Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Folge eines anerkannten Arbeitsunfalls
Posttraumatische Belastungsstörung
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob weitere Gesundheitsstörungen Folge des von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfalls
vom 14. Februar 2014 sind und ob der Kläger deswegen eine Verletztenrente auf Dauer nach einer MdE von 50 v. H. beanspruchen
kann.
Der 1953 geborene Kläger befand sich am 14. Februar 2014 gegen 14:30 Uhr auf der B 247 auf der Rückfahrt von seiner Außendiensttätigkeit
für seinen Arbeitgeber. Vor einer Ampel fuhr ein weiteres Fahrzeug derart auf das Fahrzeug des Klägers auf, dass dieses auf
drei vor ihm stehende Fahrzeuge geschoben wurde. Deswegen befand sich der Kläger vom 14. bis 18. Februar 2014 in stationärer
Behandlung im H1 Krankenhaus G. Diagnostiziert wurden ausweislich des Entlassungsberichts vom 18. Februar 2014 eine Gehirnerschütterung,
eine akute Belastungsreaktion, eine HWS Distorsion, diverse Prellungen und Schürfwunden. Bezüglich der akuten Belastungsreaktion
wurde nach psychiatrischer Beratung noch kein aktueller Behandlungsbedarf gesehen. Eine Besserung sei aus psychiatrischer
Sicht am ehesten in der häuslichen Umgebung zu erwarten. Eine retrograde Amnesie hinsichtlich des Unfalls selbst und auftauchende
Bilder im Zusammenhang mit dem Unfall wurden berichtet. Ausweislich eines CT-Befunds hinsichtlich des Kopfes vom 14. Februar
2014 ergab sich weder der Nachweis einer Fraktur noch einer intrakraniellen Blutung. Bezüglich der Halswirbelsäule fand sich
ebenfalls kein Hinweis auf eine Fraktur. Am 13. März 2014 genehmigte die Beklagte dem W1 die Durchführung von bis zu 5 probatorischen
Sitzungen. Mit Schreiben vom 17. März 2014 bestätigte der Arbeitgeber des Klägers, dass sich dieser am Unfalltag aus seinem
Verkaufsgebiet zurück auf dem Weg zur Zentrale in G befunden habe. Der W1 schilderte in seinem Erstbericht vom 18. März 2014
die Probleme des Klägers dergestalt, dass er nicht mehr alleine Auto fahren könne, unter Konzentrations- und Angstzuständen
leide und schlecht schlafe. Der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung wurde geäußert. Der Beratungsarzt und
Facharzt für HNO H2 sah in einer Stellungnahme vom 9. Mai 2014 die Notwendigkeit einer Mitbehandlung durch einen HNO-Arzt.
Hinsichtlich der Tinnitusproblematik beständen vielfältige Ansätze. Zu klären sei, ob weitere pathologische Befunde am Hör-
oder Gleichgewichtsorgan zu sichern seien. Am 28. Juli 2014 erteilte die Beklagte eine Kostenzusage für 5 Stunden Fahrprobe
in einer Fahrschule. Der Fahrlehrer teilte nach Durchführung dieser Probestunden mit, dass der Kläger noch nicht selbständig
Auto fahren könne. Am 3. Februar 2015 wurde der Kläger stationär in die Klinik W2 in X1 aufgenommen. In einem Behandlungsbericht
vom 12. März 2015 stellte die Klinik W2 die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer spezifischen Phobie
und einer mittelgradigen depressiven Episode. Die beratende Psychologin der Beklagten, M sah in einer Stellungnahme vom 18.
März 2015 die Notwendigkeit einer gründlichen apparativen neurologischen Diagnostik.
Die stationäre Behandlung in der Klinik W2 wurde am 31. März 2015 beendet. In ihrem Abschlussbericht vom 7. April 2015 diagnostizierte
die Klinik erneut eine posttraumatische Belastungsstörung, eine spezifische Phobie und eine mittelgradige depressive Episode.
Im Auftrag der Beklagten erstattete die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Z am 30. Juni 2015 ein Gutachten auf psychiatrischem
Fachgebiet. Die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung wurde gestellt. Die beklagten kognitiven Defizite
wurden als Symptom dieser unfallabhängigen posttraumatischen Belastungsstörung eingeordnet. Anhaltspunkte für eine unfallunabhängige
Genese im Sinne einer beginnenden Demenz oder sonstigen Erkrankung wurden nicht gesehen. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) i. H. v. 50 v. H. wurde vorgeschlagen. Diesen Feststellungen wiedersprach die beratende Psychologin der Beklagten, M,
in einer Stellungnahme vom 17. Juli 2015. Das Unfallereignis sei als Mono-trauma nicht geeignet gewesen, eine komplexe Traumafolgestörung
auszulösen. Hinsichtlich der hirnorganischen Auffälligkeiten müsse das gleichzeitige Bestehen neurologischer Erkrankungen
ausgeschlossen werden. Eine umfangreiche Diagnostik sei vorzunehmen, insbesondere auch hinsichtlich des Ausschlusses entzündlicher
hirnorganischer Erkrankungen, ggf. mit Lumbalpunktion.
Daraufhin stellte die Beklagte durch Bescheid vom 6. August 2015 mit Ablauf des 13. August 2015 die Zahlung des Verletztengeldes
ein. Mit Schreiben vom 21. Oktober 2015 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass beabsichtigt sei, die fehlenden diagnostischen
Untersuchungen bei S in K1 durchführen zu lassen. Dem widersprach der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom
12. November 2015. Im Verfahren beigezogen wurde des Weiteren ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie
X2 vom 8. November 2015 für die Deutsche Rentenversicherung Bund. Dieser diagnostizierte eine chronifizierte, mindestens mittelschwere
depressive Episode. Die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung seien rückläufig. Im Auftrag der Beklagten erfolgte
beim Kläger im Zeitraum vom 15. bis 26. Februar 2016 eine umfangreiche Diagnostik in der Klinik für Neurologie des Unfallkrankenhauses
B. In der angefertigten Bildgebung ergaben sich keine Anhaltspunkte für intrakranielle Traumafolgen. Festgestellt wurde ein
maximal 5 mm großes Mediagabelaneurysma. Ein posttraumatischer Tinnitus wurde diagnostiziert und eine zweiwöchige stationäre
Infusionstherapie empfohlen. Die Konzentrationsstörungen seien auf die psychische Belastung zurückzuführen. Das Vorliegen
hirnorganisch bedingter Störungen könne nicht sicher ausgeschlossen werden. Aus psychiatrischer und psychotraumatologischer
Sicht bestehe dringend weiterer Therapiebedarf. Die neuropsychologische Untersuchung zeige massive kognitive Leistungsminderungen.
Nach Einschätzung der Klinik war von einer erheblichen psychischen Fehlverarbeitung des Unfalls und seiner Folgen auszugehen.
Die beratende Psychologin M führte daraufhin in einer Stellungnahme vom 21. März 2016 aus, dass nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
auszuschließen sei, dass die derzeitige psychische Symptomatik unfallbedingt ist. Der Psychologe X3 legte in einer Stellungnahme
vom 25. Mai 2016 dar, dass durch den Unfall eine posttraumatische Belastungsstörung verursacht worden sei. Die MdE bezifferte
er ab dem 27. Februar 2016 auf 10 v.H. Es liege nur noch eine Restsymptomatik vor, die mit Willensanstrengung kompensiert
werden könne.
