Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung
Begriff der kostenaufwändigen Ernährung
Vom Regelbedarf gedeckte Vollkosternährung
Ernährung mit biologisch erzeugten Lebensmitteln keine von der Vollkost abweichende Ernährungsform
Tatbestand:
Der Kläger begehrt vom Beklagten höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs
wegen kostenaufwändiger Ernährung.
Der 1954 geborene, alleinstehende Kläger bezog von der Beklagten als Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) laufend eine Regelleistung iHv 391,- EUR mtl bzw 399,- EUR (Januar 2015) für die Zeit vom 1. Februar 2014 bis 31. Juli 2014
(vorläufiger Bescheid vom 2. Mai 2014) und vom 1. August 2014 bis 31. Januar 2015 (vorläufiger Bescheid vom 17. Juli 2014).
Am 8. Mai 2014 legte der Kläger bei der Beklagten eine ärztliche Bescheinigung zur Anerkennung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige
Ernährung von Dr. K vom 25. April 2014 vor, ausweislich derer er wegen einer "Nahrungsmittelunverträglichkeit konventionell
erzeugter Lebensmittel, insbesondere der generell verwendeten Hilfsstoffe zur Konservierung und Geschmacksverstärkung" biologische
erzeugte Lebensmittel benötige, die unter Verzicht auf diese Hilfsstoffe angebaut würden. Nach Einholung einer Stellungnahme
des Ärztlichen Dienstes vom 3. Juli 2014 (Dr. E), wonach ein Mehrbedarf für Ernährung aus medizinischen Gründen nicht notwendig
sei, lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen für einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung für den Bewilligungszeitraum
vom 1. August 2014 bis 31. Januar 2015 ab (Bescheid vom 15. August 2014; Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 2014).
Im nachfolgenden Klageverfahren hat der Kläger die Klage auf den Bescheid des Beklagten vom 23. Juli 2015 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 2015 erweitert, mit dem der Beklagte die Gewährung eines Mehrbedarfs für den Bewilligungszeitraum
vom 1. Februar 2015 bis 31. Januar 2016 abgelehnt hat. Die Klage, mit der der Kläger einen ernährungsbedingten Mehrbedarf
iHv mtl 150,- EUR geltend macht, blieb bei dem Sozialgericht (SG) Berlin ohne Erfolg (Gerichtsbescheid vom 17. Februar 2017). Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Kläger habe an der Sachverhaltsaufklärung nicht mitgewirkt, indem er die erbetene Schweigepflichtsentbindung
für Dr. K trotz mehrmaliger Aufforderung und Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung nicht eingereicht habe. Das vorliegende
Attest von Dr. K sei für die erforderlichen Feststellungen nicht ausreichend, da weder die vorliegende Erkrankung noch die
konkreten Stoffe benannt würden, die zu vermeiden seien. Das Gericht sei nicht verpflichtet, ohne vorherige Ermittlung konkreter
Anknüpfungstatsachen ein Gutachten einzuholen.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Aus seinem Vorbringen ergibt sich der (sachdienliche) Antrag,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. Februar 2017 und den Bescheid des Beklagten vom 15. August 2014 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm für die Zeit
vom 1. August 2014 bis 31. Januar 2015 einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von monatlich 150,- EUR zu
gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung, über die der Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern nach entsprechender Übertragung entschieden
hat (vgl §
153 Abs.
5 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -), ist nicht begründet und war zurückzuweisen. Der Schriftsatz des Klägers vom 22. Mai 2019 bot keinen Anlass, von einer
Entscheidung abzusehen. Über die Gewährung von Prozesskostenhilfe war bereits mit Senatsbeschluss vom 3. Mai 2017 entschieden
worden. Der Kläger hatte, worauf er selbst hinweist, mit "22 Monaten" auch ausreichend Zeit, seine Berufung zu begründen.
Der Kläger macht mit seinem Klageantrag höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines
Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung geltend. Die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung allein
kann nicht zulässiger Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein. Die Regelungen der Beklagten über die laufenden
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (mit Ausnahme der Kosten der Unterkunft, die vorliegend nicht in Streit stehen)
lassen sich in rechtlich zulässiger Weise nicht in weitere Streitgegenstände aufspalten (vgl Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 49/10 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 10 - Rn 13 mwN).
