Kürzung eines Dienstbeschädigungsausgleichs
Anspruch auf Dienstbeschädigungsteilrente
Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit
Dienstbeschädigungsausgleich ist keine einkommensabhängige Leistung
Tatbestand
Der 1948 geborene Kläger wendet sich gegen die Kürzung des an ihn zu zahlenden Dienstbeschädigungsausgleichs ab dem 1. Dezember
2004.
Mit Schreiben vom 18. Juli 1990 stellte der Leiter der Verwaltung medizinische Dienste und Vorsitzende der Beschwerdekommission
beim Ministerium des Innern gegenüber dem Kläger fest, dass die bei ihm bestehenden Wirbelsäulenveränderungen mit einem Körperschaden
von 30 % als Dienstbeschädigung aufgrund seines Dienstes in der Deutschen Volkspolizei anzuerkennen sei. Nach Ablehnung der
Zahlung einer Dienstbeschädigungsteilrente durch Bescheid des Thüringer Polizeiverwaltungsamtes vom 6. Juni 1996 und erfolglos
durchgeführtem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 5. August 1996) hat das Sozialgericht Gotha mit rechtskräftig
gewordenem Urteil vom 19. November 1998 den Beklagten verurteilt, dem Kläger eine Dienstbeschädigungsteilrente ab 7. Mai 1990
bis 31. Dezember 1996 und einen Dienstbeschädigungsausgleich seit dem 1. Januar 1997 in gesetzlicher Höhe aufgrund eines Körperschadens
von 30 % zu gewähren. Daraufhin gewährte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 31. Mai 1999 für den Zeitraum 7. Mai 1990
bis 31. Dezember 1996 eine Dienstbeschädigungsteilrente und ab dem 1. Januar 1997 einen Dienstbeschädigungsausgleich entsprechend
des festgestellten Körperschadens i. H. v. 30 %. Für den Zeitraum 7. Mai 1990 bis 31. Juli 1999 erfolgte eine Nachzahlung
i. H. v. 39.170,26 DM und ab 1. August 1999 wurde ein Dienstbeschädigungsausgleich i. H. v. monatlich 403,50 DM gewährt. Mit
Bescheid vom 25. Mai 2000 wurde unter Aufhebung des bisher gültigen Bescheides der Dienstbeschädigungsausgleich mit Wirkung
zum 1. Juli 2000 auf monatlich 404,71 DM festgesetzt. Zugleich wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass mit Beginn einer
Rente, spätestens jedoch ab dem 65. Lebensjahr, eine Neubewertung nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über einen Dienstbeschädigungsausgleich
(DbAG) erfolge und er daraus evtl. sich ergebende Überzahlungen zurückzuzahlen habe. In einem Fragebogen vom 14. Februar 2001
verneinte der Kläger die Gewährung einer Unfallrente bzw. eines Dienstbeschädigungsausgleichs von anderen Behörden. Er verpflichtete
sich, den Beginn einer Rente der gesetzlichen Unfallversicherung, der gesetzlichen Rentenversicherung oder den Beginn einer
Zahlung eines anderweitigen Dienstbeschädigungsausgleichs unverzüglich anzuzeigen. Durch Bescheid vom 20. Juni 2007 setzte
der Beklagte unter Aufhebung des bisher gültigen Bescheides den Dienstbeschädigungsausgleich mit Wirkung vom 1. Juli 2007
i. H. v. 213,97 Euro monatlich fest. Den beigefügten Fragebogen hinsichtlich des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
oder einer ähnlichen Leistung öffentlich-rechtlicher Art füllte der Kläger am 11. Juli 2007 dahingehend aus, dass er eine
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beziehe. Beigefügt war eine Kopie des Rentenbescheides der Deutschen Rentenversicherung
Mitteldeutschland vom 20. Dezember 2005, wonach dem Kläger aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs vom 29. November 2005 rückwirkend
ab dem 1. Dezember 2004 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt wurde. Daraufhin verfügte der Beklagte am 24. Juli
2007 die Änderung einer laufenden Zahlung nach § 9 AAÜG. Ausgezahlt wurden dem Kläger ab September 2007 statt bisher 213,97 Euro nur noch 105 Euro Dienstbeschädigungsausgleich.
