Anspruch auf Entschädigung immaterieller Nachteile wegen überlanger Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens
Anforderungen an die Bewertung von Erkrankungszeiten richterlichen Personals als entschädigungspflichtige Zeit
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Entschädigung von Nachteilen infolge der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens vor
dem SG Berlin.
Am 13.2.2015 erhob der Kläger im Ausgangsverfahren vor dem SG Klage gegen die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit dem Begehren, diese zur Neubescheidung seines Antrags zu verurteilen, die
älteste seiner Darlehensschulden iHv 376,60 Euro zu erlassen. Dieses Darlehen war dem Kläger während des Bezugs von Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Energieschulden gewährt worden.
Das SG (56. Kammer) bestätigte den Eingang der Klage am 27.2.2015 und forderte die beklagte BA zur Erwiderung binnen eines Monats
auf. Diese ging am 27.3.2015 bei Gericht ein und wurde den damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 8.4.2015 zur Kenntnisnahme
übersandt. Danach wurde das Verfahren mehrfach auf Frist gelegt und am 4.8.2015 in das sogenannte Entscheidungsfach verfügt.
Auf mehrere Sachstandsanfragen der damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers zwischen Oktober 2015 und Februar 2017 teilte
das SG jeweils nur mit, es sehe die Sache als entscheidungsreif an, sei aber durch ältere Verfahren an der Terminierung gehindert.
Zuletzt verwies es zudem auf eine Erkrankung des ordentlichen Vorsitzenden der 56. Kammer.
Nach Schriftsatzwechsel im Jahr 2017 ging das Verfahren zum 1.10.2017 in den Zuständigkeitsbereich der 62. Kammer über. Die
Beteiligten wechselten weitere Schriftsätze. Zudem zog die Kammer Akten eines bereits vor dem SG abgeschlossenen Parallelverfahrens bei. Am 19.12.2018 erhob der Kläger Verzögerungsrüge. In einem schließlich anberaumten
Erörterungstermin am 28.8.2019 gab die BA ein Anerkenntnis mit der Verpflichtung zur Neubescheidung ab, das der Kläger annahm.
Am 30.8.2019 begehrte der Kläger vorprozessual vom Beklagten die Gewährung einer Entschädigung iHv 4700 Euro. Dieser erkannte
mit Schreiben vom 25.9.2019 eine Entschädigungsforderung iHv 1200 Euro wegen der überlangen Dauer des Verfahrens beim SG an, die er später auch auszahlte, lehnte den Antrag im Übrigen aber ab.
Der Kläger hat am 26.11.2019 die dem Beklagten am 27.12.2019 zugestellte Klage auf Entschädigung iHv 3500 Euro nebst Zinsen
seit Rechtshängigkeit erhoben. Ihm stehe für den gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt der Entscheidungsreife im Oktober 2015
bis einschließlich August 2019 eine Entschädigung zu.
Das LSG als Entschädigungsgericht hat den Beklagten zur Zahlung von weiteren 1300 Euro nebst Zinsen verurteilt und die Klage
im Übrigen abgewiesen. Die Bedeutung des Verfahrens sei eher unterdurchschnittlich, Schwierigkeit und Komplexität seien allenfalls
durchschnittlich gewesen. Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer seien die Annahme der Entscheidungsreife
durch das SG und seine hypothetischen Handlungsmöglichkeiten ohne Belang. Von den 40 Kalendermonaten gerichtlicher Inaktivität seien 15
Monate in Abzug zu bringen. Es bestehe kein Anlass, zugunsten des Klägers von der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit
abzuweichen, die nach der ständigen Rechtsprechung des BSG anzunehmen sei. Weitere drei Monate habe der Kläger wegen der Erkrankung des zuständigen Richters entschädigungslos hinzunehmen.
Darüber hinausgehende Verzögerungen durch die Erkrankung des zuständigen Richters fielen dagegen in den Verantwortungsbereich
des Beklagten, der für eine ausreichende Personalausstattung der Gerichte zu sorgen habe.
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von §
123 SGG und §
198 GVG. Das Entschädigungsgericht habe das Verböserungsverbot aus §
123 SGG verletzt. Der Beklagte habe vorprozessual eine Liegezeit von 41 Monaten anerkannt und dabei auch die Monate Mai 2017 und
August 2017 entschädigt. Davon habe das Entschädigungsgericht nicht mehr zu seinen Lasten abweichen dürfen. Bei der Anwendung
von §
198 GVG habe das Entschädigungsgericht rechtsfehlerhaft eine zwölfmonatige Anspruchskürzung aufgrund einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit
angesetzt, ohne die Besonderheiten des Einzelfalls zu würdigen. In seinem Fall hätte insoweit der Zeitraum von Mai bis September
2015, mithin fünf Monate, ausgereicht. Denn der seinerzeitige Kammervorsitzende habe bereits im Oktober 2015 die Entscheidungsreife
mitgeteilt. Allein das Monatsprinzip bewirke schon eine nicht unerhebliche Vorbereitungs- und Bedenkzeit. Rechtsfehlerhaft
habe das LSG pauschal drei weitere Monate wegen der Erkrankung des Kammervorsitzenden des Ausgangsgerichts als nicht entschädigungspflichtig
bewertet. Die Zahl sei offensichtlich willkürlich. Zudem falle die Erkrankung des Kammervorsitzenden in den Verantwortungsbereich
des Beklagten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 6. November 2020 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, an
ihn wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht Berlin zuletzt unter dem Aktenzeichen S 62 AL 519/15 geführten Klageverfahrens eine Entschädigung in Höhe von weiteren 2200 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz seit 27. Dezember 2019 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil des Entschädigungsgerichts.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist teilweise begründet. Das Urteil des Entschädigungsgerichts ist zu ändern (§
170 Abs
2 Satz 1
SGG) und die Revision im Übrigen zurückzuweisen (§
170 Abs
1 Satz 1
SGG). Das Entschädigungsgericht hat die Entschädigungsklage zum Teil zu Unrecht abgewiesen, indem es den Beklagten lediglich
zur Zahlung einer Geldentschädigung von 1300 Euro wegen unangemessener Dauer des vor dem SG Berlin zuletzt unter dem Az S 62 AL 519/15 geführten Klageverfahrens verurteilt hat. Dem Kläger stehen gegen den Beklagten weitere 300 Euro Geldentschädigung zu. Eine
darüber hinausgehende Entschädigung kann er hingegen nicht beanspruchen.
A. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf weitere Geldentschädigung iHv 2200 Euro wegen
unangemessener Dauer des vor dem SG geführten Klageverfahrens, die er über die vom Entschädigungsgericht zugesprochene Entschädigung von 1300 Euro und die vom
Beklagten vorprozessual gezahlte Entschädigung von 1200 Euro hinaus beansprucht.
B. Die zulässige Entschädigungsklage des Klägers ist teilweise begründet. Er ist materiell berechtigt, den Entschädigungsanspruch
geltend zu machen (dazu unter 1.). Das Entschädigungsgericht hat zwar dem Grunde nach zutreffend eine unangemessene Dauer
des Ausgangsverfahrens bejaht und dem Kläger für den dadurch erlittenen immateriellen Nachteil eine Entschädigung in Geld
zugesprochen. Dabei hat es zutreffend zugunsten des Beklagten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit des Ausgangsgerichts von
zwölf Monaten berücksichtigt. Es hat jedoch zu Unrecht pauschal drei Monate wegen der Erkrankung des zunächst für das Ausgangsverfahren
zuständigen Kammervorsitzenden von der entschädigungspflichtigen Zeit abgezogen (dazu unter 2.).
1. Der Kläger besitzt die materielle Berechtigung und damit die erforderliche Aktivlegitimation, um den Entschädigungsanspruch
geltend zu machen und einzuklagen. Es kann dahinstehen, ob er aktuell, zu irgendeinem Zeitpunkt während des Entschädigungsverfahrens
oder während der Dauer des streitgegenständlichen Ausgangsverfahrens Leistungen nach dem SGB II bezieht oder bezogen hat. Denn der Anspruch auf Geldentschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer geht nicht nach §
33 Abs 1 Satz 1 SGB II auf den für ihn zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende über. Entschädigungsleistungen nach §
198 GVG sind kein nach § 11a Abs 3 SGB II zu berücksichtigendes Einkommen. Der Entschädigungsanspruch dient anderen Zwecken als die Leistungen nach dem SGB II, denn er bezweckt den Ersatz eines infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlittenen immateriellen Schadens
(BSG Urteil vom 11.11.2021 - B 14 AS 15/20 R - juris RdNr 20 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).
2. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung weiterer Entschädigung ergibt sich aus §
202 Satz 2
SGG iVm §
198 Abs
1 Satz 1 und Abs
3 Satz 1
GVG (in der seither unveränderten Fassung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren [ÜGG] vom 24.11.2011, BGBl I 2302). Danach wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer
eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleidet, wenn er zuvor bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens
gerügt hat.
Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß §
198 Abs
1 Satz 2
GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten
der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Darüber hinaus ist auch die Verfahrensführung oder Prozessleitung durch das Ausgangsgericht
in die Betrachtung mit einzubeziehen. Denn eine Verletzung des Rechts auf Rechtsschutz in angemessener Zeit hängt wesentlich
davon ab, ob dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen des Ausgangsgerichts zur unangemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens
geführt haben. Maßgeblich sind Verzögerungen (vgl §
200 GVG), also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des Verfahrens, insbesondere aufgrund von Untätigkeit des Gerichts (stRspr;
zB BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R - BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16, RdNr 38; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 34).
Die Angemessenheit der Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (zB BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 31 ff; BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 24 f; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6 RdNr 25 ff) in drei Schritten zu prüfen.
Den Ausgangspunkt und ersten Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die in §
198 Abs
6 Nr
1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. Kleinste im Geltungsbereich
des ÜGG relevante Zeiteinheit ist hierbei der Kalendermonat (dazu unter a). In einem zweiten Schritt ist der Ablauf des Verfahrens
an den von §
198 Abs
1 Satz 2
GVG genannten Kriterien zu messen, bei denen es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt und die auch unter Heranziehung der
Rechtsprechung des BVerfG sowie des Europäisches Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auszulegen und zu vervollständigen sind (dazu unter b). Auf dieser Grundlage ergibt erst die wertende Gesamtbetrachtung
und Abwägung aller Einzelfallumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen
deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat (dazu unter c). Dabei ist
davon auszugehen, dass vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die Verfahrensdauer jeweils insgesamt noch als angemessen
anzusehen ist, wenn eine Gesamtverfahrensdauer, die zwölf Kalendermonate je Instanz übersteigt, auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung
des Gerichts beruht (stRspr; zB BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 45; BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 25; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 27, 46).
a) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Entschädigungsgericht im ersten Schritt der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer
festgestellt, dass das Ausgangsverfahren von der Klageerhebung im Februar 2015 bis zur Erledigung durch das Anerkenntnis der
beklagten BA im August 2019 gedauert hat. Das Ausgangsverfahren umfasste somit insgesamt 55 Kalendermonate.
b) Das Entschädigungsgericht hat im zweiten Prüfungsschritt die Bedeutung und Schwierigkeit des Ausgangsverfahrens sowie das
Verhalten der Beteiligten (dazu unter aa) und die Prozessleitung des Ausgangsgerichts im Grundsatz zutreffend in seine Bewertung
der Angemessenheit eingestellt (dazu unter bb).
aa) Die von §
198 Abs
1 Satz 2
GVG genannte Bedeutung eines Verfahrens ergibt sich zum einen aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen
und ideellen Interessen der Beteiligten, zum anderen maßgeblich aus dem Interesse des Betroffenen gerade an einer raschen
Entscheidung. Bei der Feststellung der Tatsachen, die zur Ausfüllung der von §
198 Abs
1 Satz 2
GVG genannten unbestimmten Rechtsbegriffe erforderlich sind, kommt dem Entschädigungsgericht ein erheblicher tatrichterlicher
Beurteilungsspielraum zu (BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 25; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6 RdNr 31).
