Sozialgerichtliches Verfahren; Urteil trotz Erledigterklärung
1. Ein Urteil setzt zwingend ein rechtshängiges Verfahren voraus.
2. Ein Urteil, das in der Hauptsache ergeht, obwohl das Verfahren beendet ist, ist nichtig und damit wirkungslos (Anschluss
an BSG, Beschluss vom 7. September 1998 - B 2 U 10/98 R).
3. Ein nichtiges Urteil kann in formeller Rechtskraft erwachsen. Auf Grund dessen sind die allgemeinen Rechtmittel zulässig
(Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 10. April 2002 - 4 BN 12/02, 4 PKH 2/02).
4. Kosten, die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung eines Gerichts verursacht werden, dürfen den Parteien nicht zur Last
fallen und können daher der Staatskasse auferlegt werden.
Tatbestand:
Die Beteiligten begehren die Aufhebung des Gerichtsbescheides vom 24. Juni 2014 und die Feststellung, dass der Rechtsstreit
bereits zu einem früheren Zeitpunkt, dem 12. Dezember 2013, durch übereinstimmende Erledigterklärung beendet worden ist.
Der Kläger hat am 10. Oktober 2013 Untätigkeitsklage erhoben (Az. S 48 AS 6793/13), da über seinen Widerspruch vom 29. Mai 2013 gegen den Bescheid vom 23. Mai 2013 zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden
gewesen ist.
Mit Schriftsatz vom 26. November 2013 hat die Beklagte mitgeteilt, dass über den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid
vom 8. November 2013 entschieden worden sei und davon ausgegangen werde, dass sich die Untätigkeitsklage erledigt habe. Des
Weiteren erklärte sich der Beklagte dem Grunde nach zur Übernahme der notwendigen außergerichtlichen Kosten bereit.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 29. November 2013 ist der Klägerbevollmächtigte aufgefordert worden, bis zum 20. Dezember
2013 Stellung zu nehmen, ob das Kostengrundanerkenntnis des Beklagten angenommen und die Untätigkeitsklage für erledigt erklärt
werde.
Mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2013, übermittelt als elektronisches Dokument gemäß §
65a Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) an das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach des Sozialgerichts Dresden am 12. Dezember 2013, hat der Klägerbevollmächtigte
mitgeteilt, dass in Vollmacht des Klägers das Kostengrundanerkenntnis des Beklagten angenommen und der Rechtsstreit für erledigt
erklärt werde. Zugleich ist der Prozesskostenhilfeantrag zurückgenommen und ein Antrag auf Kostenfestsetzung gestellt worden.
Dieser am 12. Dezember 2013 beim Sozialgericht Dresden als elektronisches Dokument eingegangene Schriftsatz ist nicht zur
Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens Az. S 48 AS 6793/13 genommen worden. Vielmehr ist der Klägerbevollmächtigte an die Erledigung des gerichtlichen Schreibens vom 29. November 2013
mit Schreiben vom 2. Januar 2014 und 5. Februar 2014 erinnert worden. Mit Schriftsatz vom 26. Februar 2014 hat der Klägerbevollmächtigte
dem Sozialgericht mitgeteilt, dass die Erledigung der gerichtlichen Anfrage sowie die Annahme des Kostengrundanerkenntnisses
und die Erledigterklärung zum Rechtsstreit bereits mit elektronischem Dokument vom 12. Dezember 2013 an das Sozialgericht
Dresden übersandt worden sei. Auch dieses Dokument ist nicht in die sozialgerichtliche Akte gelangt.
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 24. Juni 2014 die Klage abgewiesen und den Beklagten zur Übernahme der notwendigen
außergerichtlichen Kosten des Klägers verurteilt.
Hiergegen hat der Klägerbevollmächtigte am 1. Juli 2014 Berufung eingelegt. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb das Sozialgericht
mit Gerichtsbescheid entschieden habe, da der Rechtsstreit bereits zuvor durch übereinstimmende Erledigterklärungen der Beteiligten
beendet worden sei.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 24. Juni 2014 aufzuheben und festzustellen, dass das Klageverfahren Az.
S 48 AS 6793/13 in der Hauptsache erledigt ist.
Der Beklagte, der in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten gewesen ist, hat schriftsätzlich erklärt, erstaunt zu sein,
dass das Sozialgericht einen Gerichtsbescheid erlassen habe, obgleich die Untätigkeitsklage durch Anerkenntnis und übereinstimmende
Willenserklärungen hinsichtlich der Kostenlastverhältnisse formell beendet worden sei und sich der Beklagte auch zur Übernahme
der Kosten bereit erklärt habe. Er bitte um eine sachgerechte Lösung.
Der Senat hat darauf hin die Gerichtsakte an das Sozialgericht übersandt mit der Bitte zu prüfen, ob eine Erledigterklärung
des Klägers dem Sozialgericht vorliege. In diesem Falle werde um eine Vervollständigung der Akten gebeten.
