Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Leistungsberechtigung von in Deutschland lebenden Bürgern mit polnischer Staatsangehörigkeit
Gründe:
I
Die Kläger begehren Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum vom 19.1. bzw 2.2. bis zum 30.9.2009.
Die am 24.9.1990 geborene Klägerin zu 1 ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste im Oktober 2004 mit ihren Eltern nach Deutschland
ein und lebt seitdem ununterbrochen in Berlin. Am 23.7.2008 stellte die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 1 eine unbefristete
Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art aus. Ab dem 14.11.2008 war die Klägerin zu 1 in der Wohnung S
Straße 9 gemeldet, wo sie eine Nettokaltmiete in Höhe von 200 Euro und Betriebskostenvorauszahlungen in Höhe von 140 Euro
zu leisten hatte. Am 13.1.2009 stellte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten eine Bescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) für die Klägerin zu 1 aus. Diese beantragte am 19.1.2009 Leistungen nach dem SGB II. Der Kläger zu 2 wurde am 2.2.2009 geboren, er hat ebenfalls die polnische Staatsbürgerschaft. Die Klägerin zu 1 erhielt
seit der Geburt Elterngeld in Höhe von 300 Euro und Kindergeld in Höhe von 164 Euro. Außerdem zahlte der Kindsvater Unterhalt
in Höhe von 200 Euro monatlich. Weitere Einnahmen wurden nicht erzielt.
Mit Bescheid vom 11.3.2009 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag der Klägerin zu 1 mit der Begründung ab, sie sei von Leistungen
nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland lediglich zur Arbeitsuche habe. Mit Bescheid
vom 7.5.2009 bewilligte der Beklagte den Klägern aufgrund eines Beschlusses des Sozialgerichts (SG) vom 30.4.2009 in einem Eilverfahren darlehensweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 30.3.2009
bis September 2009. Den gegen die Ablehnung des Leistungsantrags eingelegten Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 28.5.2009 zurück.
Zur Begründung ihrer dagegen beim SG erhobenen Klage führen die Kläger aus, der Vater der Klägerin zu 1 habe seit der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland
im Oktober 2004 als Selbstständiger gearbeitet. Die Eltern der Klägerin zu 1 hätten sich im Jahr 2006 getrennt. Sie habe weiterhin
bis zur Geburt ihres Kindes mit ihrem Vater zusammengewohnt. Sie habe nach der Geburt des Klägers zu 2 die Gesamtschule, an
der sie die 9. Klasse besucht habe, verlassen, einen Schulabschluss habe sie nicht erreicht. Sie sei während ihrer Schulzeit
weder in irgend einer Form beruflich tätig gewesen, noch habe sie in der Zwischenzeit eine Ausbildung aufgenommen. Sie plane
aber, den Hauptschulabschluss nachzuholen, sobald ihr Sohn in den Kindergarten komme.
Mit dem angegriffenen Urteil vom 24.5.2011 hat das SG der Klage stattgegeben. Die Klägerin zu 1 gehöre zu dem grundsätzlich leistungsberechtigten Personenkreis. Ein Leistungsanspruch
scheitere auch nicht daran, dass die Klägerin zu 1 von Leistungen nach dem SGB II als Ausländerin, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, ausgeschlossen sei. Zwar lägen
nach dem Wortlaut der Vorschrift die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss vor. Auf sonstige Aufenthaltsrechte könne
sich die Klägerin zu 1 nicht berufen. Insbesondere könne sie kein Aufenthaltsrecht von ihren Eltern ableiten, weil sie im
streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr mit ihren Eltern zusammengewohnt habe und auch noch kein Daueraufenthaltsrecht
erlangt habe, da sie sich noch keine fünf Jahre in Deutschland aufgehalten habe.
Die Vorschrift des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei jedoch europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie nur dann Anwendung finde, wenn die Arbeitsuche
bereits Zweck der Einreise gewesen sei. Die Einreise und die Arbeitsuche würden final verknüpft, auf einen später arbeitsuchend
werdenden Unionsbürger, der zu einem anderen Zweck eingereist sei, finde die Vorschrift bei europarechtskonformer Auslegung
keine Anwendung.
Das SG hat in seinem Urteil die Sprungrevision zugelassen, die der Beklagte eingelegt hat, nachdem die Prozessbevollmächtigte der
Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG nach Belehrung der Einlegung der Sprungrevision zugestimmt hatte.