Durch Bescheid vom 1. August 2007 setzte der Beklagte den Dienstbeschädigungsausgleich ab 1. Dezember 2004 auf monatlich 104
Euro und ab 1. Juli 2007 auf monatlich 105 Euro neu fest. Der überzahlte Betrag i. H. v. 3.609,03 Euro sollte ab Oktober 2007
mit dem Anspruch auf Dienstbeschädigungsausgleich verrechnet werden. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass durch den Bezug
einer Rente die Besitzstandswahrung gemäß § 2 Abs. 2 DbAG nicht mehr gegeben sei. Ein Widerspruch des Klägers vom 10. August
2007, mit welchem er unter anderem eine fehlende Anhörung rügte, wurde durch Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2007 zurückgewiesen.
Entsprechend § 11 Abs. 5 Satz 2 AAÜG sei neben einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit die Dienstbeschädigungsteilrente nicht mehr zu gewähren. Daher
entfalle ab 1. Dezember 2004 der Anspruch auf Besitzschutz, und der Dienstbeschädigungsausgleich sei entsprechend § 2 Abs.
1 DbAG zu zahlen. Von einer Anhörung sei gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 5 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) abgesehen worden, da die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit als Erwerbsersatzeinkommen gemäß § 18a Abs. 3 Nr. 2 des
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VI) Berücksichtigung gefunden habe. Zudem sei die mangelnde Anhörung durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens geheilt
worden.
Hiergegen hat der Kläger am 6. November 2007 beim Sozialgericht Gotha Klage erhoben. In einem Erörterungstermin am 25. März
2010 hat sich die Beklagte auf § 48 SGB X als Rechtsgrundlage des Bescheides berufen. Zugleich hat sie erklärt, dass die Feststellung des Überzahlungsbetrages im Bescheid
vom 1. August 2007 keine Gültigkeit habe. Die Höhe der Feststellung der Überzahlung bzw. einer daraus resultierenden Erstattung
solle in einem gesonderten Verfahren geltend gemacht werden. Durch Beschluss vom 19. Juli 2010 hat das Sozialgericht auf übereinstimmenden
Antrag der Beteiligten das Ruhen des Rechtsstreits im Hinblick auf den Ausgang eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht
angeordnet. Mit Schriftsatz vom 31. Januar 2018 hat der Kläger beantragt, das Verfahren fortzusetzen.
Mit Urteil vom 16. Mai 2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Aufgrund des Bezugs einer Rente wegen voller Erwerbsminderung
ab 1. Dezember 2004 sei eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eingetreten, die eine Reduzierung des monatlichen Zahlbetrages des Dienstbeschädigungsausgleichs rechtfertige. Die Voraussetzungen
des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X lägen vor. Ein atypischer Fall, der die Aufhebung mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung ausschließe, liege nach Auffassung
des Gerichts nicht vor. Der Kläger habe aufgrund des von ihm unterzeichneten Inhalts des Fragebogens am 14. Februar 2001 bestätigt,
den Beginn einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung anzuzeigen. Aufgrund des Bezuges der Erwerbsminderungsrente
komme § 2 Abs. 1 des DbAG zur Anwendung. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 DbAG werde der Dienstbeschädigungsausgleich bis zum Bezug
einer Rente wegen Alters, längstens jedoch bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, abweichend von Abs. 1 mindestens in der
Höhe erbracht, in der ein Anspruch auf Dienstbeschädigungsteilrente nach dem AAÜG bestanden habe. Die Regelung des § 2 Abs. 2 Satz 1 DbAG komme jedoch gemäß Satz 2 des § 2 Abs. 2 DbAG für die Dauer des Bezugs einer Rente wegen Erwerbsminderung oder