Die Klage ist bereits unzulässig, soweit der Kläger den genannten Mehrbedarf für Zeiten vor dem 1. August 2014 und nach dem
31. Januar 2015 begehrt. Denn der Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid vom 15. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 22. Oktober 2014 ausdrücklich nur über die Gewährung eines Mehrbedarfs für den Bewilligungszeitraum vom 1. August 2014
bis 31. Januar 2015 entschieden. Dem Mehrbedarfs-Ablehnungsbescheid kommt auch im Übrigen keine Bindungswirkung für künftige
Bewilligungsabschnitte zu (vgl BSG aaO Rn 14 mwN). Eine darüber hinausgehende Verwaltungsentscheidung, im Besonderen der Bescheid vom 23. Juli 2015 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 2015, mit dem der Beklagte die Gewährung eines Mehrbedarfs für den Bewilligungszeitraum
vom 1. Februar 2015 bis 31. Januar 2016 abgelehnt hat, ist nicht nach §
96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden (vgl BSG aaO). Auch im Wege der Klageerweiterung, die der Kläger insoweit erklärt hat, kann der letztgenannte Zeitraum nicht zulässig
zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden. Denn der Beklagte hat einer entsprechenden Klageerweiterung nicht zugestimmt.
Das SG, das ausweislich des angegriffenen Gerichtsbescheides ausdrücklich nur den Bescheid vom 15. August 2014 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2014 überprüft hat, hat die Klageerweiterung auch nicht, was das Berufungsgericht binden
würde, als sachdienlich angesehen. Auch der Senat sieht hier keine Sachdienlichkeit der Klageerweiterung, der zudem mangels
insoweit erfolgter erstinstanzlicher Entscheidung die funktionale Zuständigkeit des Berufungsgerichts entgegenstehen würde
(vgl §
29 Abs.
1 SGG).
Die im dargelegten Umfang zulässige Klage ist nicht begründet. Zwar erfüllte der Klägerin im Zeitraum vom 1. August 2014 bis
31. Januar 2015 die Grundvoraussetzungen nach § 7 SGB II, um Leistungen nach dem SGB II zu erhalten, auch hatte er rechtzeitig einen Fortzahlungsantrag auf Arbeitslosengeld II gestellt, jedoch lassen sich die
Tatbestandsvoraussetzungen des § 21 Abs. 5 SGB II in der hier anwendbaren, seit 1. Januar 2011 geltenden Fassung für einen Anspruch auf Mehrbedarf nicht feststellen.
Da § 20 SGB II keine im Einzelfall abweichende Bedarfsermittlung und -festsetzung zulässt, soll nach § 21 SGB II für bestimmte, laufende, aufgrund besonderer Lebensumstände bestehende Bedarfe, die nicht (ggf ausreichend) vom Regelbedarf
abgedeckt sind, Zugang zu zusätzlichen Leistungen eröffnet werden. Als einer dieser Mehrbedarfe soll der wegen kostenaufwändiger
Ernährung aus medizinischen Gründen nach § 21 Abs. 5 SGB II helfen, im Hinblick auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine Ernährung zu finanzieren, mit der
der Verlauf einer (bestehenden) gesundheitlichen Beeinträchtigung durch Abmilderung von deren Folgen, Verhinderung oder Hinauszögern
einer Verschlechterung oder deren (drohenden) Eintretens beeinflusst werden kann (vgl BSG, Urteil vom 10. Mai 2011 - B 4 AS 100/10 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 12 Rn 20). Unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs setzt der Anspruch auf einen Mehrbedarf nach
§ 21 Abs 5 SGB II zunächst eine erwerbsfähige, hilfebedürftige - also leistungsberechtigte - Person voraus, was bei dem Kläger der Fall ist.