Bezogen darauf hat das Entschädigungsgericht ohne Rechtsfehler das Interesse des Klägers am Ausgang des Verfahrens als allenfalls
durchschnittlich eingestuft. Das Ausgangsverfahren betraf nur noch mittelbar die Gewährung existenzsichernder Leistungen (vgl
dazu BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6 RdNr 32). Unmittelbar ging es lediglich um einen Anspruch des
Klägers gegen die dort beklagte BA auf Neubescheidung eines Antrags auf Erlass seiner ältesten Darlehensschuld iHv 376,60
Euro. Nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts drohten dem Kläger bezogen auf diesen Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens
durch den Zeitablauf weder weitergehende Schwierigkeiten noch ein Beweisverlust mit fortschreitender Verfahrensdauer. Rechtlich
im Streit stand im Kern nur die Frage der richtigen Ermessensausübung durch die Beklagte des Ausgangsverfahrens. Deshalb ist
das Entschädigungsgericht für das BSG bindend von einer eher unterdurchschnittlichen Bedeutung und zudem von einer allenfalls durchschnittlichen Schwierigkeit
und Komplexität des Verfahrens ausgegangen. Ein Verhalten des Klägers, mit dem dieser das Verfahren verzögert hätte, hat das
Entschädigungsgericht für den Senat ebenfalls bindend verneint.
bb) Das Entschädigungsgericht hat zutreffend die Prozessführung des Ausgangsgerichts in seine Erwägungen miteinbezogen und
dabei zu Recht den genannten - weiten - Überprüfungsmaßstab für das Handeln des Ausgangsgerichts zugrunde gelegt. Insoweit
hat es in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise inaktive Zeiten des Ausgangsgerichts von 40 Monaten festgestellt.
Dieser Feststellung steht nicht das vorprozessuale Schreiben des Beklagten vom 25.9.2019 entgegen (dazu unter [1]). Auch die
Monate Mai und August 2017 durfte das Entschädigungsgericht als aktive Zeiten des Ausgangsgerichts bewerten (dazu unter [2]
und [3]).
(1) Das LSG war an der eigenständigen Feststellung von 40 Monaten Inaktivität des Ausgangsgerichts nicht durch das vorprozessuale
Schreiben des Beklagten vom 25.9.2019 gehindert, mit dem dieser dem Kläger ausgehend von einer Liegezeit von 41 Monaten unter
Zugrundelegung von 29 nicht entschädigungspflichtigen Monaten eine Geldentschädigung für zwölf Monate iHv 1200 Euro zugestanden
hatte.
Offenbleiben kann, ob es sich bei diesem Schreiben um einen Verwaltungsakt (vgl § 1 Abs 1 Verwaltungsverfahrensgesetz [VwVfG] Berlin iVm § 35 Satz 1 VwVfG) handelt, der hätte in Bestandskraft erwachsen können, oder nur um schlichtes Verwaltungshandeln. §
198 GVG ermöglicht die unmittelbare Erhebung der Entschädigungsklage und sieht keine vorherige Verwaltungsentscheidung über den Entschädigungsanspruch
vor (vgl §
198 Abs
5 GVG; BSG Urteil vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1, RdNr 15). Er enthält daher keine behördliche Befugnis zum Erlass von Verwaltungsakten. Selbst wenn
der Beklagte aber trotzdem in Form eines Verwaltungsakts gehandelt hätte, ließe sich dem Schreiben vom 25.9.2019 jedenfalls
kein Bindungswille des Beklagten dahingehend entnehmen, mehr als zwölf Monate des Ausgangsverfahrens als entschädigungspflichtig
anzuerkennen. Ausgehend von einer Gesamtverfahrensdauer des Ausgangsverfahrens von 55 Kalendermonaten erschließt sich aus
dem Schreiben weder, welche Monate der Beklagte hiervon im Einzelnen als entschädigungspflichtig angesehen hat, noch zeigt
es auf, wie sich rechnerisch die angenommene "Liegezeit" von 41 Monaten ergibt. Offenbleiben kann deshalb auch, ob ein gesondertes
Anerkenntnis solcher Berechnungselemente eines Entschädigungsanspruchs überhaupt möglich wäre.
Ebenfalls dahingestellt bleiben kann, ob das Schreiben des Beklagten ein wirksames Schuldanerkenntnis (§
781 Satz 1
BGB) enthält. Ein solches Anerkenntnis ist zwar grundsätzlich auch in öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen möglich. Es
hätte als öffentlich-rechtlicher Vertrag iS von § 53 SGB X (vgl BSG Urteil vom 20.10.1983 - 2 RU 49/82 - juris RdNr 13) nach § 56 SGB X aber der Schriftform und damit grundsätzlich der Unterschriften aller Vertragsparteien bedurft (Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 56 RdNr 9; Wehrhahn in Kasseler Kommentar, § 56 SGB X RdNr 5, Stand der Einzelkommentierung Oktober 2014).