Daraufhin erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Juni 2016 das Ereignis vom 14. Februar 2014 sinngemäß als Arbeitsunfall
und als Folgen des Arbeitsunfalls eine „vorübergehende posttraumatische Belastungsstörung in Form von Fahrängsten und Fehlverarbeitung
des Unfalls, ab dem 27. Februar 2016 als leichtgradig und im Wesentlichen kompensiert“ an. Nicht als Folge des Arbeitsunfalls
wurden anerkannt „eine mittelgradige depressive Episode mit Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, ausgeprägte Konzentrations-
und Gedächtnisstörungen“. Für den Zeitraum 14. August 2015 bis 26. Februar 2016 wurde eine Rente nach einer MdE von 20 v.
H. bewilligt. Darüber hinaus bestehe kein Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente.
Hiergegen legte der Kläger am 27. Juni 2016 Widerspruch ein. Die MdE von 20 v. H. berücksichtige die Unfallfolgen nicht hinreichend.
Bestimmte Folgen des Arbeitsunfalles würden gar nicht berücksichtigt. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte eine Stellungnahme
des beratenden Psychologen H3 vom 12. Dezember 2016 ein. Auf der Grundlage eines Monotraumas könne eine komplexe posttraumatische
Belastungsstörung nicht diagnostiziert werden. Die im Bescheid vom 10. Juni 2016 enthaltenen Unfallfolgen seien korrekt aufgeführt.
Insbesondere sei die Depression zu Recht nicht als Unfallfolge eingeordnet worden. Zur MdE könne ohne Begutachtung des Patienten
nicht Stellung genommen werden. Daraufhin beauftragte die Beklagte den Facharzt für Nervenheilkunde und Psychiatrie K2 mit
der Erstellung eines Zusammenhangsgutachtens. Dieser diagnostizierte in seinem Gutachten vom 10. Juli 2017 eine posttraumatische
Belastungsstörung und eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2). Sowohl die Voraussetzungen nach
dem ICD-10 als auch nach den DSM-5 seien erfüllt. Hinweise auf eine hirnorganische Läsion fänden sich nicht. Ebenfalls sei
eine cerebrale Läsion durch bildgebende Befunde ausgeschlossen worden. Ein hirnorganisches Psychosyndrom sei somit nicht zu
diskutieren. Auffälligkeiten im Beschwerdevalidierungstest seien nicht als negative Antwortverzerrung einzuordnen. Bereits
bei der unfallchirurgischen Erstbehandlung sei ein seelischer Erstschaden festgestellt worden. Die MdE sei auf nervenärztlichem
Fachgebiet mit 70 v. H. zu beziffern. Ein Erstschadensbild auf HNO-ärztlichem Fachgebiet sei nicht gegeben, sodass es gewichtige
Argumente gebe, den Tinnitus als unfallunabhängig einzustufen. Deshalb sei allerdings eine HNO-ärztliche Zusatzbegutachtung
veranlasst. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 28. Juli 2017 hat K2 darauf hingewiesen, dass die exakte Einordnung eines
depressiven Syndroms dem Facharzt für Psychiatrie vorbehalten sein sollte. Aus dem gesamten Krankheitsverlauf ergäben sich
eindeutige Belege dafür, dass bei dem Kläger eine schwere Depression vorliege. Die beschriebene schwere depressive Symptomatik
sei als Folgeschaden der posttraumatischen Belastungsstörung anzusehen. Hinweise auf eine akzentuierte Persönlichkeitsstörung
als konkurrierende Kausalität im Sinne einer Schadensanlage seien nicht gegeben. Im Auftrag der Beklagten erstattete anschließend
der Chefarzt der HNO-Klinik E1, E2, am 28. Dezember 2017 ein Zusatzgutachten. Darin legte dieser dar, dass aus seiner Sicht
der Tinnitus als Unfallfolge anzusehen sei. Dieser sei sofort nach dem Unfall als neu aufgetretenes Ereignis beschrieben worden.
Vor dem Unfall habe der Versicherte noch nie einen Tinnitus gehabt. Die MdE sei mit 30 v. H. zu beziffern. Daraufhin schätzte
K2 am 15. Februar 2018 die Gesamt-MdE mit 80 v. H ein. Der HNO-Arzt E3 äußerte in einer beratungsärztlichen Stellungnahme
vom 12. März 2018 erhebliche Zweifel an dem Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Tinnitus. Ein Tinnitus ohne unfallbedingte
Schwerhörigkeit könne nicht als unfallbedingter Tinnitus angesehen werden. Die beratende Psychologin M stimmte den Ausführungen
von K2 in einer Stellungnahme vom 13. April 2018 zu. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid
vom 19. September 2018 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die Schwere des Unfalls nicht ausreiche, um derartige Unfallfolgen
auf psychiatrischem Fachgebiet auszulösen. Es fehle an einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem
Ausmaß. Auch die schwere depressive Episode sei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folge des Arbeitsunfalls. Aufgrund
der vorübergehenden posttraumatischen Belastungsstörung könne bis zum 26. Februar 2016 eine MdE von 20 v. H. anerkannt werden.
Hiergegen hat der Kläger bereits am 14. Mai 2018 vor dem Sozialgericht Nordhausen eine Untätigkeitsklage erhoben. Nach Erlass
des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2018 hat er am 4. Oktober 2018 mitgeteilt, dass der Rechtsstreit fortgeführt
werde. Das Sozialgericht hat den Sachverständigen K2 mit der Abgabe einer ergänzenden Stellungnahme beauftragt. In dieser
hat er am 20. Februar 2019 ausgeführt, dass die Kriterien des DSM-5 ab Mai 2013 anzuwenden gewesen seien. Das Unfallereignis
sei geeignet gewesen, eine PTBS auszulösen. Der erforderliche zeitliche Zusammenhang liege vor. Beim Kläger seien zeitnah
erhebliche psychoreaktive Störmuster im Vollbeweis gesichert. Eine hirnorganische Läsion oder eine neurodegenerative Erkrankung
liege beim Kläger nicht vor. Hinsichtlich der in der Akte zunächst dokumentierten Amnesie sei darauf hinzuweisen, dass es
initial nach einer tiefgreifenden Traumatisierung zu einer sogenannten peritraumatischen Überflutung komme und aus dieser
Tatsache sich eine Amnesie erkläre. Dies sei der Grund dafür, dass im ICD-10 auch ein verzögerter Beginn einer posttraumatischen
Belastungsstörung anerkannt werde, wenn die Symptome einer PTBS mit einer Latenz von bis zu sechs Monaten auftreten würden.
Dieser Einschätzung hat der Beratungsarzt der Beklagten K3 in einer Stellungnahme vom 13. Mai 2019 widersprochen. Nach den
maßgeblichen Standardwerken zu neurowissenschaftlichen Begutachtungen setze eine PTBS voraus, dass es sich um ein Ereignis
mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß handeln müsse. Eine mittelgradige depressive Episode beim
Kläger sei nicht unfallbedingt.