Der Beklagte ist der Ansicht, § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II stelle nicht auf den Zweck der Einreise, sondern auf den Zweck des Aufenthalts ab. Auch wenn die Klägerin zu 1 im Oktober
2004 nicht zum Zweck der Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei, sondern ihre Eltern begleitet habe,
so bestehe aber das damalige Aufenthaltsrecht gemäß § 3 Abs 1 FreizügG/EU im hier streitigen Zeitraum nicht mehr und wirke auch nicht fort. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II sei jedenfalls dann auch auf Unionsbürger anwendbar, wenn diese Leistungen begehrten, die nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt
erleichtern, sondern den Lebensunterhalt sichern sollten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Mai 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
II
Die rechtzeitig eingelegte und auch ansonsten zulässige Revision des Beklagten (§§
161,
164 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) ist unbegründet. Das SG hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht verurteilt, den Klägern dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II als Zuschuss zu gewähren.
1. Das beklagte Jobcenter ist gemäß §
70 Nr 1
SGG beteiligtenfähig. Der Kläger zu 2 wird als nicht prozessfähiger Minderjähriger (§
71 Abs
1 und
2 SGG) durch die Klägerin zu 1 vertreten, die die elterliche Sorge allein ausübt (§
1629 Abs
1 Satz 3
Bürgerliches Gesetzbuch; vgl BSG Urteil vom 2.7.2009 - B 14 AS 54/08 R - BSGE 104, 48 = SozR 4-1500 § 71 Nr 2 RdNr 21).
2. Streitgegenstand des Verfahrens sind Ansprüche der Kläger auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende, die der Beklagte
mit Bescheid vom 11.3.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.5.2009 abgelehnt hat. Die Kläger haben den streitigen
Zeitraum ausdrücklich auf die Zeit ab Antragstellung am 19.1.2009 bis zum 30.9.2009 beschränkt. Das SG hat entsprechend dem Klägerantrag bezüglich dieses Zeitraums entschieden, insoweit ist der Beklagte beschwert. Im Revisionsverfahren
haben die Kläger den Antrag bezüglich des Klägers zu 2 weiter dahin begrenzt, dass Leistungen für ihn erst ab dem Tag seiner
Geburt geltend gemacht werden.
3. Die Kläger haben einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 7 Abs 1 und Abs 3 Nr 4 sowie § 9 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) und des
Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (RL-UmsetzungsG 2007) vom 19.8.2007
(BGBl I 1970). Die Klägerin zu 1 gehört zu dem grundsätzlich leistungsberechtigten Personenkreis (dazu unter a); der Leistungsausschluss
nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II greift nicht durch (dazu unter b).
a) Die Klägerin zu 1 ist Leistungsberechtigte gemäß § 7 Abs 1 Nr 1 bis 4 SGB II. Da sie am 24.9.1990 geboren ist, hatte sie im Zeitpunkt der Antragstellung am 19.1.2009 das 15. Lebensjahr vollendet und
die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht. Sie ist nach den Feststellungen des SG erwerbsfähig (§ 8 Abs 1 und 2 SGB II) und hilfebedürftig, denn sie bezieht zusammen mit dem Kläger zu 2 lediglich Elterngeld in Höhe von 300 Euro und Kindergeld
in Höhe von monatlich 164 Euro sowie Unterhaltszahlungen des Kindsvaters in Höhe von 200 Euro monatlich, was ihren Bedarf
nicht vollständig deckt.
Die Klägerin zu 1 verfügt gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II iVm §
30 Abs
3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (
SGB I) auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Einen gewöhnlichen Aufenthalt hat danach jemand
dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend
verweilt. Die Klägerin zu 1 erfüllt in tatsächlicher Hinsicht diese Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts, denn sie ist
bereits im Oktober 2004 nach Deutschland eingereist und hielt sich somit im Zeitpunkt der Antragstellung ca 4 ¼ Jahre in Deutschland
auf und lebt seit der Einreise ununterbrochen in Berlin. Es kann darüber hinaus weiter offenbleiben, ob der Begriff des "gewöhnlichen
Aufenthalts" bei Ausländern durch zusätzliche aufenthaltsrechtliche Voraussetzungen eingeschränkt wird. Für den Anwendungsbereich
des SGB II besteht jedenfalls kein Anlass, an den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in rechtlicher Hinsicht weitere Anforderungen
zu stellen, wenn - wie vorliegend - eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt wurde und deren Verlust nicht festgestellt worden ist (vgl näher BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21).
b) Die Klägerin zu 1 ist auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen
nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige oder aufgrund des § 2 Abs 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, und des weiteren
Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt
Leistungsberechtigte nach §
1 Asylbewerberleistungsgesetz (
AsylbLG).
