Höhe der Verletztenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung
Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes eines Chemikers mit noch ausstehender Promotion
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X über die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) als Grundlage für die Berechnung der Verletztenrente des Klägers.
Der am 1954 geborene Kläger verunfallte am 20.9.1983 mit seinem Motorrad auf dem Weg zu seiner Tätigkeit als wissenschaftliche
Hilfskraft an der Universität M., wodurch er eine komplette Querschnittslähmung ab dem vierten Brustwirbelkörper erlitt. Seit
dem 15.7.1981 war er dort als "wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss" im Fachbereich Chemie mit 92 Stunden im Monat zu
einem Jahreseinkommen von 21 126,58 DM brutto zuzüglich 1902,83 DM Weihnachtsgeld entsprechend einer halben A-13-Stelle beschäftigt.
Zuvor hatte er das Studium der Chemie als Diplom-Chemiker abgeschlossen. Zum Zeitpunkt des Unfalls war er verheiratet und
hatte drei Kinder. Das Arbeitsverhältnis war zunächst bis Ende 1983 befristet, wurde jedoch im Hinblick auf den Unfall bis
Juli 1985 verlängert, sodass der Kläger seine Promotion am 13.2.1985 zum Abschluss bringen konnte. Der Kläger hatte ohne den
Unfall den Abschluss der Promotion im Februar 1984 geplant.
Die Beklagte bewilligte durch Bescheid vom 23.8.1984 dem Kläger Verletztenrente ab 1.6.1984 nach einer MdE von 100 vH und
legte hierbei einen JAV von 23 029,41 DM (11.6.1984 bis 30.6.1984) bzw 23 331,09 DM (ab 1.7.1984 wegen einer Rentenanpassung)
zugrunde.
Am 8.12.2004 beantragte der Kläger die Überprüfung des JAV mit der Maßgabe, dieser sei auf der Grundlage einer vollschichtigen
Berufstätigkeit als Diplom-Chemiker zu berechnen.
Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Bescheids vom 23.8.1984 sowie die Neuberechnung der Verletztenrente ab (Bescheid vom
26.2.2008). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21.11.2008).
Auf die Klage vom 3.12.2008 hat das SG durch Urteil vom 6.10.2011 den Bescheid vom 26.2.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.11.2008 aufgehoben und
die Beklagte verurteilt, unter Zurücknahme des Bescheids vom 23.8.1984 die Verletztenrente des Klägers ab 1.1.2000 unter Beachtung
der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu berechnen sowie im Übrigen die Klage abgewiesen. Der seitens der Beklagten zugrunde
gelegte JAV sei unbillig iS des § 577
RVO.
Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG durch Urteil vom 29.4.2014 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen. Es hat außerdem die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen. Die Beklagte
habe im Bescheid vom 23.8.1984 die Höhe der Verletztenrente des Klägers zutreffend bemessen und sei insbesondere bei Feststellung
des JAV zu Recht von den Einkünften des Klägers entsprechend einer halben A-13-Stelle ausgegangen. Die nach § 44 Abs 1 SGB X maßgebliche Frage der zutreffenden JAV-Bemessung sei vom Senat nach den §§ 570 bis 578
RVO zu beurteilen. Die
SGB VII-Bestimmungen für "Altfälle" seien nur bei erstmaliger JAV-Feststellung oder bei erstmaliger Neufeststellung des JAV nach
§
90 SGB VII vorgesehen, nicht aber bei einer Überprüfung nach § 44 Abs 1 SGB X. Da der Kläger zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls das Examen als Diplom-Chemiker bereits abgelegt habe, habe er keinen
Anspruch auf Neufeststellung des JAV nach § 573 Abs 1
RVO gehabt.
Entgegen der erstinstanzlichen Auffassung komme eine Korrektur des JAV über die Billigkeitsregelung des § 577
RVO nicht in Betracht. Bei der Bewertung, ob der JAV unbillig sei, stehe dem Versicherungsträger kein Beurteilungsspielraum zu.