Durch Urteil vom 17. September 2019 hat das Sozialgericht Nordhausen den Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 2016 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2018 dahingehend abgeändert, dass als weitere Folge des Unfalls vom 14. Februar
2014 eine schwere Depression, eine posttraumatische Belastungsstörung und ein dekompensierter Tinnitus Grad IV anerkannt wird
und zugleich dem Kläger auf Dauer eine Verletztenrente nach einer MdE von 50 v. H. gewährt. Die Beklagte habe die Unfallfolgen
nur teilweise zutreffend festgestellt. Sie habe nur eine vorübergehende PTBS in Form von Fahrängsten und einer Fehlverarbeitung
des Unfalls anerkannt. Daneben seien aber auch eine PTBS sowie eine schwere Depression und ein dekompensierter Tinnitus Grad
IV als Folge des Unfallgeschehens anzuerkennen. Sowohl eine PTBS als auch eine schwere Depression seien vollbeweislich gesichert.
Das streitige Ereignis sei durchaus geeignet, eine PTBS zu verursachen. Ausweislich der Verkehrsunfallanzeige sei der Kläger
mit seinem Fahrzeug das 4. Fahrzeug in einer Reihe gewesen, auf das ein anderer Verkehrsteilnehmer mit seinem Fahrzeug aufgefahren
sei. Aus den Lichtbildern ergebe sich eine erhebliche Beschädigung des Fahrzeuges des Klägers auf beiden Seiten. Bereits dem
Entlassungsbericht des Klinikums G vom 18. Februar 2014 sei eine akute Belastungsreaktion zu entnehmen. Nach allen anerkannten
Diagnosesystemen sei daher eine PTBS zu bejahen. Auch ansonsten folge das Gericht den Ausführungen des Sachverständigen K2.
Ebenso sei die depressive Episode als Unfallfolge einzuordnen. Die Unfallbedingtheit des Tinnitus folge aus dem Gutachten
des E2 vom 28. Dezember 2017. Die MdE sei mit 50 v. H. zu beziffern. Der Kläger erreiche nicht das Vollbild der Einschränkungen,
welche bei einer schweren chronifizierten Störung, massiv eingetrübter Stimmung und deutlicher Minderung der Konzentration
nach den Erfahrungswerten vorgesehen sei. Hinzu kämen jedoch zusätzliche Ängste und bestimmten Verhaltensweisen sowie der
Tinnitus, sodass von einer Gesamt-MdE von 50 v.H. auszugehen sei.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Weder die PTBS noch die schwere Depression und der Tinnitus seien als Unfallfolge
anzuerkennen. Die Diagnose einer PTBS sei nicht belegt. Je länger das Verfahren dauere, umso genauer könne sich der Kläger
an den Unfallhergang erinnern. Angesicht der am Fahrzeug vorhandenen Beschädigungen könne nicht von einer außergewöhnlichen
Belastungssituation ausgegangen werden. Dem psychopathologischen Befund aus der Anfangszeit könne nicht das spezifische Bild
einer PTBS entnommen werden. Konkurrenzursachen würden nicht ausreichend gewürdigt. Es habe auch in der Vergangenheit des
Klägers belastende Ereignisse, wie einen Herzinfarkt mit Stentimplantation und eine Hauterkrankung, gegeben. Daher bestünden
keine Anhaltspunkte für eine rentenberechtigende MdE über den 26. Februar 2016 hinaus. Ein unfallunabhängiges Schlafapnoesyndrom
beeinträchtige den Kläger zusätzlich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 17. September 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
ein Kfz-Sachverständigengutachten zu der Frage in Auftrag zu geben, mit welcher Geschwindigkeit der Kläger und insbesondere
das hinter ihm und vor ihm fahrende Kraftfahrzeug fuhren und welche Kräfte einwirkten.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich auf die Ausführungen in dem angegriffenen Urteil.
Der Senat hat bei dem Neurologen und Psychiater Y ein nervenärztliches Gutachten eingeholt. Y legt in seinem Gutachten vom
11. Juni 2021 dar, dass bei dem Kläger eine PTBS vollbeweislich gesichert vorliege. Diese sei auf das Unfallereignis zurückzuführen.
Es entspreche der aktuellen Leitlinie zur PTBS, dass unmittelbar nach dem als traumatisierend einzustufenden Ereignis nach
initialen Symptomen seelischer Traumatisierung zu suchen sei. Diese seien im Fall des Klägers ausführlich und umfassend dokumentiert,
was ein wegweisendes Argument für ein Stattfinden der Traumatisierung sei. Die entsprechende Symptomatik sei im gesamten Zeitraum
nach dem Unfallereignis bis heute immer wieder dokumentiert. Zwar bedeute ein seelischer Gesundheitserstschaden noch nicht
eine seelische Traumatisierung, da nicht jede Traumafolgestörung nach der Symptomkonstellation der PTBS ablaufen müsse. Das
Ereignis sei von seinem Ablauf her geeignet gewesen, zu einer seelischen Traumatisierung zu führen. Ein und dasselbe Störungsbild,
wenn es einmal auf eine seelische Traumatisierung zurückzuführen sei, könne nur unter ganz besonders schlagenden Argumenten
auf andere Kausalbeziehung zurückzuführen sein. Eine sogenannte Verschiebung der Wesensgrundlage könne nur dann angenommen
werden, wenn sich die Symptomkonstellation z. B. sehr maßgeblich verändert habe oder ein Vorschaden bewiesen sei, welcher
sich weiter entwickelt habe. Dafür bedürfe es aber wirklich handfester Argumente, die hier nicht vorlägen. Hierfür reiche
es insbesondere nicht aus, wenn sich die Symptomatik zwischendurch verbessert habe. Ein Vorschaden sei nicht gesichert. Hinsichtlich
des Herzinfarktes aus dem Jahr 2005 oder der Hauterkrankungen seien keine psychischen Störungen mit Krankheitswert dokumentiert.