Die Klägerin zu 1 ist als polnische Staatsangehörige Ausländerin im Sinne der genannten Vorschrift. Sie ist nicht leistungsberechtigt
nach §
1 AsylbLG und hält sich nach den Feststellungen des SG seit Oktober 2004, also länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie ist aber auch nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, denn ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Sie besitzt
vielmehr ein anderes Aufenthaltsrecht, das den Leistungsausschluss von vornherein entfallen lässt (dazu unter aa). Dieses
Aufenthaltsrecht ist nicht nachträglich durch Veränderung der persönlichen Lebensbedingungen verloren gegangen (dazu unter
bb).
aa) Aus dem Wortlaut des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 ("Aufenthaltsrecht [...] allein aus dem Zweck der Arbeitsuche"; vgl auch BT-Drucks
16/688, 13) ergibt sich, dass der Leistungsausschluss von vornherein nicht eingreift, wenn sich ein Ausländer auf ein anderes
Aufenthaltsrecht als das zum Zweck der Arbeitsuche berufen kann. Aus dem Aufbau der Norm ist abzuleiten, dass positiv festgestellt
werden muss, dass ein Ausländer sich allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, denn nur dann kann
auch der Leistungsausschluss festgestellt werden.
Vorliegend hat die Klägerin zu 1 ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht als Familienangehörige gemäß § 3 FreizügG/EU. Sie ist als 14-jährige Jugendliche und somit als noch nicht 21 Jahre alte Verwandte in absteigender Linie (§ 3 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU) mit ihren Eltern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ungeachtet der Frage, ob - wovon die Klägerin zu 1 und der
Beklagte ausgehen - sie ihr Aufenthaltsrecht von ihrem Vater als selbstständigem Erwerbstätigen ableiten konnte (§ 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU), bestand jedenfalls für die Familie ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs 1 und Abs 2 Nr 5 FreizügG/EU iVm § 4 FreizügG/EU. Während das SG es offengelassen hat, ob die Eltern der Klägerin zu 1 tatsächlich einer selbstständigen oder nichtselbstständigen Beschäftigung
nachgegangen sind, hat es aber jedenfalls festgestellt, dass bis zum Jahr 2009 weder die Klägerin zu 1 noch ihre Eltern Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten hatten. Damit konnten sie auch als nichterwerbstätige Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht
in Deutschland begründen. Als Familienangehörige hatte die Klägerin zu 1 das Recht, ihre Eltern bzw ihren Vater zu begleiten
oder ihm nachzuziehen (§ 3 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU bzw § 4 FreizügG/EU; vgl HK-AuslR/Hoffmann, 1. Aufl 2008, § 3 FreizügG/EU RdNr 5).
bb) Dieses vom Zweck der Arbeitsuche unabhängige Aufenthaltsrecht hat die Klägerin zu 1 nicht wieder verloren. Aus den Worten
"begleiten" bzw "nachziehen" in § 3 Abs 1 bzw § 4 FreizügG/EU kann nicht der Schluss gezogen werden, dass - wie das SG meint - das Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger nur besteht, wenn der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, hier die
Eltern bzw der Vater, und der begleitende Familienangehörige auf Dauer in einer gemeinsamen Wohnung wohnen (so aber früher
Hailbronner, Aufenthaltsbeschränkungen gegenüber EG-Angehörigen, ZAR 1985, 108, 114). Diese Interpretation beruhte auf dem ursprünglich in der Vorläuferregelung (Art 10, 11 VO [EWG] Nr 1612/68) verwendeten
Begriff "Wohnung nehmen". Die Interpretation dieses Begriffs "Wohnung nehmen" in dem Sinne, dass ein gemeinsamer Wohnsitz
vorhanden sein musste, war aber bereits nach altem Recht zweifelhaft. Art 10 Abs 1 VO (EWG) Nr 1612/68 verlangte nämlich nicht,
dass die Familie in einer Wohnung zusammenlebt. Er enthielt lediglich die Formulierung "dürfen ... Wohnung nehmen", was der
Übersetzung aus dem englischen bzw französischen Text entspricht ("have the right to install" bzw "ont le droit de s´ínstaller";
siehe dazu Epe in GK-AufenthG, Stand Oktober 2010, § 3 FreizügG/EU RdNr 34). Die Formulierung einer Möglichkeit durch das Verb "dürfen", die eine Wahlfreiheit belässt, legt nahe, dass es sich
hier nicht um eine tatbestandlich normierte Voraussetzung handelt. Damit wurde die Begründung einer häuslichen Gemeinschaft
wenigstens zum Zeitpunkt des Nachzugs bereits unter Geltung der VO (EWG) Nr 1612/68) als nicht zwingend erforderlich angesehen
(so Epe, aaO, RdNr 34; einschränkend Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 3 FreizügG/EU RdNr 12, der die Ansicht vertritt, dass grundsätzlich zunächst eine gemeinsame Wohnung vorhanden sein muss, diese Anforderung
aber nur vorübergehend gilt).
