Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung einer Divergenz
Gründe:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 1. August bis 30. September 2007 bzw. eine Erstattung von 328,12 EUR streitig.
Die Nichtzulassungsbeschwerde mit dem Antrag, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. November 2011
zuzulassen, ist zulässig. Sie ist insbesondere innerhalb der Frist des §
145 Abs.
1 S. 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingelegt worden.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch nicht begründet.
Zunächst ist festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Beschränkung der Berufung nach §
144 Abs.
1 SGG erfüllt sind. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt nicht die Grenze von 750,00 EUR (§
144 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGG in der ab dem 1. April 2008 geltenden Fassung), denn der angefochtene Bescheid vom 19. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 22. April 2008 regelt für die Monate August und September 2007 Anspruch auf Leistungen in Höhe von 488,53 EUR (August)
sowie von 474,75 EUR (September) anstelle jeweils 645,70 EUR. Die Differenz beläuft sich auf den Erstattungsbetrag von 328,12
EUR. Die in §
144 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGG genannte Geldleistung erstreckt sich im Übrigen auch auf Ansprüche des Leistungsträgers gegen den Leistungsempfänger (vgl.
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG Kommentar, 10. Auflage, §
144 Rn. 10), so dass die Berufungsgrenze auch für Erstattungsforderungen bzw. Rückforderungen zu Unrecht bezogener Leistungen
gilt. Letztlich sind keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen von mehr als einem Jahr betroffen (§
144 Abs.
1 S. 2
SGG).
Die Zulässigkeit einer Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 23. November 2011 setzt mithin deren Zulassung
voraus. Die entsprechenden Voraussetzungen liegen indes nicht vor. Nach §
144 Abs.
2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung
des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts
abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel
geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3). Keine der Voraussetzungen der vorstehenden
Vorschrift ist erfüllt.
Soweit der Beklagte zunächst geltend gemacht hat, das Urteil des Sozialgerichts weiche vom geltenden Gesetz und der darauf
aufbauenden einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung ab, vermag ein behaupteter Gesetzesverstoß die Nichtzulassungsbeschwerde
von vornherein nicht zu begründen, denn eine fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall - so sie vorliegen sollte - unterfällt
gerade nicht den in §
144 Abs.
2 SGG enumerativ aufgezählten Zulassungsgründen. Darüber hinaus ist der Vortrag des Beklagten nicht geeignet, eine Divergenz zu
begründen. Abgesehen davon, dass es bereits an der eindeutigen Bezeichnung der Entscheidung mangelt, von der abgewichen sein
soll (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO. § 160 Rn. 11c), und der abstrakte Hinweis auf ein Abweichen von der "einheitlichen
obergerichtlichen Rechtsprechung" nicht ausreicht, sind die Voraussetzungen einer Divergenz im Sinne des §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG nicht erfüllt. Danach setzt Divergenz ein Abweichen von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats
der obersten Gerichtshöfe des Bundes, des Bundesverfassungsgerichts oder des Landessozialgerichts, also des Berufungsgerichts
- hier des Hessischen Landessozialgerichts - voraus. Eine Abweichung von einer Entscheidung eines anderen Landessozialgerichts
reicht dagegen nicht aus (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO., § 144 Rn. 30; Bundestags-Drucksache - BT-Drucks. - 12/1217,
Seite 52). Davon ausgehend ist hier nicht ersichtlich, dass das Sozialgericht von einer Entscheidung eines der genannten Gerichte
abgewichen ist. Erforderlich ist insoweit, dass ein abstrakter Rechtssatz im Urteil des Sozialgerichts und ein der Entscheidung
eines der genannten Gerichte zu entnehmender abstrakter Rechtssatz nicht übereinstimmen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO.,
§ 160 Rn. 13 m.w.N.). Der Beklagte hat im Wesentlichen geltend gemacht, die persönliche Vorsprache der Klägerinnen zu 1. und
3. vom 22. November 2007 erfülle nicht die Voraussetzungen eines schriftlichen oder zur Niederschrift erklärten Widerspruches,
sondern sei allenfalls als mündliche und damit unwirksame Widerspruchserhebung zu werten. Soweit das Sozialgericht diesen
mündlichen Widerspruch gleichwohl als wirksam eingelegt angesehen habe, weiche es von der obergerichtlichen Rechtsprechung
ab. Dem vermag der Senat nicht zu folgen, denn das Sozialgericht hat erkennbar darauf abgestellt, dass die Klägerinnen zu
1. und 3. bei ihrer Vorsprache deutlich zum Ausdruck gebracht haben, sie seien mit dem Änderungsbescheid nicht einverstanden.