Das Sozialgericht hat mit Schriftsatz vom 15. Dezember 2014 mitgeteilt, dass sich die Schriftsätze des Klägerbevollmächtigte
vom 12. Dezember 2013 und 26. Februar 2014 nach nochmaliger Überprüfung zwar in der Dokumentenliste befunden hätten, diese
allerdings nie ausgedruckt worden seien und sich deshalb nicht in der Gerichtsakte befunden hätten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die
Gerichtsakten und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
I. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Beklagten verhandeln und entscheiden, weil er hierauf in der Ladung hingewiesen
worden ist (vgl. §
153 Abs.
1 i. V. m. §
110 Abs.
1 Satz 2 des
Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).
II. Die Berufung ist zulässig und begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 24. Juni 2014 ist nichtig.
Gemäß §
123 SGG wird über die Klage, soweit nichts anderes bestimmt ist, durch Urteil entschieden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass
ein Urteil zwingend ein rechtshängiges Klageverfahren voraussetzt. Ein Rechtsstreit wird unter anderem durch übereinstimmende
Erledigterklärungen beendet (vgl. §
202 Satz 1
SGG i. V. m. §
91a Abs.
1 Satz 1 der
Zivilprozessordnung [ZPO]), wodurch sogleich auch die Rechtshängigkeit ihr Ende findet (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz [11. Aufl., 2014], §
94 Rdnr. 4). Ein Urteil, das gleichwohl in der Hauptsache ergeht, obwohl das Verfahren beendet ist, ist nichtig und damit wirkungslos
(vgl. BSG, Beschluss vom 7. September 1998 - B 2 U 10/98 R - SozR 3-1500 § 193 Nr. 10 = JURIS-Dokument Rdnr. 7; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Dezember 2011 - L 34 AS 1892/11 B ER - JURIS-Dokument Rdnr. 19; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz [11. Aufl., 2014], §
125 Rdnr. 5b, m. w. N.; zur
VwGO: Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier,
Verwaltungsgerichtsordnung [26. Erg.-Lfg., März 2014], §
92 Rdnr. 36, m. w. N.).
Ein nichtiges Urteil kann in formeller Rechtskraft erwachsen (vgl. Keller, aaO., Rdnr. 5c). Auf Grund dessen sind die allgemeinen
Rechtmittel zulässig (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. April 2002 - 4 BN 12/02, 4 PKH 2/02 - NVwZ 2002, 990 [991] = JURIS-Dokument Rdnr. 3 ff.; Keller, aaO.; Clausing, aaO.). Neben dem Antrag, das nichtige Urteil aufzuheben, kann
aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit beantragt werden, die Nichtigkeit des Urteils festzustellen (vgl.
Keller, aaO.). In Anlehnung an einen Streit darüber, ob ein Gerichtverfahren prozessrechtlich wirksam beendet worden ist (vgl.
hierzu Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz [11. Aufl., 2014], §
102 Rdnr. 12, m. w. N.), kann aber auch die Feststellung begehrt werden, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist.
Aus diesem Grund war antragsgemäß zusätzlich zur Aufhebung des streitbefangenen Gerichtsbescheides auch die Feststellung über
die Erledigung des Klageverfahrens zu treffen.
II. Die Kosten sind vorliegend nicht dem Gegner des erstinstanzlichen Verfahrens, dem Beklagten, aufzuerlegen. Sie sind vielmehr
von der Staatskasse zu tragen. Dies ergibt sich aus einer Zusammenschau von verschiedenen kostenrechtlichen Regelungen.
So werden gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) Kosten, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären, nicht erhoben. Gemäß §
155 Abs.
5 der
Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO) und § 135 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) können die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das
Verschulden eines Beteiligten entstanden sind. Gemäß §
162 Abs.
3 VwGO und § 139 Abs. 4 FGO sind die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen nur erstattungsfähig, wenn sie das Gericht aus Billigkeit der unterliegenden
Partei oder der Staatskasse auferlegt. Nach Maßgabe der zuletzt genannten Regelungen sind die Kosten des Beigeladenen der
Staatskasse in der Regel aufzuerlegen, wenn die Beiladung sachlich nicht gerechtfertigt war (vgl. z. B. Olbertz, in Schoch/Schneider/Bier,
Verwaltungsgerichtsordnung [26. Erg.-Lfg., März 2014], §
162 Rdnr. 94, m. w. N.; Kopp/Schenke,
Verwaltungsgerichtsordnung [20. Aufl. 2014], §
162 Rdnr. 24), mithin bei unrichtiger Sachbehandlung.
In der Rechtsprechung und der Kommentarliteratur wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass die genannten Regelungen
im Fall einer unrichtigen Sachbehandlung wegen ihres Ausnahmecharakters nicht analog angewandt werden könnten (vgl. z. B.
die umfangreichen Nachweise bei VG Berlin, Beschluss vom 4. Januar 2012 - 35 KE 10.11, 37 A 31.08 - JURIS-Dokument Rdnr. 2). Der erkennende Senat entnimmt diesen Regelungen jedoch den allgemeinen Rechtsgedanken, dass Kosten,
die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung eines Gerichts verursacht werden, den Parteien nicht zur Last fallen dürfen und
daher der Staatskasse auferlegt werden können (vgl. auch Kopp/Schenke,
Verwaltungsgerichtsordnung [20. Aufl. 2014], §
155 Rdnr. 24).
III. Gründe für die Zulassung der Revision (vgl. §
160 Abs.
2 SGG) liegen nicht vor.