(2) Die vom Kläger angegriffene Bewertung des Monats Mai 2017 durch das Entschädigungsgericht als aktiver Monat des Ausgangsgerichts
ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Entschädigungsgericht hat am letzten Tag dieses Monats einen Posteingang
beim SG festgestellt. Dieser wiederum stand am Beginn der gerichtlichen Bearbeitung durch das SG, denn zum (Ausgangs-)Gericht gehört auch die dortige Poststelle. Wie das Entschädigungsgericht zu Recht angenommen hat, ist
wegen des Monatsprinzips damit der gesamte Monat mit einer gerichtlichen Aktivität belegt (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 57; BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R - BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9, RdNr 34).
(3) Ebenfalls keinen revisionsrechtlichen Bedenken begegnet die vom Kläger gerügte Bewertung des Monats August 2017 als nicht
entschädigungsrelevante Zeit. Zwar hat das Ausgangsgericht nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts einen im Juli
2017 eingegangenen Schriftsatz des Beklagten im Ausgangsverfahren (nur) zur freigestellten Stellungnahme übersandt. Dennoch
durfte das Entschädigungsgericht den Monat August 2017 als aktive Zeit bewerten. Denn die Übersendung eines Schriftsatzes
an die Beteiligten zur Kenntnis eröffnet stets die Möglichkeit zur Stellungnahme. Die Entscheidung des Gerichts, im Hinblick
auf eine mögliche Stellungnahme zunächst keine weiteren Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich
noch seiner Entscheidungsprärogative bei der Verfahrensführung; sie ist - mit Ausnahme unvertretbarer oder schlechthin unverständlicher
Wartezeiten - weder durch das Entschädigungs- noch durch das Revisionsgericht als Verfahrensverzögerung zu bewerten (BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R - BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16, RdNr 43). Das Entschädigungsgericht ist in dieser Hinsicht davon ausgegangen, das Ausgangsgericht
habe aus seiner - allein maßgeblichen - ex-ante-Sicht eine Replik des Klägers nicht ausschließen können. Diese Einschätzung
lässt keine Rechtsfehler erkennen.
c) Bei seiner Gesamtabwägung aller für die Entscheidung erheblichen Umstände (dritter Schritt der Angemessenheitsprüfung der
Verfahrensdauer) durfte das Entschädigungsgericht von den festgestellten 40 Monaten der Inaktivität zwölf Monate als Vorbereitungs-
und Bedenkzeit für das SG absetzen (dazu unter aa), nicht jedoch weitere drei Monate wegen Erkrankung des zunächst für das Ausgangsverfahren zuständigen
Kammervorsitzenden (dazu unter bb).
aa) Zu Recht hat das Entschädigungsgericht dem Ausgangsgericht eine zwölfmonatige Vorbereitungs- und Bedenkzeit zugebilligt.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist den Ausgangsgerichten - vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls - eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis
zu zwölf Monaten je Instanz zuzubilligen, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt und
nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden muss (zB BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 45; BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 25; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 27, 46). Dies hat der Senat aus der Struktur und Gestaltung des sozialgerichtlichen Verfahrens abgeleitet (grundlegend BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 45 ff). Er trägt damit dem Umstand Rechnung, dass grundsätzlich jedem Gericht eine ausreichende
Vorbereitungs- und Bedenkzeit zur Verfügung stehen muss. Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher
Verfahren, die bei einem Gericht anhängig oder einem Richter zugewiesen sind, ist schon aus tatsächlichen Gründen nicht möglich.
Sie wird auch von Art
20 Abs
3 GG und Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK nicht verlangt (vgl auch BGH Urteil vom 12.2.2015 - III ZR 141/14 - juris RdNr 33 mwN). Aus dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit folgt kein Recht auf sofortige Befassung des
Gerichts mit jedem Rechtsschutzbegehren und dessen unverzügliche Erledigung. Vielmehr sind Rechtsschutzsuchenden je nach Bedeutung
und Zeitabhängigkeit des Rechtsschutzziels und abhängig von der Schwierigkeit des Rechtsstreits sowie von ihrem Verhalten
gewisse Wartezeiten zuzumuten. Ebenso sind Gerichte - unter Beachtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes - berechtigt, einzelne
(ältere und jüngere) Verfahren aus Gründen eines sachlichen, rechtlichen, persönlichen oder organisatorischen Zusammenhangs
zu bestimmten Gruppen zusammenzufassen oder die Entscheidung einer bestimmten Sach- oder Rechtsfrage als dringlicher anzusehen
als die Entscheidung anderer Fragen, auch wenn eine solche zeitliche "Bevorzugung" einzelner Verfahren jeweils zu einer längeren
Dauer anderer Verfahren führt (BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 44 mwN).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat nach erneuter Prüfung fest. Die Zwölfmonatsregel sorgt - wie vom Senat bezweckt (BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 45) - in der sozialgerichtlichen Praxis für Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit. Sie gibt
nicht nur den Entschädigungsgerichten, sondern schon den Ausgangsgerichten eine einfache und praktikable Beurteilungsgrundlage
an die Hand. Sie ermöglicht einerseits einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessenlagen der Akteure des Sozialgerichtsprozesses
bezogen auf die Verfahrensdauer für den Regelfall, schließt aber andererseits auch eine abweichende Beurteilung bei Besonderheiten
im Einzelfall nicht aus (Söhngen in Hennig,
SGG, §
202 RdNr 79, Stand der Einzelkommentierung Februar 2016). Die Rechtsprechung des Senats ist nicht zuletzt deshalb in der sozialgerichtlichen
Praxis einhellig auf Zustimmung gestoßen. Die Landessozialgerichte als Entschädigungsgerichte legen sie ihren Entscheidungen
bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer regelmäßig zugrunde (zB Hessisches LSG Urteil vom 12.5.2021 - L 6 SF 23/18 EK SF - juris RdNr 44 f; LSG Mecklenburg-Vorpommern Beschluss vom 12.2.2020 - L 12 SF 8/19 EK EG - juris RdNr 31 ff; Sächsisches LSG Urteil vom 29.3.2017 - L 11 SF 70/16 EK - juris RdNr 31).