einer ähnlichen Leistung öffentlich-rechtlicher Art nicht zur Anwendung. Die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung sei im Rahmen des Widerspruchsbescheides und des Erörterungstermins nachgeholt worden. Die ursprünglich
im Bescheid vom 1. August 2007 enthaltene Feststellung einer Überzahlung und Verrechnung sei nicht Gegenstand der Entscheidung,
da die diesbezügliche Regelung durch den Beklagten im Erörterungstermin vom 25. März 2010 zurückgenommen worden sei.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. In dem Ausführungsbescheid des Beklagten zur Umsetzung des Urteils
des Sozialgerichts Gotha vom 19. November 1998 sei der Besitzstand des Klägers ausdrücklich festgeschrieben worden. Die Interpretation
der Regelung des § 2 Abs. 2 DbAG durch das Sozialgericht sei fehlerhaft. § 2 Abs. 2 Satz 2 DbAG stelle klar, dass eine Rente
wegen Erwerbsminderung einer Rente wegen Alters nicht gleichzusetzen sei. Wegen des Bezugs einer Rente wegen Erwerbsminderung
bestehe kein Anlass, die Dienstbeschädigtenteilrente nur noch als Dienstbeschädigungsausgleich mit einer deutlich geringeren
Leistung zu gewähren.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 16. Mai 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 1. August 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2007 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 29. Juli 2021 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung eines Dienstbeschädigungsausgleichs in unverminderter Höhe. Aufgrund des Bezugs
einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Dezember 2004 sei eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eingetreten. Der Bezug der Rente wegen voller Erwerbsminderung stelle eine Einkommenserzielung dar. Ein atypischer Fall liege
nicht vor. Aufgrund des Bezugs der Erwerbsminderungsrente gelange § 2 Abs. 1 DbAG zur Anwendung. § 2 Abs. 2 Satz 1 DbAG normiere
einen Ausnahmefall gegenüber der Regelung des § 2 Abs. 1 DbAG. Die Regelung des § 2 Abs. 2 Satz 1 DbAG komme jedoch gemäß
Satz 2 des Abs. 2 für die Dauer des Bezugs einer Rente wegen Erwerbsminderung oder einer ähnlichen Leistung öffentlich-rechtlicher
Art nicht zur Anwendung. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestünden nicht. Ein Anhörungsmangel liege nicht vor. §
24 Abs. 1 SGB X verlange eine Anhörung nur, wenn ein Verwaltungsakt erlassen werden solle, der in die Rechte eines Beteiligten eingreife.
Nicht anhörungspflichtig seien solche Verwaltungsakte, die über das Bestehen und den Umfang eines vom Antragsteller lediglich
behaupteten Rechts entscheiden, selbst wenn sie seinem Begehren nicht vollständig stattgeben.
Mit Änderungsbescheid vom 29. Juli 2021 hat der Beklagte aufgrund des Vorliegens eines atypischen Falls den Bescheid vom 1.
August 2007 insoweit aufgehoben, als der Dienstbeschädigungsausgleich für Zeiträume vor dem 1. September 2007 reduziert wurde
und sein Erstattungsbegehren in Höhe der Überzahlung von 3.609,03 € aufgehoben. Durch Schriftsatz vom 13. September 2021 hat
der Kläger das Teilanerkenntnis angenommen und an der Berufung im Übrigen festgehalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Im Berufungsverfahren ist Gegenstand der Anfechtungsklage nur noch der Bescheid des Be-klagten vom 1. August 2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2007 in der Fassung des Teilanerkenntnisses/Änderungsbescheides vom 29. Juli 2021.
Der Beklagte hat durch Änderungsbescheid vom 29. Juli 2021 die in dem Bescheid vom 1. August 2007 angeordnete Reduzierung
des Dienstbeschädigungsausgleichs für Zeiträume vor dem 1. September 2007 und die Erstattung des überzahlten Betrages i. H.