Ein Arbeitsentgelt, das einen nicht nur vorübergehend niedrigeren, dem Lebensstandard des Verletzten entsprechenden Verdienst
abbilde, sei grundsätzlich nicht als erheblich unbillig angesehen worden. Die Einkommenssituation des Klägers und seiner Familie
sei Mitte 1981 geprägt gewesen durch das aus der halben A-13-Stelle erzielte Einkommen als wissenschaftliche Hilfskraft.
Mit seiner Revision gegen das am 29.7.2014 zugestellte Urteil des LSG rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung des § 44 SGB X sowie des § 573 Abs 1
RVO als auch des § 577
RVO. Nach dem Wortsinn diene eine Berufsausbildung der Vermittlung bzw dem Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die zur späteren
Ausübung des Berufs benötigt werden. Für die berufliche Tätigkeit als Chemiker werde - anders als bei vielen anderen akademischen
Ausbildungsgängen - der erfolgreiche Abschluss eines Promotionsverfahrens als Eingangsqualifikation verlangt. Lediglich 5
bis 7 % der Diplom-Chemiker verließen die Hochschule ohne Promotion. Das LSG selbst habe die doppelte Ungleichbehandlung für
promovierte Chemiker und für andere Naturwissenschaftler genannt. Schließlich beruhe das Urteil des LSG auch auf einer Verletzung
des § 577
RVO. Zu berücksichtigen sei im Rahmen des § 577
RVO, wo der Versicherte den Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit bilden werde. Als vorübergehend sei ein niedrigeres Einkommen
auch dann einzustufen, wenn es über einen längeren Zeitraum als ein Jahr gezahlt werde, allerdings nach der Art der Beschäftigung
und der bestehenden Befristung zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls bereits sicher feststehe, dass es zB über den Zeitraum des
Ausbildungskontextes hinausgehend nicht maßgeblich sein werde. Die Dauerhaftigkeit sei nicht gegeben, weil das Beschäftigungsverhältnis
mit der Hochschule lediglich befristet und definitiv eine Verlängerung nach Abschluss des Promotionsverfahrens ausgeschlossen
gewesen sei. Die Vergütung des Klägers sei als Teilzeittätigkeit um 50 % unter einer qualifikationsadäquaten Vergütung zurückgeblieben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. April 2014 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 6.
Oktober 2011 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Februar 2008 und des Widerspruchsbescheides
vom 21. November 2008 die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 23. August 1984 abzuändern und dem Kläger ab dem 1. Januar
2000 Rente nach einem Jahresarbeitsverdienst entsprechend dem Gehalt eines vollschichtig tätigen promovierten Diplom-Chemikers
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, dass die Revision bereits unzulässig sei, weil der Revisionskläger die Voraussetzungen des §
44 SGB X nicht in Frage gestellt habe. Darüber hinaus liege weder eine Verletzung des § 573
RVO noch des § 577
RVO vor.
II
Die Revision ist zulässig. Der Revisionsbegründung lässt sich sinngemäß entnehmen, dass das Begehren des Klägers auf Überprüfung
einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung in einem Zugunstenverfahren gerichtet ist und er damit zwangsläufig eine Verletzung
von § 44 SGB X rügt. Auch im Übrigen genügt die Revision den Zulässigkeitsanforderungen gemäß §
164 Abs
2 Satz 3
SGG (BSG vom 19.8.2003 - B 2 U 38/02 R - SozR 4-2700 §
2 Nr 1 RdNr 7; Heinz in Roos/Wahrendorf,
SGG, §
164 RdNr 49).
Die Revision ist jedoch nicht begründet und daher zurückzuweisen (§
170 Abs
1 Satz 1
SGG). Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 26.2.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.11.2008,
durch welche es die Beklagte abgelehnt hat, ihren Bescheid vom 23.8.1984 abzuändern und dem Kläger Rente ab dem 1.1.2000 nach
einem JAV entsprechend dem Gehalt eines vollschichtig tätigen promovierten Diplom-Chemikers zu gewähren (vgl BSG vom 23.7.2015 - B 2 U 9/14 R - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, SozR 4-2700 § 82 Nr 1 RdNr 11).
Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sowie Leistungsklage gemäß §
54 Abs
1 und Abs
4 SGG. Die Anfechtungsklage zielt auf die Aufhebung der Überprüfungsbescheide, die Verpflichtungsklage auf die Aufhebung des bestandskräftigen
Bescheids vom 23.8.1984 sowie die Leistungsklage auf Zahlung einer höheren Rente ab (BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R - BSGE 115, 126 = SozR 4-1300 § 44 Nr 28, RdNr 11; BSG vom 19.12.2013 - B 2 U 17/12 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 1 RdNr 12; BSG vom 11.4.2013 - B 2 U 34/11 R - SozR 4-2700 §
200 Nr 4 RdNr 15; Bieresborn in Roos/Wahrendorf,
SGG, §
54 RdNr 232).
Die zulässigen Klagen sind nicht begründet. Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen
ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen
worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu
Unrecht erhoben worden sind. Die Beklagte ist weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen (§ 44 Abs 1 Satz 1 2. Alt SGB X), was seitens der Revision auch nicht geltend gemacht wird, noch hat sie bei Erlass des Bescheids vom 23.8.1984 entgegen
der Auffassung des Klägers das Recht unrichtig angewandt (§ 44 Abs 1 Satz 1 1. Alt SGB X). Sie hat zutreffend die Normen der
RVO zugrunde gelegt (dazu unter 1.). Das LSG hat ebenso zutreffend die Berechnung des JAV nach § 571
RVO nicht beanstandet und ist davon ausgegangen, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfallereignisses vom 20.9.1983
nicht mehr in der Berufs- oder Schulausbildung iS von § 573 Abs 1
RVO befand (dazu unter 2.). Schließlich war die Zugrundelegung eines hälftigen Jahreseinkommens nach Bundesbesoldungsgruppe A-13
auch nicht grob unbillig iS von § 577
RVO (dazu unter 3.).
1. Zutreffend hat das LSG die Normen der
RVO zugrunde gelegt. Nach §
212 SGB VII gelten die §§
1 bis
211 SGB VII (nur) für Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten des
SGB VII eingetreten sind, sodass für vor diesem Termin liegende Versicherungsfälle weiterhin die Vorschriften des
Dritten Buches der
RVO Anwendung finden. Weder erfolgte im vorliegenden Fall im Sinn der abweichenden Regelung des §
214 Abs
2 Satz 1
SGB VII die erstmalige Festsetzung vor Inkrafttreten des
SGB VII am 1.1.1997 (Art 36 UVEG - BGBl I 1996, 1254, 1317), weil bereits der zu überprüfende Bescheid der Beklagten vom 23.8.1984 die erstmalige Festsetzung einer Verletztenrente
enthielt. Noch stellt die Überprüfung im Jahr 2008 im Rahmen des § 44 SGB X eine Neufestsetzung "aufgrund des §
90 SGB VII" dar. Dementsprechend findet auf den vorliegenden Fall auch nicht §
90 Abs
2 SGB VII Anwendung. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, begründet §
214 Abs
2 Satz 1
SGB VII mangels materiellrechtlicher Rückwirkung nicht eine Anwendung des §
90 SGB VII in den "Altfällen", bei denen die Sachverhalte neuer, durch die Vorschrift erst geschaffener Voraussetzungen für eine Erhöhung
des JAV bereits vor dem 1.1.1997 eingetreten waren, weil dies einen Zirkelschluss bedeuten würde. Deshalb ist, wenn bei einem
vor Inkrafttreten des
SGB VII eingetretenen Versicherungsfall der JAV eines Versicherten nach Inkrafttreten des
SGB VII nach Altersstufen neu festgesetzt wird, hierfür noch die Höchstaltersgrenze des § 573 Abs 2
RVO und nicht die des §
90 Abs
2 SGB VII maßgebend, wenn der Versicherte wie im vorliegenden Fall das 30. Lebensjahr bereits vor Inkrafttreten des
SGB VII vollendet hatte (BSG vom 4.6.2002 - B 2 U 28/01 R - SozR 3-2700 § 214 Nr 2 S 7; vgl BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 14/11 R - juris RdNr 22 und BSG vom 19.12.2013 - B 2 U 5/13 R - SozR 4-2700 § 90 Nr 3 RdNr 12; s auch BT-Drucks 13/2204 S 121).
2. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass im Verwaltungsakt vom 23.8.1984 die Beklagte den JAV rechtmäßig nach § 571
RVO (dazu unter a) und ebenso rechtmäßig ohne Anwendung des § 573 Abs 1
RVO (dazu unter b) festgesetzt hat.
a) Nach § 571 Abs 1 Satz 1
RVO gilt der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§§
14,
15 SGB IV - s dazu BSG vom 23.7.2015 - B 2 U 9/14 R - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, SozR 4-2700 § 82 Nr 1 RdNr 14; s bereits BSG vom 27.11.1985 - 2 RU 55/84 - SozR 2200 § 577 Nr 11 = juris RdNr 13) des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall als JAV, welches nach den bindenden Feststellungen des
LSG (§
163 SGG) das Gehalt in Höhe einer halben A-13-Stelle von 21 126,58 DM zuzüglich 1902,83 DM war.
b) Zutreffend hat das LSG auch die (Neu-)Berechnung des JAV nach § 573 Abs 1
RVO abgelehnt. Nach dieser Norm wird, wenn sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung
befand und es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung
neu berechnet. Der Bescheid vom 23.8.1984 beruht nicht auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung iS von § 44 SGB X, weil die Beklagte etwa einen fiktiven JAV für die Zeit nach einer zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch betriebenen
Ausbildung hätte zugrunde legen müssen. Zwar findet nach Sinn und Zweck des § 573 Abs 1
RVO die Vorschrift auch bei erstmaliger Festsetzung nach dem Zeitpunkt des voraussichtlichen Endes der Ausbildung Anwendung (vgl
den Wortlaut der mit Art 1 Nr 1 des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942 [RGBl I 107]
neu eingefügten Vorläufernorm § 565
RVO sowie BSG vom 18.9.2012 -B2U 11/11 R - BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2, RdNr 18). Jedoch befand sich der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am 20.9.1983 nicht (mehr)
in einer Schul- oder Berufsausbildung, wie es § 573 Abs 1
RVO nach seinem Wortlaut voraussetzt. Die Ausbildung des Versicherten war zum Unfallzeitpunkt schon beendet. Er hatte nach den
nicht gerügten und daher bindenden Feststellungen des LSG (§
163 SGG) bereits vor dem Versicherungsfall sein Examen als Diplom-Chemiker abgelegt. Eine Neuberechnung der Verletztenrente erfolgt
nach der ständigen Rechtsprechung des Senats indes nur, wenn die Maßnahme, während der sich der Versicherungsfall ereignet
hat, zu einem - wenn auch nicht zwingend ersten - beruflichen Abschluss führt (BSG vom 7.2.2006 - B 2 U 3/05 R - SozR 4-2700 §
90 Nr 1 RdNr 18; Burchardt in Becker/Krasney/Kruschinsky/Burchardt/Heinz, Gesetzliche Unfallversicherung,
SGB VII, §
90 RdNr 13). Sobald das angestrebte Ausbildungsziel aber erreicht ist, kommt nur eine berufliche Weiterbildung in Betracht,
die der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung nicht der Berufsausbildung zugerechnet hat (s bereits BSG vom 30.11.1962 - 2 RU 193/59 - BSGE 18, 136, 140 = SozR Nr 5 zu § 565
RVO aF Aa 7; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - juris RdNr 16; BSG vom 5.8.1993 - 2 RU 24/92 - SozR 3-2200 § 573 Nr 2 S 5). Der Gesetzgeber hat diese Vorschrift insoweit durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30.4.1963
(BGBl I 241) trotz Kenntnis dieser Rechtsprechung nicht geändert (BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - juris RdNr 17), ebenso wenig hat er bei der Übernahme in §