Die vereinzelt im Schrifttum geäußerte Kritik gibt keinen Anlass, diese Rechtsprechung aufzugeben oder zu modifizieren. Keineswegs
hat sie in willkürlicher Weise Gerechtigkeitsvorstellungen des Gerichts an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers gesetzt
(so aber Gohde, Der Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer nach den §§
198 ff
GVG, 2020, 325) oder dessen Intention ins Gegenteil verkehrt (so aber Groß in Berchtold,
SGG, 6. Aufl 2022, §
202 RdNr 17). Vielmehr hat der Senat im Interesse von Rechtssicherheit und einheitlicher Rechtsanwendung (Loytved, jM 2015, 167,
169) der Struktur und dem typischen Ablauf sozialgerichtlicher Verfahren und dem Bedürfnis nach einer zügigen Abwicklung von
Entschädigungsverfahren Rechnung getragen, dabei aber zugleich den Entschädigungsgerichten Raum für die Berücksichtigung von
Besonderheiten des Einzelfalls gelassen. Die Bestimmung der maximal zulässigen, noch angemessenen Verfahrenslaufzeit kann
weiterhin jeweils nur aufgrund einer abschließenden Gesamtbetrachtung und -würdigung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls
insbesondere mit Blick auf die von §
198 Abs
1 Satz 2
GVG benannten Kriterien erfolgen.
Der Orientierungswert von zwölf Monaten Vorbereitungs- und Bedenkzeit für das Ausgangsgericht bleibt daher auch im Fall des
Klägers einschlägig. Besonderheiten, die eine Abweichung nach unten rechtfertigen, hat das Entschädigungsgericht nicht festgestellt.
Eine solche Besonderheit liegt entgegen der Ansicht des Klägers auch nicht in dem Umstand, dass das Ausgangsgericht sein Verfahren
bereits im Oktober 2015 und damit bereits acht Monate nach Klageeingang im Februar 2015 als entscheidungsreif bezeichnet hat.
Der Begriff der Entscheidungsreife oder die Bezeichnung einer Sache als ausgeschrieben kennzeichnet lediglich den Zeitpunkt,
in dem der für die Entscheidung des Rechtsstreits notwendige Tatsachenstoff aufgeklärt und den Beteiligten rechtliches Gehör
gewährt worden ist (BVerwG Urteil vom 17.8.2017 - 5 A 2/17 D - juris RdNr 34; Bayerischer VGH Urteile vom 13.6.2019 - 24 A 18.2049 - juris RdNr 27 und vom 10.12.2015 - 23 A 14.2252 - juris RdNr 36; vgl auch Burkiczak
in Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, §
105 RdNr 30, Stand der Einzelkommentierung Dezember 2021; Hübschmann in Roos/Wahrendorf/Müller,
SGG, §
123 RdNr 15.3, Stand der Einzelkommentierung Februar 2022). Die Entscheidungsreife bildet daher für die Bewertung der Verzögerung
keinen Fixpunkt, sondern hat allenfalls relative Bedeutung. Liegt sie vor, muss weder sogleich eine dem Staat zuzurechnende
Verzögerung eintreten noch werden mit ihr bestimmte Fristen für die Verfahrensförderung in Lauf gesetzt (BVerwG Urteil vom
11.7.2013 - 5 C 23/12 D - juris RdNr 36). Das BVerwG gesteht den Verwaltungsgerichten daher ab dem Zeitpunkt der Entscheidungsreife vor dem Hintergrund
der verfassungsrechtlich gewährten richterlichen Unabhängigkeit (Art
97 Abs
1 GG) einen nach den Umständen des Einzelfalls in Relation zu den in §
198 Abs
1 Satz 2
GVG benannten Kriterien zu bemessenden Zeitraum bis zur abschließenden Entscheidung zu (BVerwG Urteil vom 26.2.2015 - 5 C 5/14 D - juris RdNr 43 ff).
Soweit sich der Kläger auf die Entscheidung des BVerwG vom 11.7.2013 (5 C 27/12 D - juris RdNr 45) beruft, wonach ein einfach gelagertes Verfahren auch in einem Jahr abgeschlossen werden könne, berücksichtigt
er nicht ausreichend, dass das BSG die Bemessung der den Gerichten zuzubilligenden Zeit nach außen nicht erkennbarer Aktivität ausgehend von typischen sozialrechtlichen
Streitfällen durch die Zwölfmonatsregel anders strukturiert hat als das BVerwG. Auf die tatsächliche oder vermeintliche Entscheidungsreife
eines Verfahrens kommt es danach nicht an. Dementsprechend wird die Vorbereitungs- und Bedenkzeit durch die vom Ausgangsgericht
angenommene Entscheidungsreife entgegen der Ansicht des Klägers nicht automatisch verkürzt. Allerdings können besondere Umstände
des Einzelfalls, vor allem mit Blick auf die Kriterien des §
198 Abs
1 Satz 2
GVG es gebieten, von der Regel einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit abzuweichen und ausnahmsweise einen kürzeren
Zeitraum anzusetzen (vgl BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R - BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7, RdNr 32). Im Übrigen sind Rechtsuchenden - wie oben bereits ausgeführt - gewisse Wartezeiten zuzumuten.