v. 3.609,03 Euro aufgehoben. Zwar hat er die Aufhebung der Reduzierung des Dienstbeschädigungsausgleichs für Zeiträume vor
dem 1. September 2007 nicht ausdrücklich ausgesprochen. Die Auslegung des Änderungsbescheides vom 29. Juli 2021 ergibt aber,
dass der Beklagte die verfügte Reduzierung des Dienstbeschädigungsausgleichs vor dem 1. September 2007 aufheben wollte. Bei
der Auslegung von Verfügungssätzen im Sinne des § 31 SGB X ist vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten auszugehen, wobei alle Zusammenhänge zu berücksichtigen sind, die
die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§
133 BGB) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat; maßgebend ist der objektive Sinngehalt der Erklärung bzw. das objektivierte
Empfängerverständnis (BSG, Urteile vom 16. März 2021 - B 2 U 7/19 R - und - B 2 U 17/19 R -, Urteil vom 26. November 2019 - B 2 U 29/17 R -; Urteil vom 20. August 2019 - B 2 U 35/17 R -; alle in juris). Danach hat der Beklagte aufgrund der im Erörterungstermin am 21. Juni 2021 erteilten Hinweise wegen Fehlens
eines atypischen Falls den Bescheid vom 1. August 2007 nochmals überprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die rechtlichen
Voraussetzungen für die Forderung hinsichtlich der Zeiträume des Erstattungsbegehrens nicht mehr bestehen. Durch die Bezugnahme
auf die Hinweise im Erörterungstermin am 21. Juni 2021 und die Feststellung, dass ein atypischer Fall nicht vorliegt, ist
hinreichend zum Ausdruck gekommen, dass der Beklagte nicht nur sein Erstattungsbegehren aufhebt, sondern auch an der auf der
Rechtsgrundlage des § 48 Abs. 1 SGB X verfügten Reduzierung des Dienstbeschädigungsausgleichs für Zeiträume vor dem 1. September 2007 nicht mehr festhält. Denn
das vom Beklagten aufgrund des Hinweises im Erörterungstermin festgestellte Vorliegen eines atypischen Falles berührt nicht
erst die Rechtmäßigkeit der Erstattungsforderung, sondern bereits die Frage, ob der Beklagte zur Aufhebung des Verwaltungsaktes
nach § 48 Abs. 1 SGB X für die Vergangenheit befugt war. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.
Die Neufeststellung/Reduzierung des an den Kläger zu zahlenden Dienstbeschädigungsausgleiches in dem Bescheid des Beklagten
vom 1. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2007 in der Fassung des Teilanerkenntnisses/Änderungsbescheides
vom 29. Juli 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des § 45 SGB X für eine teilweise Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 20. Juni 2007 für die Zukunft sind mit dem angefochtenen Bescheid
vom 1. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2007 nicht erfüllt.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat
(begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis
4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß Absatz 2 darf ein
rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes
vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen
ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen
hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte
nicht berufen, soweit
1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig
oder unvollständig gemacht hat, oder
3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit
liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Unabhängig vom Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ist der angefochtene Bescheid vom 1. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2007 jedenfalls
wegen fehlender Anhörung und eines Ermessensfehlers, konkret eines Ermessensnichtgebrauchs, rechtswidrig.
Der Beklagte hat mit dem angefochtenen Bescheid vom 1. August 2007 den Bescheid vom 20. Juni 2007 (teilweise) aufgehoben.
Zwar hat der Beklagte in dem Bescheid vom 1. August 2007 keinen (teilweise) aufzuhebenden Bescheid ausdrücklich benannt. Jedoch
ergibt die Auslegung des Bescheides, dass der Beklagte alle der ab 1. Dezember 2004 verfügten Reduzierung des Dienstbeschädigungsausgleichs
entgegenstehenden Bescheide aufheben wollte. Bei der Auslegung von Verfügungssätzen im Sinne des § 31 SGB X ist vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten auszugehen, wobei alle Zusammenhänge zu berücksichtigen sind, die
die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§
133 BGB) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat; maßgebend ist der objektive Sinngehalt der Erklärung bzw. das objektivierte
Empfängerverständnis (BSG, Urteile vom 16. März 2021 - B 2 U 7/19 R - und - B 2 U 17/19 R -, Urteil vom 26. November 2019 - B 2 U 29/17 R -; Urteil vom 20. August 2019 - B 2 U 35/17 R -; alle in juris). Danach ergibt sich aus dem Wortlaut des Bescheides vom 1. August 2007, dass von der teilweisen Aufhebungsverfügung
der Bescheid vom 20. Juni 2007 und derjenigen vom 20. Juni 2003 betroffen sind. Zumindest liegt eine konkludente Abänderung
„früherer“ Bewilligungsbescheide vor. Der Bescheid vom 20. Juni 2007 ist nicht nur als Anpassungsmitteilung zu qualifizieren.
