Familienhilfe zu implementieren, und erhielt dafür Zustimmung der Sozialverbände.

Es scheint nicht ausgeschlossen,  dass der Senat unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung Möglichkeiten erwägt, das Sanktionsverfahren offener zu gestalten, etwa in Form von Ermessensentscheidungen über den Eintritt und die Dauer der Sanktionen. Unverkennbar waren Zweifel des Senats an der Verfassungsmäßigkeit der Mehrfachsanktionen und deren Auswirkungen sowie der Sanktionen mit Kürzungen von 60% und 100%.

Siehe auch:
Langversion des Verhandlungsberichts

Autor: Gerd Goldmann

Gegenstand des Verfahrens ist eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha. Nach Ansicht des Sozialgerichts wird durch die Kürzungen des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverletzungen in das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Artikel 1 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes eingegriffen. Die Regelungen verstießen ferner gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Artikel 12 Grundgesetz und ggf. gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz.

Rubrik:

Schlagwörter: Hartz IV, Arbeitslosengeld II, Kürzung, Sanktion, Sanktionen, SGB II