Soziale Pflegeversicherung - Feststellung eines Pflegegrades auf Grundlage eines Telefoninterviews - Anforderungen an einen
Besserungsnachweis
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten zum einen um die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe des Antragstellers gegen einen Bescheid
der Antragsgegnerin, mit welchem die zuvor bewilligten Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2 wieder
entzogen worden sind, zum anderen um die Kostenübernahme für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds und
um Leistungen nach einem höheren Pflegegrad im Wege der einstweiligen Anordnung.
Der 1951 geborene, bei der Antragsgegnerin gesetzlich pflegeversicherte Antragsteller beantragte im April 2020 Leistungen
bei der Antragsgegnerin, welche ihm mit Bescheid vom 3. Juni 2020 in Form von Pflegegeld in Höhe von 316 EUR monatlich (Pflegegrad
2) ab dem 27. April 2020 bewilligt wurden. Dem lag ein Gutachten des MDK nach Aktenlage und aufgrund einer telefonischen Befragung
vom 26. Mai 2020 zugrunde, in welchem insgesamt 37,5 Gesamtpunkte im Sinne von §
15 Abs.
3 SGB XI festgestellt worden waren. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Gutachtens Bezug genommen. Einem späteren Gutachten
des MD lässt sich entnehmen, dass bei einer Begutachtung im Februar 2019 anlässlich eines früheren Antrags noch kein Pflegegrad
festgestellt werden konnte. Gleiches gelte für das im Rahmen des nachfolgenden Widerspruchsverfahrens erstellten Gutachten.
Die erwähnten Vorgutachten sind nicht aktenkundig.
Neben der Versorgung mit einem Pflegebett beantragte der Antragsteller im Dezember 2020 auch einen Zuschuss für Maßnahmen
zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds im Sinne von §
40 Abs.
4 SGB XI (Beseitigung von Türschwellen, barrierefreier Umbau der Dusche, Rollstuhlrampe zur Wohnung). Mit Schreiben vom 10. Februar
2021 sicherte die Antragsgegnerin einen Zuschuss in Höhe von 4.000 EUR für Umbaumaßnahmen zu und bat um Übersendung entsprechender
Rechnungen, damit die Höhe des Zuschusses endgültig berechnet werden könne. Nachfolgend übersandte die Ehefrau des Antragstellers
die Rechnung einer Bauschlosserei aus April 2021 über den Einbau einer Rollstuhlrampe für ca. 6.000 EUR brutto, woraufhin
die Antragsgegnerin den zugesagten Zuschuss in voller Höhe unmittelbar an die Bauschlosserei auszahlte. Nachdem der Antragsteller
mehrfach auf die weiteren nach seiner Auffassung erforderlich Umbaumaßnahmen hingewiesen hatte, lehnte die Antragsgegnerin
mit Bescheid vom 29. Juni 2021 die Gewährung weiterer Zuschüsse ab, da der Anspruch ausgeschöpft sei und der Zuschuss nur
einmalig zustehe, nicht jedoch je Maßnahme. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Antragstellers vom 28. Juli 2021 wies
die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2021 zurück. Die hiergegen beim Sozialgericht Rostock am 6. September
2021 erhobene Klage ist unter dem Az. S 16 P 36/21 noch anhängig.
In einem Gutachten vom 26. Juli 2021 gelangte der MD im Rahmen einer Wiederholungsbegutachtung zu der Einschätzung, dass beim
Antragsteller lediglich die Voraussetzungen von Pflegegrad 1 erfüllt seien. Die Vorbegutachtung sei im Rahmen der SARS-Cov
2 Pandemie im Wege des Telefoninterviews erfolgt. Im Hausbesuch habe sich eine abweichende Pflegesituation dargestellt. Es
sei von 12,5 Gesamtpunkten auszugehen Die Rückstufung werde zum Begutachtungsdatum empfohlen.
Ohne vorherige Anhörung des Antragstellers hob die Antragsgegnerin die „Genehmigung über den Pflegegrad 2 vom 03.06.2020“
mit Bescheid vom 28. Juli 2021 auf. Ab dem 1. September 2021 seien Leistungen nur noch nach Pflegegrad 1 zu gewähren. Nach
Einschätzung des MD habe der Antragsteller seine Selbständigkeit zum Teil zurückerlangt; der Hilfebedarf habe sich von 37,5
auf 12,5 Gesamtpunkte gesenkt. Für den Pflegegrad 2 seien aber wenigstens 27 Gesamtpunkte erforderlich.
Hiergegen erhob der Antragsteller am 29. Juli 2021 Widerspruch, welchen die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 16.
August 2021 zurückwies. Der jetzt festgestellte niedrigere Pflegegrad sei darauf zurückzuführen, dass sich die Pflegesituation
bei der Begutachtung in der Häuslichkeit abweichend von der anlässlich der Vorbegutachtung in einem Telefoninterview ermittelten
Situation darstelle.
Hiergegen hat der Antragsteller am 6. September 2021 bei dem Sozialgericht Rostock Klage erhoben (S 16 P 37/21), welche noch anhängig ist.