Denn er enthielt im Gegensatz zu einer „Rentenanpassungsmitteilung“, welche keine eigenständigen Regelungen über das Unterbleiben
einer Anrechnung anderer Einkünfte enthält und daher in Bezug auf eine Anrechnung anderer Einkünfte keinen Verwaltungsakt
darstellt und daher keiner gesonderten Aufhebung bedarf (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20. September 2018 – L 1 R 171/17 –, juris), eine eigenständige Regelung zur vollständigen Höhe des Dienstbeschädigungsausgleichs. Dies wird bereits durch
die Formulierung in dem Bescheid vom 20. Juni 2007 deutlich, dass der bisher gültige Bescheid mit Wirkung vom 1. Juli 2007
aufgehoben wird. Dies bedeutet, dass über alle Tatbestandsvoraussetzungen der Bewilligung erneut eine Entscheidung getroffen
wurde.
Entgegen der Begründung des Urteils des Sozialgerichts ist nicht § 48 Abs. 1 SGB X als Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 1. August 2007 einschlägig. Der Bescheid vom 20. Juni 2007 war von Anfang an teilweise
rechtswidrig. Eine Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist nach Bekanntgabe des Bescheides nicht eingetreten. Der Anwendungsbereich der §§ 45 und 48 SGB X unterscheidet sich danach, ob die aufzuhebende Leistungsbewilligung im Zeitpunkt ihres Wirksamwerdens (vgl. § 39 SGB X) rechtswidrig war - dann § 45 SGB X - oder erst danach - dann § 48 SGB X - rechtswidrig wurde. Die beiden Normen grenzen sich nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes,
der aufgehoben werden soll, ab. Dabei ist die Verwaltung grundsätzlich verpflichtet, vor Erlass eines Bescheides die Sachlage
vollständig abzuklären (BSG, Urteil vom 21. Juni 2011, B 4 AS 22/10 R in juris). Der Bescheid vom 20. Juni 2007 war bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses insoweit rechtswidrig, als dem Kläger
der volle Dienstbeschädigungsausgleich bewilligt wurde. Denn der Kläger bezog bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses eine Rente
wegen vollständiger Erwerbsminderung (vgl. Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland vom 20. Dezember 2005).
Unerheblich ist, dass der Beklagte zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 20. Juni 2007 noch keine Kenntnis vom Bezug
einer vollen Erwerbsminderungsrente durch den Kläger hatte. Dies ist für die vorzunehmende Abgrenzung irrelevant. Abzustellen
ist allein auf die objektiven Verhältnisse zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung.
Die teilweise Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 20. Juni 2007 hinsichtlich der Höhe des Dienstbeschädigungsausgleichs beruht
auf folgenden Erwägungen: Die Höhe des zu leistenden Dienstbeschädigungsausgleichs wird vom Grundsatz her in § 2 Abs. 1 DbAG
normiert. Die Vorschrift bestimmt insoweit, dass der Dienstbeschädigungsausgleich in Höhe der Grundrente nach § 31 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) geleistet wird. Als Ausnahme hiervon bestimmt § 2 Abs. 2 Satz 1 DbAG, dass für den Fall, dass für den Monat vor Beginn des Anspruchs auf Dienstbeschädigungsausgleich ein Anspruch
auf Dienstbeschädigungsteilrente bestand - wie im Fall des Klägers - der Dienstbeschädigungsausgleich bis zum Bezug einer
Rente wegen Alters, längstens jedoch bis zum Erreichen der Regelaltersrente nach dem