Dass ein ständiger gemeinsamer Wohnsitz nicht als Tatbestandsmerkmal für das abgeleitete Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger
zugrunde gelegt werden kann, ergab sich im Übrigen auch bereits nach altem Recht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH), insbesondere in dem Urteil des EuGH vom 17.9.2002 (C-413/99 - Baumbast und R - EuGHE I 2002, 7091). Der EuGH hat dort entschieden, dass aus Art 10 und Art 12 der VO Nr 1612/68 folgt, dass bei einer Scheidung der Eltern
die Kinder des ersten Ehemannes weiterhin dazu berechtigt sind, im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen und dort unter den gleichen
Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates ihren Schulbesuch fortzusetzen. Es wurde dabei ausdrücklich festgestellt,
dass die Tatsache, dass die Kinder des ersten Ehemannes nicht ständig bei diesem wohnen, ihre Rechte nicht berühren.
Mit der Neufassung des § 3 Abs 1 FreizügG/EU durch das RL-UmsetzungsG 2007 war diesbezüglich eine Rechtsänderung nicht verbunden. Dementsprechend ist aus den Worten "begleiten"
bzw "nachziehen" in § 3 Abs 1 FreizügG/EU weiterhin nicht der Schluss zu ziehen, dass stets eine gemeinsamen Wohnung vorhanden sein muss. Vielmehr ist ein Familienangehöriger
nicht verpflichtet, bei dem Freizügigkeitsberechtigten zu wohnen (so HK-AuslR/Hoffmann, aaO, § 3 FreizügG/EU RdNr 4 f mwN; Epe in GK-AufenthG, aaO, § 3 FreizügG/EU RdNr 34 ff mwN; Harich, jurisPR-SozR 24/2011, Anm 1: Arbeitslosengeld II auch im Ausland?).
Allein der Umstand, dass die Klägerin zu 1 vor Geburt des Klägers zu 2 aus ihrem Elternhaus ausgezogen ist und eine eigene
Wohnung angemietet hat, lässt das abgeleitete Aufenthaltsrecht als Familienangehörige somit nicht entfallen.
c) Damit ist auch der Kläger zu 2 leistungsberechtigt, weil er mit der Klägerin zu 1 in Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs 3 Nr 4 SGB II) lebt und aus den genannten Gründen keiner der Ausschlussgründe des § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II eingreift.
d) Auf die vom SG vorgenommene europarechtskonforme Auslegung von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II dahingehend, dass der Leistungsausschluss nur eingreifen soll, wenn bei der Einreise die Arbeitsuche der alleinige Zweck
gewesen ist, er dagegen keine Anwendung finden soll, wenn ein Unionsbürger später arbeitsuchend wird, kommt es hier nicht
mehr an. Die Verurteilung des Beklagten zur Leistungsgewährung ergibt sich direkt aus § 7 Abs 1 Satz 1 iVm § 9 SGB II und für den Kläger zu 2 aus § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II. Da der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vorliegend überhaupt nicht durchgreift, kann auch die weitergehende Frage offenbleiben, ob im Rahmen des Leistungsausschlusses
zwischen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu unterscheiden ist, wie
dies etwa auch der nunmehr durch die VO (EG) Nr 988/2009 festgelegte Anhang X zur VO (EG) Nr 883/2004 nahelegt (vgl dazu Harich,
aaO, Abschnitt D).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.