Aus ihrem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit folgt kein Recht auf sofortige Befassung des Gerichts mit jedem Rechtsschutzbegehren
und dessen unverzügliche Erledigung.
bb) Dagegen hat das Entschädigungsgericht bei der Bewertung der Verfahrensführung des Ausgangsgerichts zu Unrecht pauschal
weitere drei Monate wegen der Erkrankung des zunächst zuständigen Kammervorsitzenden als Fall "höherer Gewalt" von der entschädigungspflichtigen
Zeit abgezogen. Eine Verfahrensdauer, welche die regelmäßig und auch im Fall des Klägers anzusetzende zwölfmonatige Vorbereitungs-
und Bedenkzeit übersteigt, muss - wie oben bereits ausgeführt - auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts
beruhen, soweit sie nicht maßgeblich durch das Verhalten der Beteiligten oder Dritter bedingt wird.
Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des Entschädigungsgerichts (vgl §
163 SGG) war der für die Bearbeitung des Ausgangsverfahrens zunächst zuständige Kammervorsitzende von Anfang 2015 bis zum 5.6.2015,
in der ersten Novemberwoche 2015 sowie vom 25.1. bis zum 5.2.2016 und dann durchgehend vom 5.7.2016 bis zum Übergang des Verfahrens
in die 62. Kammer des Ausgangsgerichts am 1.10.2017 dienstunfähig. Seine geschäftsplanmäßigen Vertreter haben das Verfahren
nur während einiger dieser zahlreichen Monate seiner krankheitsbedingten Abwesenheit gefördert, etwa zu Beginn des Verfahrens
und in den Monaten vor dem Übergang in die 62. Kammer.
Von den Monaten des krankheitsbedingten Verfahrensstillstands braucht der Kläger entgegen der Ansicht des Entschädigungsgerichts
nicht pauschal drei Monate entschädigungslos hinzunehmen.
Dem Entschädigungsgericht ist zwar zuzugestehen, dass eine Verlängerung der Verfahrensdauer keine Entschädigungspflicht auslöst,
wenn sie - über das Verhalten der Verfahrensbeteiligten oder Dritter hinaus - auf anderen Ursachen beruht, die das Gericht
weder beeinflussen kann noch sonst zu verantworten hat. Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang von Ursachen, die nicht
in den Verantwortungsbereich der staatlichen verfassten Gemeinschaft fallen (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 13.10.2016 - 2 BvR 1275/16 - juris RdNr 52), der EGMR (EGMR Urteil vom 16.7.2009 - 8453/04 - juris RdNr 53) und das BVerwG (BVerwG Urteil vom 11.7.2013 - 5 C 27/12 D - juris RdNr 44) nutzen - ebenso wie das LSG - den Begriff der "höheren Gewalt". Unabhängig von der konkreten Begrifflichkeit
ist aber maßgeblich für die Entschädigungspflicht in jedem Fall die wertende Bestimmung des staatlichen Verantwortungs- und
Einflussbereichs für die Gewährung von Rechtsschutz in angemessener Zeit (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 17.11.2010
zum ÜGG, BT-Drucks 17/3802 S 19; BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 7/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 10 RdNr 35; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 34; Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013,
§
198 GVG RdNr 114). Verfahrensverzögerungen durch Faktoren außerhalb dieses Bereichs begründen keinen Entschädigungsanspruch (vgl
Frehse, Die Kompensation der verlorenen Zeit - Wenn Prozesse Pause machen, 2017, 256).
Allerdings stellt eine Erkrankung des zuständigen Richters keine lediglich äußere Einwirkung auf das Verfahren dar, sondern
fällt im Ergebnis in den Verantwortungs- und Einflußbereich des Gerichts und damit des Staates. Zwar mag das noch nicht für
die Erkrankung eines Richters als solche gelten (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 13.10.2016 - 2 BvR 1275/16 - juris RdNr 52; vgl zur Erkrankung eines Behördenvertreters EGMR Urteil vom 16.7.2009 - 8453/04 - juris RdNr 53; vgl für die stufenweise Wiedereingliederung eines kranken Richters LAG Sachsen-Anhalt
Urteil vom 9.10.2019 - 5 Oa 1/18 - juris RdNr 31; aA Kämpfer SchlHA 2011, 389, 390), wohl aber für ihre Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren. Es obliegt dem Gericht und damit dem Staat, die erforderliche
Vertretung des erkrankten Richters sicherzustellen (Gohde, Der Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Verfahrensdauer
nach den §§
198 ff
GVG, 2020,
101) oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch den krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren,
das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit ausreichend Rechnung trägt. Erkrankungen von Richtern gehören ebenso
wie die sonstigen üblichen Ausfallzeiten etwa durch den gesetzlichen Jahresurlaub oder durch Fortbildungen zum Alltag der
Gerichte. Solche Ausfallzeiten haben die Justizbehörden und Gerichte zu verantworten, denn diese Umstände sind grundlegender
Bestandteil der ihnen obliegenden Personal- und Ressourcenplanung (Frehse, Die Kompensation der verlorenen Zeit - Wenn Prozesse
Pause machen, 2017, 904 ff). Die Folgen solcher Ausfallzeiten für den Fortgang des Verfahrens, die für den Rechtsuchenden
allein maßgeblich sind, können durch die gebotene Vertretung abgemildert oder ganz vermieden werden. Daher hat ein Gericht
auch die Verzögerung eines Verfahrens wegen der Erkrankung eines Richters von Beginn an zu verantworten. Es muss sie vorausschauend
durch die Organisation einer wirksamen Vertretung und - im Fall der dauerhaften Verhinderung - durch rechtzeitige Umverteilung
der Geschäfte verhindern oder zumindest ihre Folgen für die Rechtsuchenden abmildern.