Sechsten Buch Sozialgesetzbuch, abweichend von §
2 Abs.
1 DbAG mindestens in der Höhe erbracht wird, in der ein Anspruch auf Dienstbeschädigungsteilrente nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz bestanden hätte. Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 DbAG gilt dies nicht für die Dauer des Bezugs einer Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder einer ähnlichen
Leistung öffentlich-rechtlicher Art. Das heißt, die dem Kläger durch Urteil des Sozialgerichts Gotha und später durch den
ersten Ausführungsbescheid und die folgenden Bescheide zugesprochene höhere Dienstbeschädigungsausgleich entfiel mit Wirkung
zum 1. Dezember 2004, zu welchem Zeitpunkt dem Kläger nachträglich ein Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente zugebilligt
worden ist. Dieses Ergebnis steht auch mit § 11 Abs. 5 Satz 2 AAÜG im Einklang, wonach neben Renten im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 1 und 2 und Abs. 3 Nr. 1 und 2 sowie Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder ähnlichen Leistungen öffentlicher
Art solche Teilrenten aus Sonderversorgungssystemen nicht gewährt werden. Hintergrund der Regelung ist, dass das Gesetz über
einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet die Folgen von Dienstunfällen in der ehemaligen DDR regelte, für
die die Betroffenen nach dem dortigen Sozialversicherungssystem Leistungen aus Sonderversorgungssystemen erhalten hatten.
Um eine Besserstellung gegenüber vergleichbaren Personengruppen in den alten Ländern zu vermeiden, wurde von einer unmittelbaren
Überleitung dieser Leistungen in die gesetzliche Unfallversicherung abgesehen und stattdessen ein eigenes Leistungssystem
geschaffen, das - wie die Unfallversicherung - zum Erwerbs- und Gesundheitsschadensausgleich bedürftigkeitsunabhängige Leistungen
für beruflich verursachte Gesundheitsschäden erbringt (BT-Drucks. 16/444, S.7). Ferner wurde durch das AAÜG die Konkurrenz zwischen Dienstbeschädigungsrenten und anderen Renten dahingehend geregelt, dass die Dienstbeschädigungsteilrente
im Ergebnis entfallen sollte, wenn ein Anspruch auf eine Altersrente oder eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bestand
(BT-Drucks. 16/444, S. 7). Insoweit sieht auch § 11 Abs. 5 Satz 2 AAÜG den Wegfall von Teilrenten bei gleichzeitigem Bezug einer Alters- und Invalidenvollrente vor (vgl. BT-Drucks. 12/826, S.
22).
Der angefochtene Rücknahmebescheid ist allerdings bereits wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X rechtswidrig. Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich
zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Ein Absehen von der Anhörung war nach § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X nicht möglich. Von Nr. 5 werden Verwaltungsakte über solche Leistungen erfasst, die der Höhe nach einkommensabhängig sind. Dies gilt auch, wenn die
Leistung bei der Erzielung von Einkommen erst oberhalb bestimmter Grenzen entfällt (z. B. Hinzuverdienst zur Rente). Die Gewährung
von Dienstbeschädigungsausgleich ist gerade keine einkommensabhängige Leistung. Das Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz sieht
die Anrechnung von Einkommen bei der Gewährung des Dienstbeschädigungsausgleichs nicht vor. Es handelt sich um eine bedürftigkeitsunabhängige
Leistung für beruflich verursachte Gesundheitsschäden (vgl. BT-Drucks. 16/444, S.7). Die Regelung zur Höhe des Dienstbeschädigungsausgleichs
in § 2 Abs. 2 Satz 1 DbAG, wonach bei Vorliegen der Voraussetzungen der Dienstbeschädigungsausgleich in Höhe der Dienstbeschädigungsteilrente
erbracht wird, ist von der Einkommensanrechnung zu unterscheiden. Der Dienstbeschädigungsausgleich ist als Entschädigung für
die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und als Ausgleich für Mehraufwendungen grundsätzlich unantastbar. Der
identische Charakter solcher Leistungen führt aber nach § 2 Abs. 2 DbAG nicht dazu, dass sie auch im Verhältnis zueinander
unantastbar sind mit der Folge, dass Doppelleistungen zu gewähren sind. Die Konkurrenz von gleichartigen Leistungen, wie in
§ 2 Abs. 2 DbAG geregelt, ist daher keine Einkommensanrechnung (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. Juli 2003,
L 6 VJ 1/03, juris).
Daher hatte der Beklagte den Kläger vor Erlass der Rücknahmeentscheidung am 1. August 2007 anzuhören. Dies ist nicht erfolgt.
Die fehlende Anhörung wurde auch nicht - weder im Widerspruchs- noch im Gerichtsverfahren - nachgeholt (§ 41 Abs. 2 SGB X i. V. m. Abs. 1 Satz 3 SGB X). Dieser Anhörungsmangel führt nach § 42 S. 2 SGB X zur Aufhebung des Bescheids.