Auch die mittelschwere depressive Episode sei auf das Unfallgeschehen zurückzuführen, ebenso wie die spezifische Phobie. Die
Gesamt-MdE sei mit 50 v. H. einzuschätzen. Zu berücksichtigen sei hier die Herabsenkung der psychosozialen Funktionen des
Klägers. Dem stehe auch nicht die auffällige Verhaltensweise bei der Bearbeitung von Tests entgegen. Eine schwerwiegende seelische
Störung sei daher ausreichend gesichert. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 23. August 2021 hat Y an seinen Ausführungen
festgehalten. Er habe nunmehr die in der Akte enthaltenen Unfallbilder wahrgenommen. Nach erneuter Durchsicht der Akte seien
sowohl das A-Traumakriterium der PTBS nach ICD-10 als auch das entsprechende Kriterium des DSM-5 erfüllt. Die subjektiv erlebte
Bedrohung des Klägers im Unfallerleben werde auch objektiv belegt. Zudem habe die Beklagte eine posttraumatische Belastungsstörung
bereits anerkannt. Lediglich zu Unrecht sei sie von deren Abklingen ausgegangen. Es sei zutreffend, dass eine therapieresistente
depressive Störung im Sinne der depressiven Episode leitliniengerecht, psychopharmakologisch und psychotherapeutisch in Kombination
zu behandeln wäre. Dass der Kläger seit Juli 2017 nicht mehr in psychiatrischer Behandlung sei, könne zwar durchaus ein gewichtiges
Argument gegen die Schwere seiner Störung darstellen. Dem stünden aber die plausiblen aktenkundigen Vorbefunde entgegen, die
belegten, dass nicht unerhebliche Einbußen im täglichen Leben vorlägen. Zur Unfallbedingtheit des Tinnitus könne er nicht
Stellung nehmen. Der Tinnitus habe sich auf die Gesamt-MdE von 50 v. H. im Ergebnis nicht ausgewirkt. Vielmehr sei dieser
in den angenommenen psychogenen Störungen aufgegangen. Die vorgeschlagene MdE von 50 v. H. bewege sich im oberen Bereich gutachtlichen
Ermessens. In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 3. Januar 2022 hat Y ausgeführt, dass der Kläger bei der hiesigen
Begutachtung vornehmlich durch eine deutliche depressive Herabsenkung der Stimmung und Einschränkung der Affektivität, Antriebsstörung
und affektiv emotionalen Labilisierung aufgefallen sei. Dieses Störungsbild sei durch ein Schlafapnoesyndrom nicht hervorzurufen
oder zu erklären. Eine Depression könne nur dann unabhängig von der PTBS zu bewerten und damit nicht als Traumafolgestörung
anzusehen sein, wenn sie als Vorschaden vollbeweislich gesichert wäre, was hier nicht der Fall sei. Daher habe das Schlafapnoesyndrom
keine Auswirkung auf die Höhe der MdE. Zwecks Einschätzung der Schwere des Ereignisses sei es nicht notwendig, die Geschwindigkeiten
beim Unfallereignis am 14. Februar 2014 zu ermitteln. Es gehe hierbei nicht um biologische/physikalische Kräfte, sondern um
die seelische Beeindruckung, die der Kläger im Ereigniserleben habe hinnehmen müssen. Diese werde für hoch erachtet.
Der Kläger hat den Ausführungen des Sachverständigen Y zugestimmt.
Die Beklagte geht nach wie vor davon aus, dass über die bescheidmäßig anerkannten Unfallfolgen hinaus keine weiteren anzuerkennen
seien. Sie ist der Auffassung, dass ein Kfz-Sachverständigengutachten zur Höhe der Geschwindigkeit beim Unfallereignis am
14. Februar 2014 einzuholen sei. Bei einem Verkehrsunfall, der zu keinen wesentlichen chirurgischen Verletzungen geführt habe
und mit einem stationären Aufenthalt von 4 Tagen verbunden gewesen sei, sei es nicht ausreichend, dass für die Frage, ob ein
Ereignis im Sinne des ICD-10 F43.1 vorliege, Fotos der beschädigten Fahrzeuge und die subjektive Schilderung des Klägers zugrunde
gelegt werden. Heranzuziehen seien objektive Kriterien. Die Revision sei im Übrigen zuzulassen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.
Die Gerichtsakte und der beigezogene Verwaltungsvorgang waren Gegenstand der Beratung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§
143,
151 SGG), hat aber nur in dem tenorierten Umfang Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19. September 2018 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§
54 SGG), als er Anspruch auf Feststellung weiterer Unfallfolgen und auf Gewährung einer Verletztenrente i. H. v. 50 v.H. ab dem
14. August 2015 bis zum 26. Februar 2016 und darüber hinaus auf Dauer hat. Die Beklagte hat in dem angegriffenen Bescheid
das Ereignis vom 14. Februar 2014 als Arbeitsunfall mit der Folge einer vorübergehenden PTBS in Form von Fahrängsten und einer
Fehlverarbeitung des Unfalls und einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. vom 14. August
2015 bis zum 26. Februar 2016 bejaht. Darüber hinausgehend hat das Sozialgericht zu Recht die bei dem Kläger vorliegende posttraumatische
Belastungsstörung und eine schwere Depression als Unfallfolge festgestellt und dem Kläger auf Dauer eine Verletztenrente nach
einer MdE von 50 v.H. gewährt. Soweit das Sozialgericht als weitere Folge des Unfallereignisses vom 14. Februar 2014 einen
dekompensierten Tinnitus Grad IV anerkannt hat, hat die Berufung hingegen Erfolg.
Richtige Klageart für die Feststellung weiterer Unfallfolgen ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach
§
54 Abs.
1 SGG und §
55 Abs.
1,
3 SGG.
Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung gibt es unterschiedliche Beweisanforderungen. Für die äußerlich fassbaren und
feststellbaren Voraussetzungen „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses“, „Unfallereignis“ und
„Gesundheitsschaden“ wird eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gefordert, die vorliegt, wenn kein vernünftiger,
die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt (Vollbeweis). Vermutungen, Annahmen, Hypothesen und sonstige
Unterstellungen reichen daher ebenso wenig aus wie eine (möglicherweise hohe) Wahrscheinlichkeit. Hinreichende Wahrscheinlichkeit
wird von der ständigen Rechtsprechung für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden
(haftungsbegründende Kausalität) sowie dem Gesundheitserstschaden und der Unfallfolge im Sinne eines länger andauernden Gesundheitsschadens
(haftungsausfüllende Kausalität) für ausreichend erachtet (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 2007 - B 2 U 27/06 R -). Hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände diejenigen so stark überwiegen,
die für den Ursachenzusammenhang sprechen, dass darauf eine richterliche Überzeugung gegründet werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 31. Januar 2012 - B 2 U 2/11 R -; BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -). Dabei hat die Prüfung getrennt nach 2 Stufen, nämlich zunächst auf einer naturwissenschaftlich-medizinischen und anschließend
auf einer rechtlichen Ebene zu erfolgen. Ist auf der ersten Stufe der notwendige naturwissenschaftlich-medizinische Zusammenhang
gesichert, hat auf der zweiten Stufe eine Prüfung der rechtlichen Wesentlichkeit zu erfolgen (Spellbrink, Die Aufgabenverteilung
zwischen (medizinischem) Sachverständigen und Richter bei der Kausalitätsprüfung im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung,
MEDSACH 2017, 51-56). Welche Ursache im Einzelfall rechtlich wesentlich ist und welche nicht, muss nach der Auffassung des
praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs vom Rechtsanwender (Juristen) wertend
entschieden werden (BSG, Urteil vom 30. März 2017 – B 2 U 6/15 R –, BSGE 123, 24-35; BSG, Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R – zitiert nach Juris). Die Wesentlichkeit einer (Mit-)Ursache ist eine reine Rechtsfrage, die sich nach dem Schutzzweck der
Norm beantwortet. Die rechtliche Wesentlichkeit ist zu bejahen, wenn die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller festgestellten
mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes
fallenden Gefahr ist. Eine Rechtsvermutung dafür, dass die versicherte Einwirkung wegen ihrer objektiven Mitverursachung der
Erkrankung auch rechtlich wesentlich war, besteht nicht. Die Wesentlichkeit ist vielmehr zusätzlich und eigenständig nach
Maßgabe des Schutzzwecks des jeweils begründeten Versicherungstatbestandes zu beurteilen (vgl. Spellbrink, jurisPR-SozR 5/2022
Anm. 2).
