Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II
Rechtsinstitut der Verwirkung im Recht der Sozialversicherung
Verspätete Geltendmachung einer Forderung als Verstoß gegen Treu und Glauben
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Erstattungsforderung des Beklagten.
Die 1969 geborene Klägerin zu 1. und ihr Lebenspartner, der 1967 geborene Kläger zu 2. standen mit ihren Söhnen, dem 1993
geborenen Kläger zu 3. und dem 2003 geborenen Kläger zu 4., seit November 2006 im ergänzenden Leistungsbezug des Beklagten
nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Auf ihren Weiterbewilligungsantrag gewährte ihnen der Beklagte mit Bescheid vom 3. Juni 2008 für den Zeitraum vom 1. Juni
2008 bis zum 30. Juni 2008 ergänzende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Höhe von insgesamt 502,61 EUR für
Juni 2008 und in den Folgemonaten in Höhe von monatlich 516,61 EUR.
Im Hinblick auf eine Änderung hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Heizung der Kläger setzte der Beklagte die monatlichen
Leistungen für den Zeitraum vom 1. Juni 2008 bis zum 30. November 2008 unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Juni 2008 (neu)
fest (Bescheid vom 30. Juni 2008) und bewilligte den Klägern für Juni 2008 eine Gesamtleistung in Höhe von 809,13 EUR und
für die Folgemonate bis einschließlich November 2008 in Höhe von monatlich 823,13 EUR. Aufgrund der von der Klägerin zu 1.
mitgeteilten Beschäftigungsaufnahme hob der Beklagte die Leistungsbewilligung ab 1. September 2008 allen Klägern gegenüber
auf (Bescheid vom 5. März 2009) und setzte ausweislich des beigefügten Berechnungsbogens die Leistungen ab September 2008
nach Anrechnung von Einkommen auf insgesamt 0 EUR fest. Für die Monate September und Oktober 2008 wurden Leistungen in der
ursprünglich bewilligten Höhe überzahlt.
Mit einem an die Klägerin zu 1. gerichteten Schreiben vom 5. März 2009 hörte er diese zur beabsichtigten Rückforderung von
Leistungen für September und Oktober 2008 in Höhe von insgesamt 1.646,23 EUR (je Monat 823,13 EUR) an, die sich hierzu im
März 2009 schriftlich äußerte.
Mit einem an sämtliche Kläger gerichteten Bescheid vom 5. Mai 2010 forderte der Beklagte zu Unrecht bezogene Leistungen von
diesen zurück, und zwar von der Klägerin in Höhe von 756,30 EUR, vom Kläger zu 2. in Höhe von 472,38 EUR, vom Kläger zu 3.
in Höhe von 249,98 EUR und vom Kläger zu 4. in Höhe von 167,60 EUR, insgesamt 1.646,26 EUR. Dem hiergegen erhobenen Widerspruch
half der Beklagte insofern ab, als er den Bescheid vom 5. Mai 2010 aufhob, soweit Leistungen über einen Betrag von insgesamt
1.304,14 EUR hinaus gefordert wurden, weil 56 v.H. der bei der Leistung berücksichtigten Kosten der Unterkunft mit Ausnahme
der Kosten für die Heizung- und Warmwasserversorgung nicht zu erstatten seien. Für die Monate September und Oktober 2008 seien
die zurückgeforderten Leistungen hinsichtlich der Unterkunftskosten mit Ausnahme der Kosten für die Heizung- und Warmwasserversorgung
nur in Höhe von 44 v.H. von den Klägern zu erstatten. Für die Klägerin ergebe sich danach ein Erstattungsbetrag in Höhe von
378,15 EUR, für den Kläger zu 2. in Höhe von 236,19 EUR, für den Kläger zu 3. in Höhe von 124,99 EUR und für den Kläger zu
4. in Höhe von 83,80 EUR.