In einem ersten Eilantrag an das Sozialgericht Rostock vom 3. August 2021 wandte sich der Antragsteller gegen die Aberkennung
des Pflegegrades 2 und begehrte die Gewährung der beantragten Umbauten. Zudem machte er die Höherstufung nach Pflegegrad 3
geltend. Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 3. September 2021 mit der Begründung abgelehnt, dass es hinsichtlich
der „Herabstufung“ in den Pflegegrad 1 keines einstweiligen Rechtsschutzes bedürfe, da dem Widerspruch aufschiebende Wirkung
zukomme und dass mangels bislang gegen den Widerspruchsbescheid erhobener Klage die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer
Klage nicht in Betracht komme. Für eine einstweilige Anordnung hinsichtlich der Umbaumaßnahme sei ein entsprechender Anordnungsanspruch
nicht ersichtlich, da ein Zuschuss nach §
40 Abs.
4 SGB XI bereits gewährt worden sei und ein erneuter Zuschuss erst bei objektiver Änderung des Pflegebedarfs in Betracht komme. Für
einen höheren Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege (Höherstufung nach Pflegegrad 3) sei ebenfalls nichts ersichtlich,
da auch nach eigenen Angaben des Antragstellers die erforderliche Gesamtpunktzahl von 47,5 nicht erreicht werde, was im Einzelnen
ausgeführt wurde und worauf ergänzend Bezug genommen wird.
Gegen den ihm am 7. September 2021 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 7. Oktober 2021 die vorliegende Beschwerde
erhoben.
Ebenfalls am 7. Oktober 2021 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Rostock einen weiteren Eilantrag gestellt und erneut
die aufschiebende Wirkung seiner Rechtsbehelfe gegen die Entziehung des Pflegegrades 2 begehrt, da die Leistungen von der
Antragsgegnerin am 31. August 2021 eingestellt worden seien.
Das Sozialgericht hat den Eilantrag mit Beschluss vom 19. Oktober 2021 abgelehnt. Der Antrag sei im Hinblick auf das anhängige
Beschwerdeverfahren wegen doppelter Rechtshängigkeit bereits unzulässig. Das Verfahren über die hiergegen am 25. Oktober 2021
erhobene Beschwerde (L 6 P 13/21 B ER) hat der Senat mit Beschluss vom 30. November 2021 zur gemeinsamen Entscheidung zum vorliegenden Verfahren verbunden.
Der Senat hat die Antragsgegnerin darauf hingewiesen, dass Zweifel am Vorliegen eines Besserungsnachweises bestünde, der den
vorliegenden sozialmedizinischen Gutachten eher nicht zu entnehmen sei. Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 5. Januar
2022 erwidert, dass keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass das Gutachten, welches zur Leistungsbewilligung nach Pflegegrad
2 geführt habe, fehlerhaft erstellt worden sei. Es beruhe auf den Angaben des Antragstellers in einem strukturierten Telefoninterview.
Da bei der persönlichen Begutachtung im Juli 2021 nur noch die Voraussetzungen von Pflegegrad 1 festgestellt worden seien,
müsse es zu einer Verbesserung des Zustands, mithin zu einer wesentlichen Änderung im Sinne von § 48 SGB X gekommen sein. Zudem sei § 48 SGB X auch auf von Anfang an rechtswidrige Verwaltungsakte anwendbar, wenn eine wesentliche Veränderung eintrete (Hinweis auf BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R).
II.
Die Beschwerden sind zulässig und teilweise begründet.
Das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers ist zum einen als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der bei dem
Sozialgericht Rostock erhobenen Klage – S 16 P 37/21 – gegen den Bescheid vom 28. Juli 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2021 auszulegen. Nach §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben,
die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Klage des Antragstellers kommt vorliegend (anders als seinem Widerspruch)
gemäß §
86a Abs.
2 Nr.
3 SGG keine aufschiebende Wirkung zu.
Bei seiner Entscheidung hat das Gericht das Interesse des Antragsgegners, den streitigen Bescheid zu vollziehen, und das Interesse
des hierdurch belasteten Antragstellers, die Vollziehung vorläufig auszusetzen, gegeneinander abzuwägen, wobei insbesondere
die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen sind. An der Vollziehung eines (offensichtlich) rechtswidrigen
Verwaltungsaktes kann dabei regelmäßig kein überwiegendes Interesse bestehen.
Der „Herabstufungsbescheid“ der Antragsgegnerin vom 28. Juli 2021 ist offensichtlich rechtswidrig. Keineswegs entscheidend
ist insoweit, dass nach den Feststellungen des MD anlässlich des Hausbesuchs im Juli 2021 die Voraussetzungen des Pflegegrades
2 beim Antragsteller tatsächlich nicht vorlagen. Auch der Senat hat hieran – jedenfalls derzeit – keine erheblichen Zweifel.