Ausgehend hiervon steht zur Überzeugung des Senats fest, dass über die durch Bescheid vom 10. Juni 2016 festgestellten Unfallfolgen
aus dem Ereignis vom 14. Februar 2014 hinaus weitere Unfallfolgen festzustellen sind. Die von dem Kläger als weitere Unfallfolge
geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung und die mittelschwere Depression sind vollbeweislich gesichert und mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen. Insoweit folgt der Senat den nachvollziehbaren und
in sich schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Y in seinem Gutachten vom 11. Juni 2021 und den nachfolgenden ergänzenden
Stellungnahmen. Dort führt dieser im Einklang mit den Ausführungen des im Verwaltungsverfahren gehörten Sachverständigen K2
(vgl. dessen Gutachten vom 10. Juli 2017) aus, dass nach Würdigung des Sachverhalts davon auszugehen ist, dass es bei dem
Unfallereignis vom 14. Februar 2014 bei dem Kläger zu einer nachhaltigen seelischen Beeindruckung gekommen ist, die zum Ingangsetzen
eines traumatischen Prozesses geführt hat. Das Unfallereignis ist geeignet gewesen, bei dem Kläger eine Traumafolgestörung
auszulösen. Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung kann gestellt werden. Soweit der Senat bei der Entscheidung
Erkenntnisse des Gutachtens des K2 vom 10. Juli 2017 und einer ergänzenden Stellungnahme vom 10. Februar 2019 miteinfließen
ließ, hat er dieses im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten im Wege des Urkundenbeweises gewürdigt (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i. V. m. §§
415 ff. der
Zivilprozessordnung -
ZPO). Verwaltungsgutachten können nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sogar alleinige Entscheidungsgrundlage
sein, wenn das Gutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht, die an ein wissenschaftlich begründetes
Sachverständigengutachten zu stellen sind (vgl. BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 – B 2 U 25/17 R, Rn. 14 m.w.N., nach Juris). Das ist bei dem vorliegenden Gutachten des K2 vom 10. Juli 2017 gegeben. Es erfüllt die förmlichen
und inhaltlichen Anforderungen eines ordnungsgemäßen Sachverständigengutachtens, stellt insbesondere den Krankheitsverlauf
dar. Insbesondere werden Art und Ausmaß der hier in Streit befindlichen gesundheitlichen Verhältnisse auf psychiatrischem
Fachgebiet festgestellt, weiter wird der Ursachenzusammenhang erörtert. Gründe, die gegen die Verwertung dieses Gutachtens
sprechen sind nicht ersichtlich. Auch die Besonderheiten des Urkundenbeweises (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
415 ZPO), wie z.B. die fehlende Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §§ 404a, 407a
ZPO), die fehlende Strafandrohung der §§
153 ff. des
Strafgesetzbuches (
StGB) und die fehlende Möglichkeit der Beeidigung (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
406 ZPO) und insbesondere das fehlende Fragerecht (§§
116 Satz 2,
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §§
397,
402,
411 Abs.
4 ZPO; §
62 SGG) stehen einer Verwertung nicht entgegen.
Hinsichtlich der Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung ist von folgenden Grundsätzen auszugehen (vgl. Urteil
des Senats vom 9. Juli 2015 - L 1 U 1495/13 , zitiert nach Juris):
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine Gesundheitsstörung mit der Klassifikation ICD-10-GM-2015
F 43.1 beziehungsweise DSM-5-TR 309.81. Sie wird wie folgt beschrieben: Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als
eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer,
mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
Prädisponierende Faktoren, wie bestimmte, zum Beispiel zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten
in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die
letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale
sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder
Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner
finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung
von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit
mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den
genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz,
die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung
erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde
Persönlichkeitsänderung über.
Hiervon abweichend wird nach DSM-5 verzichtet auf das sogenannte A2-Kriterium, d. h. auf eine initiale, psychopathologisch
nachweisbare subjektive Beeindruckung durch das Ereignis in Form von intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen. Nach
DSM-5 TR 309.81 gelten folgende Kriterien: Das Hauptmerkmal der posttraumatischen Belastungsstörung ist die Entwicklung charakteristischer
Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis. Das traumatische Ereignis beinhaltet unter anderem
das direkte persönliche Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder
einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat (Kriterium A1). Charakteristische Symptome, die aus der
Konfrontation mit der extrem traumatischen Situation resultieren, sind das anhaltende Wiedererleben des traumatischen Ereignisses
in Form von wiederholten und aufdringlichen Erinnerungen an das Ereignis (Kriterium B1), von wiederkehrenden, quälenden Träumen,
in denen das Erlebnis nachgespielt wird oder in anderer Form auftritt (Kriterium B2), von Erleben von oft als „Flashbacks“
bezeichneten dissoziativen Zuständen, während derer einzelne Bestandteile des Ereignisses wieder erlebt werden (Kriterium
B3) oder, wenn die Person mit Ereignissen konfrontiert wird, die sie an Aspekte des traumatischen Ereignisses erinnern oder
die diese symbolisieren, in Form von intensiver psychischer Belastung (Kriterium B4) oder physiologischer Reaktionen (Kriterium
B5). Charakteristische Symptome sind auch die andauernde Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert sind, und eine
Abflachung der allgemeinen Reagibilität in der Form, dass die Person im Allgemeinen versucht, Gedanken, Gefühle oder Gespräche
über das traumatische Ereignis (Kriterium C1) und Aktivitäten, Situationen oder Personen, die die Erinnerung an das Ereignis
wachrufen (Kriterium C2), absichtlich zu vermeiden, wobei die Vermeidung des Erinnerns die Unfähigkeit mit einschließen kann,
sich an einen wichtigen Aspekt des traumatischen Ereignisses zu erinnern (Kriterium C3), oder in Form von verminderter Reaktionsbereitschaft
auf die Umwelt, welche üblicherweise sehr bald nach dem traumatischen Erlebnis eintritt (Kriterium C4), eines Gefühls der
Isolierung und Entfremdung von Anderen (Kriterium C5) oder einer deutlich reduzierten Fähigkeit, Gefühle zu empfinden (Kriterium
C6) oder in der Form, dass betroffene Personen das Gefühl einer eingeschränkten Zukunft haben (Kriterium C7). Charakteristische
Symptome sind auch anhaltende Symptome erhöhten Arousals in Form von Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten, die durch wiederholte
Albträume, in denen das traumatische Erlebnis wieder erlebt wird, hervorgerufen werden können (Kriterium D1), Hypervigilanz
(Kriterium D4) und übertriebener Schreckreaktion (Kriterium D5), wobei manche Personen über Reizbarkeit oder Wutausbrüche
(Kriterium D2) oder Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren oder Aufgaben zu vollenden (Kriterium D3), berichten. Das vollständige
Symptombild muss länger als einen Monat anhalten (Kriterium E), und die Störung muss in klinisch bedeutsamer Weise Leiden
oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen (Kriterium F). Traumatische
Erfahrungen, die direkt erlebt wurden, umfassen insbesondere kriegerische Auseinandersetzungen, gewalttätige Angriffe auf
die eigene Person, Entführung, Geiselnahme, Terroranschlag, Folterung, Kriegsgefangenschaft, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager,
Natur- oder durch Menschen verursachte Katastrophen, schwere Autounfälle oder die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit.