Im nachfolgenden Klageverfahren hat der Beklagte unter dem 13. November 2015 den Bescheid vom 5. Mai 2010 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2012 gegenüber dem Kläger zu 3. wegen des Eintritts der Volljährigkeit insofern zurückgenommen,
als die Erstattungsforderung insgesamt das bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandene Vermögen des Klägers zu 3. In Höhe von
100 EUR überstieg. Das Sozialgericht Neuruppin (SG) hat mit Urteil vom 13. September 2017 die mit dem Bescheid des Beklagten vom 5. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19. Oktober 2012 in der Fassung des von dem Kläger zu 3. angenommenen Teilanerkenntnisses vom 13. November 2015 verlautbarten
Erstattungsverfügungen aufgehoben. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Zwar habe der Beklagte das Erstattungsbegehren
zu Recht auf § 50 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Sozialverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) gestützt und die zu erstattenden Leistungen auch durch schriftlichen Verwaltungsakt festgesetzt. Die den Klägern bekanntgegebenen
Erstattungsverwaltungsakte seien aber formell rechtswidrig, weil der Beklagte die aufhebenden Verwaltungsakte nicht mit den
Erstattungsverwaltungsakten verbunden, sondern ein weiteres Jahr zugewartet habe, bis er den Klägern die angegriffene Erstattungsverwaltungsakte
bekanntgegeben habe. Bei der Regelung des § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X handle es sich nicht lediglich um eine Ordnungsvorschrift, sondern eine Vorschrift, die subjektiv-öffentliche Rechte zugunsten
der Kläger begründe.
Mit der vom SG zugelassenen Berufung macht der Beklagte geltend, subjektiv-öffentliche Rechte würden im Falle eines Verstoßes gegen § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X nicht verletzt. Die Rücknahme der Leistungsbewilligung sei innerhalb der normierten Jahresfrist erfolgt.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 13. September 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie machen ergänzend geltend, die sinngemäß anzuwendende Jahresfrist für die geforderte Erstattung sei verstrichen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten verwiesen. Diese sowie die Leistungsakten
des Beklagten haben vorgelegen und sind, soweit erforderlich, Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Erstattungsbescheid des Beklagten vom 5. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19. Oktober 2012 in der Fassung des Bescheides vom 13. November 2015, den die Kläger zu 1. bis 4., die sämtlich ordnungsgemäß
vertreten sind, mit der statthaften Anfechtungsklage i.S.d. §
54 Abs.
1 Satz 1 und Abs.
2 SGG anfechten. Der Bescheid verletzt die Kläger indes, anders als vom SG entschieden, nicht in ihren Rechten. Das Urteil des SG war daher aufzuheben und die Klage, soweit sie nach sinngemäßer teilweiser Erledigungserklärung noch anhängig war, abzuweisen.
Die Kläger sind zur Erstattung in der zuletzt noch aufgrund der Verfügung des Beklagten (13. November 2015) im Klageverfahren
gegenständlichen Höhe verpflichtet.
Rechtsgrundlage für die Erstattungsentscheidung ist, wie vom SG zu Recht ausgeführt worden ist, § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II (Gesetz vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954 - a.F.) i.V.m. § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt, wie mit dem bestandskräftigen Bescheid
vom 5. März 2009, aufgehoben worden ist. Es handelt sich hierbei um eine gebundene Entscheidung; der Beklagte muss die erbrachten
Leistungen nach Aufhebung zurückfordern. Gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X ist die zu erstattende Leistung durch schriftlichen Verwaltungsakt, wie hier mit dem angefochtenen Bescheid erfolgt, festzusetzen.