Weitere Voraussetzungen sind medizinische Gründe, womit gesundheitliche Beeinträchtigungen gemeint sind, eine kostenaufwändige
Ernährung, ein Ursachenzusammenhang zwischen den medizinischen Gründen und der kostenaufwändigen Ernährung, ohne dass es auf
deren Einhaltung ankommt; hinzu kommt die Kenntnis der betreffenden Person von diesem medizinisch bedingten besonderen Ernährungsbedürfnis
(vgl BSG, Urteil vom 20. Februar 2014 - B 14 AS 65/12 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 17 Rn 16 mwN).
Schon die erstgenannte Voraussetzung "medizinische Gründe" vermag das Berufungsgericht nicht festzustellen. Aus dem vorgelegten
Attest von Dr. K lassen sich solche medizinischen Gründe nicht nachvollziehbar entnehmen, da schon nicht konkret zu ersehen
ist, gegen welche Stoffe im Einzelnen (welche) Unverträglichkeiten, zB Allergien, des Klägers bestehen sollen. Inwieweit ein
Ursachenzusammenhang zwischen den im Einzelnen nicht bezeichneten Unverträglichkeiten und einer kostenaufwändigen Ernährung
besteht, war daher ebenfalls nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar. Der Kläger hat an der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung
nicht mitgewirkt, obgleich er hierzu verpflichtet ist (vgl §
103 Satz 1
SGG). Er hat die erbetene Schweigepflichtsentbindungserklärung für Dr. K trotz mehrmaliger Erinnerung seitens des SG nicht vorgelegt, so dass dem Gericht weitere Ermittlungen durch Einholung einer ergänzenden Auskunft von Dr. K verwehrt waren.
Ohne entsprechende konkrete Anknüpfungstatsachen hat sich die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht aufgedrängt.
Auch unter Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes hängen die Möglichkeiten der Sozialgerichte, Informationen über den (aktuellen
oder früheren) Gesundheitszustand von Prozessbeteiligten zu erlangen, davon ab, dass diese die sie (aktuell oder früher) behandelnden
Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbinden. Die Pflicht zur Amtsermittlung hat das
SGG den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen, die ihr unabhängig vom Willen und der Interessenlage der Prozessbeteiligten
zu entsprechen haben. Damit unvereinbar wäre es - dies schwebt offensichtlich dem Kläger vor -, dass Ermittlungen zum Sachverhalt
durch einen Prozessbeteiligten nach dessen Gutdünken gesteuert werden bzw dieser vorgibt (vgl etwa Schriftsatz vom 13. Dezember
2016), wie vorliegende Unterlagen zu werten seien.
Zudem ist auf Folgendes zu verweisen: Ausgehend von der Konkretisierung des Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung
in Relation zum Regelbedarf ist kostenaufwändiger iSd § 21 Abs. 5 SGB II eine Ernährung, die von dem im Regelbedarf umfassten typisierten Bedarf abweicht und von diesem nicht gedeckt ist (vgl BSG aaO Rn 19). Da die Vollkosternährung vom Regelbedarf gedeckt ist, besteht eine kostenaufwändige Ernährung iSd § 21 Abs. 5 SGB II grundsätzlich nur bei einer besonderen, von der Vollkost abweichenden kostenaufwändigeren Ernährung(sform). Die Ernährung
mit biologisch erzeugten Lebensmitteln ist jedoch als solche keine von der Vollkost abweichende Ernährungsform. Es ist allgemein
bekannt (vgl zur allgemeinkundigen Tatsache BSG, Urteil vom 5. März 2002 - B 2 U 27/01 R - juris), dass auch in biologisch erzeugten - insbesondere verarbeiteten - Lebensmitteln Hilfsstoffe, Konservierungsmittel
und Geschmacksverstärker enthalten sein können (vgl etwa die Auflistung erlaubter Lebensmittelzusatzstoffe auf der Internetpräsenz
des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V.). Im Gegenzug existieren auch im konventionellen Bereich sowohl
unverarbeitete als auch verarbeitete Lebensmittel, die keine Zusatzstoffe aufweisen, und die insoweit eine Vollkost als Regelernährung
unter Meidung dieser Zusatzstoffe ermöglichen, insbesondere durch unverarbeitetes frisches Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.