Hinsichtlich Beginn und Dauer der Symptome wird unterschieden zwischen der akuten posttraumatischen Belastungsstörung (wenn
die Dauer der Symptome weniger als drei Monate beträgt), der chronischen posttraumatischen Belastungsstörung (wenn die Symptome
drei Monate oder länger andauern) und der posttraumatischen Belastungsstörung mit verzögertem Beginn (wenn mindestens sechs
Monate zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Beginn der Symptome vergangen sind). Die Symptome, wie beispielsweise verminderte
affektive Schwingungsfähigkeit, dissoziative Symptome, somatische Beschwerden, Gefühle der Insuffizienz in Form von Hoffnungslosigkeit,
sozialer Rückzug, ständiges Gefühl des Bedrohtseins oder beeinträchtigte Beziehung zu anderen oder Veränderung der Persönlichkeit
im Vergleich zu früher, beginnen normalerweise innerhalb der ersten drei Monate nach dem Trauma, obwohl sich die Ausbildung
der Symptome aber auch um Monate oder sogar Jahre verzögern kann. Die Schwere, Dauer und Nähe der Person bei Konfrontation
mit dem traumatischen Ereignis sind die wichtigsten Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit bestimmen, mit der die Störung sich
entwickelt. Es gibt Hinweise, dass soziale Unterstützung, Familienanamnese, Kindheitserfahrungen, Persönlichkeitsvariablen
und vorbestehende psychische Störungen die Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung beeinflussen können. Die Störung
kann sich auch bei Personen entwickeln, bei denen zuvor keine besondere Auffälligkeit vorhanden war, besonders dann, wenn
es sich um eine besonders extreme Belastung handelt.
Nach der AWMF-Leitlinie „posttraumatische Belastungsstörung“ Leitlinien-Register Nr. 051/010 ist die PTBS eine mögliche Folgereaktion
eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse (wie z. B. Erleben von körperlicher und sexualisierter Gewalt, auch in der Kindheit
<sogenannter sexueller Missbrauch>, Vergewaltigung, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, Entführung, Geiselnahme,
Terroranschlag, Krieg, Kriegsgefangenschaft, politische Haft, Folterung, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, Natur-
oder durch Menschen verursachte Katastrophen, Unfälle oder die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit), die an der eigenen
Person, aber auch an fremden Personen erlebt werden können. In vielen Fällen kommt es zum Gefühl von Hilflosigkeit und durch
das traumatische Erleben zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Das syndromale Störungsbild ist geprägt
durch:
· sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma (Intrusionen)
oder Erinnerungslücken (Bilder, Alpträume, Flashbacks, partielle Amnesie),
· Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziierter Stimuli),
· Übererregungssymptome (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit,
Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen) und
· emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interesseverlust, innere Teilnahmslosigkeit).
Die Symptomatik kann unmittelbar oder auch mit (z. T. mehrjähriger) Verzögerung nach dem traumatischen Geschehen auftreten
(verzögerte PTBS).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist festzustellen, dass die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung in einem
für die Führung des Vollbeweises erforderlichen Umfang festgestellt werden können. Y weist in seinem Gutachten vom 11. Juni
2021 darauf hin, dass sich bereits den Behandlungsberichten für die Zeit nach dem Unfallereignis vom 14. Februar 2014 die
Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in nachvollziehbarer Weise entnehmen lässt. Bereits dem Bericht des H1
Klinikums G vom 18. Februar 2014 über die viertägige stationäre Behandlung des Klägers lässt sich entnehmen, dass zum damaligen
Zeitpunkt eine deutliche Symptomatik einer akuten Belastungsreaktion zu sichern war. Die behandelnden Chirurgen haben bereits
damals bei einem Andauern der Beschwerden eine eingehende psychiatrische Behandlung empfohlen. Bereits in diesem Bericht wird
auch von immer wieder auftauchenden Bildern hinsichtlich des Unfallereignisses berichtet. Damit entwickelte der Kläger unmittelbar
nach dem Unfallereignis nicht nur die anerkannte "akute Belastungsreaktion" (F 43.0 ICD-10), sondern nachfolgend eine PTBS.
Angesichts dieser Feststellungen kann der Senat offenlassen, ob die Anerkennung einer PTBS als Unfallfolge die Feststellung
eines Erstschadens (einer sichtbaren Schreckreaktion) voraussetzt (vgl. zum Meinungsstand dazu Spellbrink, jurisPR-SozR 5/2022
Anm. 2). Soweit zugleich in dem Behandlungsbericht vom 18. Februar 2014 von einer retrograden Amnesie die Rede ist, steht
dies der Annahme einer PTBS nicht entgegen. Denn K2 hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. Februar 2019 gegenüber
dem Sozialgericht Gotha nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass es in der Traumapsychologie bekannt ist, dass es initial
nach einer tiefgreifenden Traumatisierung zu einer sogenannten peritraumatischen Überflutung kommen kann und sich aus dieser
Tatsache eine Amnesie erkläre. Deshalb sei im ICD-10 auch ein verzögerter Beginn einer posttraumatischen Belastungsstörung
anerkannt. Trotz der subjektiven Angabe der Amnesie ist daher von einer tiefgreifenden seelischen Traumatisierung des Klägers
durch das Unfallereignis auszugehen. Das Unfallereignis war geeignet, eine PTBS auszulösen. Sowohl K2 als auch Y halten das
Unfallereignis für geeignet, eine PTBS auszulösen. Zu Recht weisen beide Sachverständigen darauf hin, dass bei dem Kläger
zeitnah erhebliche psychoreaktive Störmuster im Vollbeweis belegt sind. Dem kann die Beklagte insbesondere durch ihren Beratungsarzt
K3 nicht entgegensetzen, dass dies so nicht der Fall sei. Dem widersprechen bereits die Ausführungen in dem Entlassungsbericht
des Klinikums G und die anschließend unmittelbar einsetzende psychotherapeutische Behandlung. Darin haben die Sachverständigen
K2 und Y typische Symptome einer zeitnahen Reaktionsform auf eine seelische Traumatisierung gesehen. Hinsichtlich der Geeignetheit
des Ereignisses ist auch darauf hinzuweisen, dass K2 in seinem Gutachten ausdrücklich ausführt, dass bei dem Kläger eine eindeutige
Todesangst festzustellen war. Entscheidend ist insoweit die Einschätzung des Sachverständigen K2, die auch von Y geteilt wird,
dass die vom Kläger vorgetragene Todesangst im Unfallmoment von diesem tatsächlich erlebt worden ist. Auch die weiteren Kriterien
einer posttraumatischen Belastungsstörung sind erfüllt. Der Sachverständige Y hat festgestellt, dass der Kläger von vornherein
mit den Zeichen einer seelischen Traumatisierung auf das Unfallereignis reagiert hat. Die nach der Leitlinie zur Diagnose
und Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung erforderlichen initialen Symptome seelischer Traumatisierung sind durchweg
gesichert. Y führt insoweit in seinem Gutachten vom 11. Juni 2021 aus, dass diese ausführlich und umfassend dokumentiert sind.