Eine Heilung des Anhörungsmangels ist auch im gerichtlichen Verfahren nicht eingetreten. Die Nachholung der fehlenden Anhörung
setzt außerhalb des Verwaltungsverfahrens voraus, dass die Handlungen, die an sich nach § 24 Abs. 1 SGB X bereits vor Erlass des belastenden Verwaltungsaktes hätten vorgenommen werden müssen, von der Verwaltung bis zum Abschluss
der gerichtlichen Tatsacheninstanz vollzogen werden. Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches
Verwaltungsverfahren liegt vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den
entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen
am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dies setzt regelmäßig voraus, dass – ggf. nach freigestellter Aussetzung des
Verfahrens gemäß §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG - die Behörde den Kläger in einem gesonderten "Anhörungsschreiben" alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende
Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde
das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert. Befindet sich
die Verwaltungsentscheidung nicht mehr im Verantwortungsbereich der Beklagten, so kann eine jedenfalls teilweise Verwirklichung
der mit den Anhörungshandlungen verfolgten Zwecke nur noch erreicht werden, wenn durch die genannten verfahrensrechtlichen
Vorkehrungen sichergestellt wird, dass die Nachholung der Verfahrenshandlung sich in einer dem Anhörungsverfahren möglichst
vergleichbaren Situation vollzieht (vgl. BSG, Urteil vom 9. November 2010 – B 4 AS 37/09 R –, juris).
Entsprechend diesen Grundsätzen hat der Beklagte bis zum heutigen Tage das gesetzlich vorgeschriebene Anhörungsverfahren nicht
eingeleitet. Eine Aussetzung des Verfahrens nach §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG war nicht geboten. Es fehlt hier an einer Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration. Eine solche Sachdienlichkeit
ist hier bereits deshalb zu verneinen, weil der Bescheid darüber hinaus wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig ist.
Denn § 45 Abs. 1 SGB X ordnet als Rechtsfolge an, dass die Rücknahme der Begünstigung im Ermessen des Leistungsträgers steht, sofern sich - wie
hier - aus den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuches (vgl. §
37 SGB I) nichts Abweichendes ergibt (ständige Rechtsprechung, vgl. nur: BSG, Urteil vom 15. Februar 1990, 7 RAr 28/88; BSG, Urteil vom 17. Oktober 1990, 11 RAr 3/88; BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011, B 13 R 9/11 R; BSG, Urteil vom 20. Dezember 2012, B 10 LW 2/11 R; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2012, B 12 R 14/11 R). Dass der Beklagte vorliegend eine derartige Ermessensentscheidung getroffen hat, kann dem angefochtenen Bescheid vom
1. August 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2007 nicht entnommen werden. Der Beklagte hat vielmehr
von dem ihm durch § 45 Abs. 1 SGB X eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Er hat das ihm eingeräumte Ermessen nicht für den Kläger erkennbar nach außen
betätigt und demnach auch keine entsprechende Begründung (§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X) abgegeben, sodass sich seine streitgegenständliche Entscheidung schon aus diesem Grund als rechtswidrig erweist. Der Beklagte
hat, da er die Einschlägigkeit des § 45 SGB X als Rechtsgrundlage nicht erkannte, kein Ermessen ausgeübt. Damit fehlt eine der Tatbestandsvoraussetzungen für die teilweise
Reduzierung des Dienstbeschädigungsausgleiches, was zur Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 1. August 2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2007 führt. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist nicht ersichtlich. Diese kommt
selbst bei Vorliegen von „Bösgläubigkeit“ des Leistungsempfängers nicht in Betracht (vgl. BSG, Urt. vom 9. September 1998, B 12 RJ 41/97 R, in juris). Der Beklagte hat bei seiner Entscheidung mithin keinerlei Umstände gewürdigt, die eine andere, den Kläger möglicherweise
begünstigende Entscheidung, zuließen. Damit ist der Bescheid vom 1. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 22. Oktober 2007, wegen Fehlens einer Ermessensentscheidung durch den Beklagten rechtswidrig und war daher vollständig
aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 SGG nicht vorliegen.