Mithin ist das Sozialgericht von einem Sachverhalt ausgegangen, der auf eine Widerspruchserhebung zur Niederschrift bei der
Behörde - allerdings ohne Unterschrift der Klägerin zu 1. - schließen lässt. Es hat damit gerade nicht den abstrakten Rechtssatz
aufgestellt, im Rahmen der vorliegenden Konstellation genüge die mündliche Erhebung des Widerspruches den in §
84 Abs.
1 S. 1
SGG aufgestellten Formerfordernissen. Soweit die Frage des Erfordernisses einer Unterschrift unter der Niederschrift angesprochen
und das Sozialgericht offenkundig davon ausgegangen ist, dass es einer Unterschrift nicht bedarf, ist ein Abweichen von einer
Entscheidung eines der genannten Gerichte nicht ersichtlich. Insoweit ist bislang keine entsprechende Entscheidung ergangen,
in der die Unterschrift des Widerspruchsführers unter der Niederschrift als erforderlich angesehen worden ist. Eine solche
Entscheidung widerspräche auch der in der Literatur ganz überwiegend vertretenen Meinung, wonach eine Unterschrift des Widersprechenden
unter der Niederschrift - wie auch eines Klägers unter der Niederschrift zur Klageerhebung bzw. Berufungsführers unter der
Niederschrift zur Berufungseinlegung - nicht erforderlich ist (vgl. Peters/Sautter/Wolf, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit,
4. Aufl., §§
84 Anm. 3, 90 Anm. 2, 151 Rn. 78; Hennig,
SGG Kommentar, Stand Sept. 2012, §§
84 Rn. 7, 90 Rn. 50, 151 Rn. 53; Breitkreuz/Fichte,
SGG Kommentar, §§
84 Rn. 5, 90 Rn. 8, 151 Rn. 23; Jansen,
SGG, 3. Aufl., §§
84 Rn. 1, 90 Rn. 12; Lüdtke,
SGG Kommentar, 4. Aufl., §§
84 Rn. 4, 90 Rn. 6, 151 Rn. 18; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO., §§ 84 Rn. 3b, 90 Rn. 6, 151 Rn. 3g, m.w.N.; vgl. im Übrigen
Hintz/Lowe,
SGG Kommentar, §§
84 Rn. 6, 90 Rn. 11, wonach die Niederschrift zu genehmigen sei, z.B. durch Unterschriftsleistung). Nach allem ist ein Abweichen
des Sozialgerichts von der Rechtsprechung der in Betracht kommenden Gerichte, soweit es offenkundig von einem wirksam zur
Niederschrift erklärten Widerspruch ausgegangen ist, gerade nicht gegeben, so dass die Voraussetzungen für eine Divergenz
gemäß §
144 Abs.
2 Nr.
2 SGG nicht erfüllt sind.
Weiter kann aus dem Vortrag des Beklagten eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des §
144 Abs.
2 Nr.
1 SGG nicht abgeleitet werden. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn die Streitsache eine bisher ungeklärte Rechtsfrage
aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts
zu fördern. Hiervon ist zu Gunsten des Beklagten gerade nicht auszugehen. Dieser hat im Verlauf des Beschwerdeverfahrens auch
die Auffassung vertreten, die Frage, ob ein Widerspruch mündlich eingelegt werden könne, ohne dass eine Unterschrift erfolge,
habe grundsätzliche Bedeutung. Vorliegend geht es jedoch nicht - wie ausgeführt - um die Frage eines lediglich mündlich aber
gleichwohl als wirksam behandelten Widerspruches, sondern im Wesentlichen darum, ob eine im Rahmen einer persönlichen Vorsprache
- bei der den Verwaltungsakt erlassenden Stelle - abgegebene Erklärung als wirksame Widerspruchserhebung zu werten ist, auch
wenn der Widersprechende den hierüber gefertigten Aktenvermerk nicht unterschrieben hat. Diese Frage ist angesichts der ausgeführten
und ganz überwiegend einhelligen Kommentarliteratur und mangels entgegenstehender höchstrichterlicher Rechtsprechung als geklärt
anzusehen. Hierbei ist auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Zulässigkeit der Berufung trotz fehlender Unterschrift
im Berufungsschriftsatz zu beachten, wonach eine Unterschrift dann entbehrlich ist, wenn sich Urheberschaft und Äußerungswille
hinreichend sicher ergeben (BSG, Beschluss vom 15. Oktober 1996, B 14 Beg 9/96, Urteile vom 6. Mai 1998, B 13 RJ 85/97 R m.w.N. sowie vom 16. November 2000, B 13 RJ 3/99 R). Steht unter den dort genannten Voraussetzungen eine fehlende Unterschrift dem Schriftlichkeitserfordernis des §
151 Abs.
1 SGG und damit der Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht entgegen, muss dies erst recht für die Widerspruchserhebung zur Niederschrift
gemäß §
84 Abs.
1 S. 1
SGG gelten, weil insofern keine strengeren Anforderungen gestellt werden können als im gerichtlichen Verfahren und ohnehin im
Falle einer persönlichen Vorsprache Urheberschaft und Äußerungswille im Hinblick auf die Widerspruchserhebung außer Zweifel
stehen. Ist damit die aufgeworfene Rechtsfrage als geklärt anzusehen, vermag daran die von dem Beklagten genannte Entscheidung
(Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 22. März 2010, L 9 B 16/10 SO ER) nichts zu ändern. Soweit mit dieser Entscheidung im konkreten (Eil-) Verfahren das Vorliegen eines Widerspruchs zur
Niederschrift mit der Begründung verneint worden ist, der über die persönliche Vorsprache gefertigte Vermerk sei nicht unterschrieben
worden, handelt es sich um eine Einzelmeinung, die sich mit der zitierten Rechtsliteratur nicht auseinandersetzt. Nach alledem
vermag der Senat eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des §
144 Abs.
2 Nr.
1 SGG nicht zu bejahen.
Letztlich liegt auch kein relevanter Verfahrensmangel vor, der nach §
144 Abs.
2 Nr.
3 SGG zu berücksichtigen wäre. Insofern hat der Beklagte eine entsprechende Rüge auch nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§
177 SGG).