Daher ist im Einklang mit Y festzuhalten, dass der Kläger durch das Unfallereignis seelisch tief beeindruckt wurde, was sich
spätestens wenige Tage nach dem Unfall in einer vergleichsweise schwerwiegenden seelischen Symptomatik geäußert hat. Er wird
seitdem auch bei vorausgehender seelischer Gesundheit durch eine vergleichsweise schwerwiegende depressive Symptomatik mit
phobischen Symptomen beeinträchtigt. Anhaltspunkte dafür, dass dieses einmal gegebene Störungsbild auf andere Kausalbeziehungen
zurückzuführen sein sollte, bestehen nicht. Y führt hierzu aus, dass ein Vorschaden in Form seelischer Erkrankungen nicht
bestanden hat. Soweit von einem Herzinfarkt im Jahre 2005 und einer länger bestehenden Hauterkrankung berichtet wird, haben
sich daraus keine behandlungsbedürftigen psychischen Symptomatiken ergeben. Damit steht fest, dass auf der ersten Stufe der
Kausalitätsprüfung der notwendige naturwissenschaftlich-medizinische Zusammenhang gesichert ist. Die rechtliche Wesentlichkeit
ist ebenfalls zu bejahen. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Einwirkung durch das Unfallereignis rechtlich
unter Würdigung aller Umstände nicht die Realisierung einer in den Schutzbereich des Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr
ist. Mitwirkende unversicherte Ursachen sind nicht feststellbar. Denn ein Vorschaden auf psychiatrischem Fachgebiet konnte
nicht festgestellt werden. Die PTBS ist daher rechtlich wesentlich durch das Unfallereignis vom 14. Februar 2014 verursacht
worden. Ebenso ist die mittelschwere depressive Episode als Unfallfolge anzuerkennen. Eine solche ist nach den Ausführungen
der Sachverständigen K2 und Y vollbeweislich gesichert. Laut Y ist der psychopathologische Befund stimmig hierfür. Ihr Zusammenhang
mit dem Unfallgeschehen ist schlüssig dargelegt. Sie hat sich auf dem Boden der nachhaltigen seelischen Traumatisierung entwickelt.
Nach der ergänzenden Stellungnahme des Y vom 3. Januar 2022 ist eine Depression als Traumafolgestörung schlüssig, wenn zwischen
den einzelnen Störungsbildern sich überlappende Symptome, wie im Fall des Klägers, vorliegen. Das gleiche gilt für die von
der Beklagten bereits anerkannte Phobie. Ein Zusammenhang der Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet mit dem Schlafapnoesyndrom
ist nach der ergänzenden Stellungnahme des Y vom 3. Januar 2022 auszuschließen. Dort legt Y dar, dass das Störungsbild beim
Kläger durch ein Schlafapnoesyndrom nicht hervorgerufen werden kann.
Der Senat kann daher offenlassen, ob und wie es sich auswirkt, dass die Beklagte mit Bescheid vom 10. Juni 2016 das Ereignis
vom 14. Februar 2014 als Folgen des Arbeitsunfalls eine „vorübergehende posttraumatische Belastungsstörung“ bereits anerkannt
hat. Eine derartige Diagnose enthält der ICD 10 nicht. Mangels einer entsprechenden Einordnung in den Diagnosesystemen scheidet
jedoch eine Anerkennung einer vorübergehenden PTBS als Gesundheitsschaden und dem folgend als Unfallfolge schon deswegen aus.
Hinzu kommt, dass auch der jeweilige Leistungsträger der gesetzlichen Unfallversicherung nicht berechtigt ist, Gesundheitsschäden
im Rahmen der Feststellung der Unfallfolgen als „folgenlos ausgeheilt“, „ohne Funktionseinschränkung“ etc. einschränkend festzustellen
(vgl. Senatsurteil vom 21. Februar 2019 – L 1 U 1530/17 , Rn. 33 , Juris). Solches hat die Beklagte jedoch getan, indem sie eine „vorübergehende“ posttraumatische Belastungsstörung
als Unfallfolge festgestellt hat.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht Nordhausen aber die Beklagte verurteilt, den dekompensierten Tinnitus Grad IV als Folge des
Unfallereignisses vom 10. Februar 2014 anzuerkennen. Der Senat kann sich insoweit nicht die erforderliche Überzeugung verschaffen,
dass der Tinnitus mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis vom 14. Februar 2014 zurückzuführen ist. Zwar
leidet der Kläger an einem linksseitigen Tinnitus, der sich naturgemäß nicht objektivieren lässt, sich aber ausreichend sicher
aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen ergibt (vgl. bereits Stellungnahme des HNO-Arztes und Beratungsarztes der Beklagten
H2 vom 22. April 2014 und Gutachten E2 vom 28. Dezember 2017). Der Senat ist jedoch nicht davon überzeugt, dass dieser Tinnitus
auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich bedingt ist durch den Arbeitsunfall vom 14. Februar 2014. Wie für die
haftungsausfüllende Kausalität zwischen angeschuldigtem Ereignis und eingetretener Verletzungsfolge erforderlich ist, muss
es mindestens hinreichend wahrscheinlich sein, dass das Unfallereignis ursächlich für den beim Kläger aufgetretenen Tinnitus
geworden ist. Das wäre dann der Fall, wenn die Gründe für eine solche Kausalität die dagegen sprechenden deutlich überwögen.
Nach Auswertung aller fachärztlicher Stellungnahmen und Unterlagen gelangt der Senat jedoch zum gegenteiligen Ergebnis. Unter
Berücksichtigung der in der unfallmedizinischen Literatur erarbeiteten Grund-sätze zu möglichen Störungen bei HWS-Distorsionen
ist ein Tinnitus als Folge eines HWS-Traumas nur dann wahrscheinlich, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische
Befunde auftreten, etwa eine messbare Hörstörung, objektivierbare Gleichgewichtsstörungen, neurologische Ausfälle oder eine
Schädelbasisfraktur. Ein Tinnitus als alleiniges Symptom lässt sich in der Regel nicht als Unfallfolge begründen (vgl. hierzu
Feldmann, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. Auflage 2019, S. 391). Derartige objektivierbare pathologische Befunde
wurden beim Kläger im Zusammenhang mit dem Unfallereignis gerade nicht gesichert. Sie lassen sich weder den ersten HNO-Befundberichten
entnehmen, noch dem Gutachten von E2 vom 28. Dezember 2017. In diesem Gutachten wird die Kausalität wesentlich damit begründet,
dass vor dem Unfallereignis noch kein Tinnitus bestanden habe. Dies genügt nicht den Beweisgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung.
Damit kann bereits auf der 1. Stufe der Kausalitätsprüfung der notwendige naturwissenschaftlich-medizinische Zusammenhang
nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.