Zwar regelt § 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X, dass die Festsetzung, sofern die Leistung auf Grund eines Verwaltungsakts erbracht worden ist, mit der Aufhebung des Verwaltungsakts
verbunden werden soll. Dieses Verfahren ist vorliegend vom Beklagten nicht eingehalten worden. Sinn und Zweck der Vorschrift
ist es, die Rechtsfragen der Rückabwicklung des Leistungsverhältnisses möglichst schnell und einheitlich zu klären; außerdem
wird hiermit die Existenz des Erstattungsbescheides an das rechtliche Schicksal des Aufhebungsbescheides gebunden (vgl. BVerwG,
Urteil vom 20. Februar 1992 - 5 C 66/88 - juris Rn. 24f.). Im Verhältnis zwischen Rücknahme und Erstattung kommt der Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides
indes das rechtlich maßgebende Gewicht bei (BVerwG, a.a.O. Rn. 25). Anders als das SG ausgeführt hat, werden Rechte der Kläger durch eine Verletzung dieser Regelung nicht verletzt; diese sind nicht materiell
beschwert und können die Aufhebung des isolierten Erstattungsbescheides nicht beanspruchen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Auflage 2017, §
54 Rn. 17). Denn es handelt sich um eine - ohnehin nicht zwingende - reine Verfahrensvorschrift. Gemäß § 42 SGB X kann indes die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der wie vorliegend, nicht nach § 40 Satz 1 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form
oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der
Sache nicht beeinflusst hat, mithin keine andere Entscheidung hätte getroffen werden können. So liegt es hier im Hinblick
auf die aus § 50 Abs. 1 SGB X folgende Erstattungspflicht der Kläger (vgl. auch Hessisches LSG, Urteil vom 19. September 1997 - L 10 Ar 844/94 - juris
Rn. 19 f.; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 50 Rn. 30).
Zwar hat der Beklagte die Kläger vor Erlass der in ihre Rechtsposition eingreifenden Erstattungsverfügungen nicht ordnungsgemäß
zu der jeden individuell betreffenden Erstattungsforderung angehört. Dieser Verfahrensmangel ist aber bereits während des
Widerspruchsverfahrens, währenddessen sich die Kläger zu den aus Sicht des Beklagten entscheidungserheblichen Tatsachen äußern
konnten und auch geäußert haben, gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II a.F. i.V.m. § 41 Abs. 1 Nr. 3 Abs. 2 SGB X geheilt worden (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 6/12 R - juris Rn. 21).
Anders als die Kläger schließlich geltend machen, hätte der Beklagte die Erstattungsentscheidung nicht binnen eines Jahres
nach der Aufhebungsentscheidung treffen müssen. Eine entsprechende Anwendung von § 45 Abs. 4 SGB X auf gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X ergangene Verwaltungsakte ist nicht geboten. Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X gilt diese Vorschrift im Wesentlichen nur bezüglich der Aufhebung von Verwaltungsakten mit Wirkung für die Vergangenheit.
Kraft ausdrücklicher Anordnung gilt sie außerdem für Erstattungsbescheide, die abweichend vom vorliegenden Sachverhalt auf
§ 50 Abs. 2 SGB X beruhen, weil Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind (vgl. auch Hessisches LSG, Urteil vom 19. September
1997 - L 10 Ar 844/94 - a.a.O. Rn. 21). Im Übrigen verjährt der - geltend gemachte - Erstattungsanspruch in vier Jahren nach
Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt nach Absatz 3 unanfechtbar geworden ist (§ 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Für Erstattungsbescheide, die - wie vorliegend - auf der Grundlage des § 50 Abs. 1 SGB X ergehen, gilt eine gesonderte Jahresfrist mithin nicht.
Bei der vorliegenden Sachlage ist die Geltendmachung der Erstattungsforderung auch nicht verwirkt. Zwar ist das Rechtsinstitut
der Verwirkung als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben aus §
242 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (
BGB) auch im öffentlichen Recht, insbesondere im Recht der Sozialversicherung, anerkannt (vgl. BSG, Urteil vom 26. März 1967, B 6 RKa 18/75 - juris). Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung setzt hiernach grundsätzlich voraus, dass der Berechtigte
die Ausübung seines Rechtes während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten,
die nach den jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete geltend
Machen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 5. Dezember 1972 - 10 RV 441/71 - juris, BVerwG, Urteil vom 7. Februar 1974 - III C 115.71 - juris Rn. 18 m.w.N.; BSG SozR 2200 § 1399 Nr. 11). Indes sind vorliegend Anhaltspunkte für das Entstehen eines Vertrauenstatbestandes der Kläger weder vorgetragen
noch aus den Akten ersichtlich. Der Beklagte hat schließlich hinsichtlich des Klägers zu 3. auch dessen beschränkte Haftung
nach §
1629a BGB beachtet.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG und berücksichtigt den Teilerfolg der Kläger im gesamten Verfahren.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.