Diese Pflicht zur Gewährleistung einer effektiven Vertretung ergibt sich insbesondere aus dem Justizgewährleistungsanspruch.
Dieser verpflichtet den Staat zu einer ausreichenden personellen und sachlichen Ausstattung der Gerichte. Der Staat kann sich
zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht auf Umstände innerhalb seines Verantwortungsbereichs berufen.
Vielmehr muss er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist beendet werden können
(BT-Drucks 17/3802 S 19; BVerfG [Kammer] Beschluss vom 29.3.2005 - 2 BvR 1610/03 - juris RdNr 13). Art 6 Abs 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten ebenfalls, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass ihre Gerichte allen Erfordernissen
des Artikels - und damit auch dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit - gerecht werden können (EGMR Urteil vom 31.7.2003 - 57249/00 - juris 48 mwN). Den Bundesländern obliegt es daher in ihrem Zuständigkeitsbereich, für eine
hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese ihrem Rechtsprechungsauftrag in einer
Weise nachkommen können, die den Anforderungen des Art
19 Abs
4 Satz 1
GG genügt (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 17.11.1999 - 1 BvR 1708/99 - juris RdNr 9; BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 7/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 10 RdNr 35; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 34). In diesem Rahmen müssen sie auch angemessen vorsorgen, um einer generell vorhersehbaren
besonderen Situation wie der Erkrankung des Gerichtspersonals zu begegnen (vgl BVerfG [Kammer] Beschluss vom 13.8.2012 - 1 BvR 1098/11 - juris RdNr 19; Roderfeld in Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren, 2013, §
198 GVG RdNr 17).
Die dafür erforderliche Personalausstattung muss auch eine wirksame Vertretung iS von §
21e Abs
1 Satz 1
GVG ermöglichen, solange ein Richter wegen einer Erkrankung vorübergehend verhindert ist (zur Verhinderung Pabst in Münchener
Kommentar zur
ZPO, 6. Aufl 2022, §
21e GVG RdNr 62). Dabei hat der für den Verhinderungsfall im Geschäftsverteilungsplan vorgesehene Vertreter das Verfahren zu fördern
(vgl BVerwG Urteil vom 11.7.2013 - 5 C 27/12 D - juris RdNr 44; Roller, VSSR 2015, 65, 90), und zwar im Lichte des Justizgewährleistungsanspruchs - soweit wie nötig und möglich - schon von Beginn der Vertretung
an grundsätzlich in derselben Weise wie sonst der durch Erkrankung verhinderte Richter. Dem Vertreter darf dabei aber kein
Pensum abverlangt werden, dass sich in sachgerechter Weise nicht mehr oder nur durch dauerhaft überobligatorischen Einsatz
erledigen lässt (vgl BVerfG [Kammer] Beschluss vom 23.5.2012 - 2 BvR 610/12, 2 BvR 625/12 - juris RdNr 16 ff; Frehse, Die Kompensation der verlorenen Zeit - Wenn Prozesse Pause machen, 2017, 906).
Soweit eine wirksame Förderung des Verfahrens in der Vertretung wegen einer Überlastung des Vertreters oder wegen fehlender
Berücksichtigung der in Vertretung erledigten Verfahren bei der Dezernatsverteilung unterbleibt, beseitigt dies nicht die
Verantwortung des Gerichts und damit des Staates für die eintretende Verzögerung. Eine unzureichende sachliche oder personelle
Ausstattung der Justiz generell oder speziell des Ausgangsgerichts stellt - wie oben ausgeführt - von vornherein keinen sachlichen
Grund für eine Verlängerung der Verfahrenslaufzeiten dar.
Im Übrigen sind die trotz oder wegen der Vertretung entstehenden Verzögerungen mit der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit
abgegolten, die jeder Instanz regelmäßig zuzubilligen ist. Sie berücksichtigt bereits die üblichen Urlaubs- und Krankheitszeiten
(ebenso BFH [Urteil vom 8.10.2019 - X K 1/19 - juris RdNr 52] für die zweijährige Regelvermutung im Bereich der Finanzgerichtsbarkeit). Nichts anderes gilt für den Berichterstatterwechseln
wegen Erkrankung des zuständigen Richters. Wie bei sonstigen unvermeidbaren Berichterstatterwechseln (BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R - BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7, RdNr 31) handelt es sich bei den damit verbundenen Verfahrensverlängerungen nicht um Zeiten aktiver
Verfahrensförderung durch das Ausgangsgericht. Ebenso ist die Zeit, die das Präsidium zur Vorbereitung und Durchführung der
Umverteilung der Geschäfte nach §
21e Abs
3 Satz 1
GVG wegen dauerhafter Verhinderung eines Richters benötigt, ein Gerichtsinternum, das allein in dessen Verantwortungsbereich
fällt. Rechtsuchende brauchen die in dieser Zeit entstehenden Verzögerungen schon wegen der genannten Pflicht zur Organisation
einer von Anfang an effektiven Vertretung nicht entschädigungslos hinzunehmen. Soweit der Grundsatz des gesetzlichen Richters
(Art
101 Abs
1 Satz 2
GG) in Konflikt mit einer verfrühten Umverteilung geraten könnte, ändert dies nichts am Gebot einer effektiven Vertretung. Denn
bis zur Umverteilung ist auch der vom Geschäftsverteilungsplan vorgesehene Vertreter gesetzlicher Richter. Dementsprechend
hat im Fall des Klägers der zuständige Vertreter das Verfahren in den Monaten vor dem Übergang in die 62. Kammer des Ausgangsgerichts
im Oktober 2017 nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts aktiv gefördert.
Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des BVerwG, auf die das Entschädigungsgericht seine Rechtsansicht stützen
möchte. Vielmehr kann danach die Erkrankung eines Richters wegen der Vertretungsregelungen, welche der Geschäftsverteilungsplan
des Gerichts vorzusehen hat, allenfalls eine kurzfristige Verzögerung rechtfertigen (BVerwG Urteil vom 11.7.2013 - 5 C 27/12 D - juris RdNr 44).
Eine Entschädigungspflicht kann jedoch ausnahmsweise dann entfallen, wenn wegen der Erkrankung des zuständigen Richters zB
ein bereits anberaumter Termin kurzfristig verschoben werden muss. Die staatliche Verantwortung für die dadurch eintretende
Verzögerung ist anders zu bewerten, wenn sich der geschäftsplanmäßige Vertreter in der Kürze der verbleibenden Vorbereitungszeit
nicht in die Sache einarbeiten kann und deshalb als verhindert anzusehen ist (vgl OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 19.11.1998
- 23 A 2616/98.A - juris RdNr 4; Hessisches Dienstgericht für Richter Urteil vom 5.7.1979 - 2 X 1/78 - DRiZ 1980, 311, 312; Kissel/Mayer,
GVG, 10. Aufl 2021, §
21e RdNr 144, 146). Bei einer solchen kurzfristigen Terminsverschiebung handelt es sich um keine Verzögerung, die auf organisatorischen
Mängeln oder einer unzureichenden Ausstattung der Justiz im Allgemeinen beruht. Vielmehr verlängert sich in dieser Konstellation
die Laufzeit des Verfahrens durch eine unvermeidbare Störung des Verfahrensablaufs, was keine Entschädigungspflicht zu begründen
vermag (vgl BVerwG Urteil vom 11.7.2013 - 5 C 27/12 D - juris RdNr 44; s auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 2.8.2013 - L 37 SF 252/12 EK AL - juris RdNr 48; BGH Beschluss vom 17.3.2005 - 3 StR 39/05 - juris RdNr 17). Ein solcher Fall lag hier jedoch nach den Feststellungen des Entschädigungsgerichts nicht vor.
Hiervon ausgehend hätte das Entschädigungsgericht drei weitere und damit insgesamt 28 Monate als entschädigungspflichtig bewerten
müssen. Dagegen hatte der Kläger, wie ausgeführt, keinen Anspruch auf die darüber hinaus begehrte Entschädigung für insgesamt
47 Monate.
d) Der Kläger kann für den von ihm durch die Monate gerichtlicher Inaktivität des SG erlittenen Nachteil auch keine höhere als die nach §
198 Abs
2 Satz 3
GVG vorgesehene Entschädigung in Geld von 100 Euro monatlich beanspruchen. Die Entscheidung des Entschädigungsgerichts, von dem
in §
198 Abs
2 Satz 3
GVG vorgesehenen Regelbetrag von 1200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung eines Gerichtsverfahrens nicht abzuweichen, begegnet
keinen revisionsrechtlichen Bedenken und wird vom Kläger zu Recht auch nicht infrage gestellt.
e) Demnach waren dem Kläger auf seine Revision zusätzlich zu den vom Entschädigungsgericht bereits ausgeurteilten 1300 Euro
weitere 300 Euro Entschädigung zuzusprechen und das Urteil des Entschädigungsgerichts dahingehend zu ändern. Im Übrigen war
die Revision zurückzuweisen.
3. Der Anspruch auf Prozesszinsen ergibt sich in entsprechender Anwendung aus §§
288 Abs
1,
291 Satz 1
BGB (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 54 mwN).
C. Die Kostenentscheidung folgt aus §
197a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
155 Abs
1 Satz 1
VwGO. Sie ist hier für jede Instanz gesondert zu treffen. Dem steht das Gebot der einheitlichen Kostenentscheidung nicht entgegen.
Danach entscheidet das zuletzt angerufene Gericht in der die Instanzen abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des
gesamten Rechtsstreits (Hauck in Hennig,
SGG, §
193 RdNr 99, Stand der Einzelkommentierung Juli 2020). Die Einheitlichkeit bezieht sich indes nicht auf den Inhalt der Kostenentscheidung;
der Umfang der Kostenerstattung ist vielmehr für jede Instanz gesondert zu prüfen (Gutzler in Roos/Wahrendorf/Müller,
SGG, §
193 RdNr 4, Stand der Einzelkommentierung Februar 2022; Schmidt in Fichte/Jüttner,
SGG, 3. Aufl 2020, §
193 RdNr 20). Auch eine nach Rechtszügen differenzierte Kostenentscheidung stellt eine einheitliche Kostenentscheidung dar, die
andernfalls entstehende Ungenauigkeiten vermeiden kann (vgl BFH Urteil vom 13.5.2020 - VI R 38/18 - juris RdNr 29; BFH Beschluss vom 29.5.1990 - IV R 75/88 - juris RdNr 12).
Die hälftige Kostenteilung für das Verfahren vor dem Entschädigungsgericht ergibt sich aus dem Obsiegen des Klägers iHv 1600
Euro und damit von gerundet der Hälfte der in dieser Instanz geltend gemachten Entschädigungsforderung von 3500 Euro.
Für das Revisionsverfahren folgt die Kostenentscheidung aus dem Obsiegen des Klägers iHv 300 Euro und damit gerundet iHv 1/7
der von ihm mit der Revision noch geltend gemachten Entschädigungsforderung von weiteren 2200 Euro.
D. Die Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren beruht auf §
197a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
1 Abs
2 Nr
3, §
47 Abs
1 Satz 1, § 52 Abs 1 und Abs 3 Satz 1, § 63 Abs 2 Satz 1 GKG. Der Streitwert entspricht der vom Kläger zuletzt noch geltend gemachten weiteren Entschädigungsforderung von 2200 Euro.