Soweit der Senat bei der Entscheidung auf die Erkenntnisse des Gutachtens des E2 vom 28. Dezember 2017 abstellte, hat er dieses
eingeholte Gutachten im Wege des Urkundenbeweises gewürdigt (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i. V. m. §§
415 ff. der
Zivilprozessordnung -
ZPO). Verwaltungsgutachten können nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch alleinige Entscheidungsgrundlage
sein, wenn das Gutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht, die an ein wissenschaftlich begründetes
Sachverständigengutachten zu stellen sind (vgl. BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 – B 2 U 25/17 R, Rn. 14 m.w.N., nach Juris). Das ist bei dem vorliegenden Gutachten des E2 vom 28. Dezember 2017 gegeben. Es erfüllt die
förmlichen und inhaltlichen Anforderungen eines ordnungsgemäßen Sachverständigengutachtens, stellt insbesondere den Krankheitsverlauf
auf HNO-Gebiet dar. Insbesondere werden Art und Ausmaß der hier in Streit befindlichen gesundheitlichen Verhältnisse auf HNO-Gebiet
festgestellt, weiter wird der Ursachenzusammenhang erörtert. Soweit der Senat der von E2 konkret vorgenommenen Kausalitätsbeurteilung
nicht folgt, beruht dies darauf, dass seine Begründung den Beweisgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht genügt.
Die medizinischen Anknüpfungstatsachen sind von ihm jedoch korrekt ermittelt und stellen eine ausreichende Grundlage dar,
um dem Senat eine eigene Überzeugungsbildung zu ermöglichen. Gründe, die gegen die Verwertung dieses Gutachtens sprechen sind
nicht ersichtlich. Auch die Besonderheiten des Urkundenbeweises (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
415 ZPO), wie z.B. die fehlende Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §§ 404a, 407a
ZPO), die fehlende Strafandrohung der §§
153 ff. des
Strafgesetzbuches (
StGB) und die fehlende Möglichkeit der Beeidigung (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
406 ZPO) und insbesondere das fehlende Fragerecht (§§
116 Satz 2,
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §§
397,
402,
411 Abs.
4 ZPO; §
62 SGG) begründen hier nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Nach Aktenlage bestand für die Einholung eines gerichtlichen
Sachverständigengutachtens auf HNO-Gebiet wegen der Vorermittlungen der Beklagten keine Notwendigkeit.
Der Hilfsbeweisantrag der Beklagten auf Einholung eines Kfz-Sachverständigengutachtens zu der Frage, mit welcher Geschwindigkeit
der Kläger und insbesondere das hinter ihm und vor ihm fahrende Kraftfahrzeug aufeinander fuhren und welche Kräfte einwirkten,
ist mangels Erheblichkeit abzulehnen. Entscheidend für die Einschätzung, ob das für die Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung
erforderliche Ereignis vorliegt, ist nicht die Frage, welche biomechanischen Kräfte im Einzelnen auf den Kläger eingewirkt
haben, sondern die Frage seiner seelischen Beeindruckung. Insoweit hat Y in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 3. Januar
2022 darauf hingewiesen, dass es darum geht, was der Kläger im Ereigniserleben hat hinnehmen müssen. Dies hat er als hoch
eingestuft und sich dabei auf die aktenkundigen Schilderungen und Verhaltensweisen bezogen. Nach der feststehenden Unfallsituation
ist eine seelische Beeindruckung des Klägers nicht von der Hand zu weisen. Dies hat auch K2 in seinem Gutachten im Verwaltungsverfahren
eingehend dargelegt. Beide Sachverständige haben nach eingehender Exploration des Klägers festgestellt, dass die von diesem
vorgetragene Todesangst im Unfallmoment von ihm tatsächlich erlebt worden ist. Allein dies ist entscheidend. Das genaue Ausmaß
der einwirkenden biomechanischen Kräfte ist hierfür unerheblich.
Des Weiteren hat das Sozialgericht die Beklagte zu Recht zur Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE i. H. v. 50 v.
H. verpflichtet. Nach §
56 Abs.
1 SGB VII haben Versicherte in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus Anspruch auf Gewährung
von Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. gemindert ist. Ein solcher Fall liegt hier vor.
Die Bemessung des Grades der MdE ist eine Tatsachenfeststellung, die das Gericht nach §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Neben der Feststellung der Beeinträchtigung
des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen
bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem
gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der
dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (vgl.
BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 - B 2 U 24/00 R, zitiert nach Juris). Bei der Bewertung der MdE ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher maßgebend, sondern vielmehr
der damit verbundene Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl.
BSG, Urteile vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R und vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R, beide zitiert nach Juris). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen
beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit
derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber
eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf
beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind
(vgl. BSG, Urteil vom 23. April 1987 - 2 RU 42/86, zitiert nach Juris). Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen
und medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend
sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis
bilden (vgl. BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R, zitiert nach Juris).
In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass der Kläger einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer
MdE von 50 v. H. auf Dauer hat. Der Senat folgt insoweit der überzeugend begründeten Einschätzung des Sachverständigen Y in
seinem Gutachten. Die MdE-Einschätzung hat aufgrund der anerkannten Unfallfolgen zu erfolgen. Unerheblich ist insoweit, dass
der Tinnitus nunmehr durch den Senat nicht als Unfallfolge anerkannt worden ist. Denn Y hat bei seiner Einschätzung der MdE
zwar den Tinnitus einbezogen, die insoweit durch den Sachverständigen beschriebenen Einschränkungen überlappen sich aber vollständig
mit den vorliegenden Beeinträchtigungen des Klägers auf psychiatrischem Fachgebiet. Ausgehend von den von Y in seinem Gutachten
konkret beschriebenen Beeinträchtigungen rechtfertigt dies auf psychiatrischem Fachgebiet eine MdE von 50 v. H. Nach den Erfahrungswerten
(Schönberger/Mehrtens/Valentin, 9. Auflage 2017, S. 170 ff.), ist bei einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
und einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten eine MdE von 50 v. H. gerechtfertigt. Solche Symptome hat Y festgestellt. Führend
sieht er inzwischen die mittelschwere depressive Episode an. Das psychosoziale Funktionsniveau des Klägers ist deutlichst
herabgesetzt. Der Kläger hat gegenüber dem Sachverständigen sehr plastisch die Einbußen in seiner Lebensgestaltung aufgezeigt.
Er leidet unter erheblichen Störungen der Merkfähigkeit und der Gedächtnisleistung. Es bestehen Konzentrationsschwierigkeiten,
eine depressive Herabsenkung der Stimmung und seine Eigeninitiative ist weitgehend aufgehoben. Eine willentliche Steuerung
seiner Affekte ist nicht gegeben. Dem Kläger kann es nicht zum Nachteil gereichen, dass nach Beendigung der Behandlung zu
Lasten der Beklagten eine weitere Behandlung der Unfallfolgen unterblieb. Die von K2 vorgeschlagene MdE war deutlich überhöht.
Insoweit nimmt der Senat auf die Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts Bezug.
Der Beginn der Verletztenrente folgt aus §
72 Abs.
1 Nr.
1 SGB VII. Da die Beklagte die Verletztengeldzahlung zum 13. August 2015 beendete, beginnt der Anspruch auf Verletztenrente am 14.
August 2015.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 SGG nicht vorliegen.