Für die Rechtmäßigkeit der Entziehungsentscheidung ist das Unterschreiten des für den Pflegegrad 2 erforderlichen Mindestpunktwerts
zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung. Vielmehr beurteilt sich die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entziehungsentscheidung
nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Hiernach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die
angegriffenen Bescheide der Antragsgegnerin, die sich auf § 48 SGB Abs. 1 Satz 1 X stützen, setzen mithin eine wesentliche
Veränderung der Verhältnisse im Sinne einer Reduzierung des Pflegebedarfs voraus. Dabei sind die zum Zeitpunkt der Aufhebung
bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit denjenigen zu vergleichen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorgelegen
haben, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind. Eine derartige Änderung ist keineswegs bereits
dann anzunehmen, wenn bei unveränderten tatsächlichen Verhältnissen lediglich eine abweichende Beurteilung des resultierenden
Hilfebedarfs vorgenommen wird. Dabei ist zu beachten, dass die Antragsgegnerin, die sich auf eine Änderung der Verhältnisse
beruft, grundsätzlich die objektive Beweislast hierfür trägt, also für eine (positive) Abweichung des späteren Zustands von
dem früheren (sog. Besserungsnachweis, vgl. BSG, Urteil vom 07. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R). Die Annahme einer „wesentlichen" Änderung setzt zunächst voraus, dass überhaupt eine Änderung der Verhältnisse feststellbar
ist. Dabei besteht insbesondere keine allgemeine Beweisvermutung des Inhalts, dass die Verwaltung ihre ursprüngliche Entscheidung
rechtmäßig getroffen hat und dass die dieser Entscheidung zugrundeliegende sachverständige Feststellung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit
zutreffend war (vgl. zum alten Recht Urteil des Senats vom 08. Mai 2018 – L 6 P 3/13 – juris).
Nach den Ausführungen im Gutachten des MD aus Juli 2021 ist es hier mehr als nur wahrscheinlich, dass es keineswegs zu einer
Zustandsverbesserung gekommen ist, sondern dass vielmehr die vorangegangene, unter Corona-Bedingungen telefonisch erfolgte
Begutachtung auf objektiv unzutreffenden Angaben des Antragstellers beruhte, welche ohne nähere kritische Prüfung der Feststellung
der Pflegebedürftigkeit zugrunde gelegt worden ist. Wörtlich heißt es im Gutachten der Pflegefachkraft ... vom 26. Juli 2021
etwa:
„Die Vorbegutachtung erfolgte im Telefoninterview im Rahmen der Corona SARS-CoV 2 Pandemie. Im Hausbesuch stellt sich eine
abweichende Pflegesituation dar, welche detailliert im Befund dargestellt wurde. Die Bewertung wurde in den einzelnen Modulen
entsprechend angepasst.“ (Seite 11 des Gutachtens)
Dabei bleibt auch bei wiederholtem Studium beider Gutachten indes unklar, welche konkreten Hilfebedarfe im ersten Gutachten
aufgrund welcher Angaben des Antragstellers angenommen worden sind, die sich im Nachhinein als unrichtig herausgestellt haben
sollen. Aus den Feststellungen der Gutachterin ergeben sich jedenfalls keinerlei Anhaltspunkte für eine im Zeitraum zwischen
Mai 2020 und Juli 2021 eingetretene Zustandsverbesserung. Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, wie sie
§ 48 Abs. 1 SGB X verlangt, lässt sich mithin nicht feststellen.
Dabei kann dahinstehen, ob die im Gutachten aus Mai 2020 angenommenen Befunde und Feststellungen zur Selbständigkeit auf bewusst
oder zumindest grob fahrlässig wahrheitswidrigen Angaben des Antragstellers beruhen. Die Antragsgegnerin hat die Aufhebung
der Leistungsbewilligung nicht wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit auf § 45 SGB X gestützt. Eine nachträgliche Auswechslung der Rechtsgrundlage kommt schon wegen der unterbliebenen, nach § 45 SGB X aber erforderlichen Ermessensausübung nicht in Betracht.
Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerde hingegen nicht lediglich die Wiederherstellung seiner zuvor durch Verwaltungsakt
eingeräumten Rechtsposition, sondern im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß §
86b Abs.
2 SGG weitere Leistungen (Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds, Leistungen nach Pflegegrad 3) begehrt, bleibt
seine Beschwerde erfolglos. Im Rahmen der im Eilverfahren gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung lassen sich weder
die Voraussetzungen des materiellen Anspruchs feststellen, noch ist ein Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) ausreichend glaubhaft
gemacht. Hinsichtlich der Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds wird zur Begründung auf die insoweit zutreffenden
Ausführungen des Sozialgerichts in dem angegriffenen Beschluss verwiesen, §
142 Abs.
2 Satz 3
SGG. Hinsichtlich höherer Leistungen bei häuslicher Pflege als nach Pflegegrad 2 ergibt sich dies bereits aus dem oben Gesagten,
wonach der Senat keine erheblichen Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des MD anlässlich des Hausbesuchs im Juli
2021 dahingehend hat, dass bereits die Voraussetzungen des Pflegegrades 2 beim Antragsteller tatsächlich nicht vorliegen.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.