90 SGB VII durch das UVEG vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) inhaltliche Änderungen vorgenommen.
Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am 20.9.1983 das angestrebte Ausbildungsziel des Diplom-Chemikers bereits
erreicht. Ein eigenes Berufsbild des "promovierten" DiplomChemikers existiert demgegenüber nicht. Der Senat hat in ständiger
Rechtsprechung ein Weiterstudium zum Zwecke der Promotion nicht als berufliche Ausbildung, sondern als berufliche Weiterbildung
angesehen (s zu einem Arzt BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - juris RdNr 17). Der Unterschied zwischen einem promovierten und einem nicht promovierten Chemiker besteht darin, dass ersterer
sich durch die Anfertigung einer Doktorarbeit erweiterte Kenntnisse auf einem Spezialgebiet der Chemie erworben, durch die
Ablegung des Doktorexamens seine Befähigung zu wissenschaftlichen Arbeiten besonders unter Beweis gestellt und sich für den
Wettbewerb im Wirtschafts- oder Arbeitsleben eine nach herkömmlicher Bewertung günstigere Position geschaffen hat. Diese Vorteile
gegenüber dem nicht promovierten Chemiker sind jedoch nicht das Ergebnis einer "Berufsausbildung". Dass jemand aus wirtschaftlichen
Gründen zur Promotion mehr oder weniger gezwungen gewesen ist, rechtfertigt unfallrechtlich keine andere Beurteilung (so bereits
BSG vom 30.11.1962 - 2 RU 193/59 - BSGE 18, 136, 140 = SozR Nr 5 zu § 565
RVO aF Aa 7 = juris RdNr 20), weshalb es unerheblich ist, dass - wie der Kläger vorträgt - mittlerweile nur 5 bis 7 % der Diplom-Chemiker
die Universität ohne Promotion verlassen.
Dass der Begriff der Berufsausbildung in § 573 Abs 1
RVO nicht über den Wortsinn hinaus auf andere Formen beruflicher Bildung ausgedehnt werden kann, folgt ua aus dem Ausnahmecharakter
der gesetzlichen Regelung, den die Rechtsprechung stets betont hat (BSG vom 26.7.1963 - 2 RU 13/61 - BSGE 19, 252, 254 = SozR Nr 6 zu § 565
RVO aF Aa 9; BSG vom 23.8.1973 - 8/2 RU 151/70 - SozR Nr 7 zu § 565
RVO aF Aa 11; BSG vom 26.3.1986 - 2 RU 32/84 - HV-Info 1986, 860; BSG vom 4.12.1991 - 2 RU 69/90 - HV-Info 1992, 598). Mit der Möglichkeit, bei Eintritt des Versicherungsfalls während einer Schul- oder Berufsausbildung die Bemessungsgrundlage
anzuheben, weicht das Gesetz für einen Sonderfall von dem die Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz ab, dass die Verdienstverhältnisse
vor dem Arbeitsunfall für alle Zukunft die maßgebende Grundlage der Geldleistungen bleiben und spätere Erwerbsaussichten bei
der Feststellung des JAV nicht zu berücksichtigen sind (BSG vom 27.2.1970 - 2 RU 135/66 - BSGE 31, 38, 40 = SozR Nr 1 zu § 573
RVO Aa 2; BSG vom 14.11.1974 - 8 RU 10/73 - BSGE 38, 216, 218 = SozR 2200 § 573 Nr 2 S 6; BSG vom 31.10.1978 - 2 RU 87/76 - BSGE 47, 137, 140 = SozR 2200 § 573 Nr 9 S 26). Einzig Personen, die bereits während der Zeit der Ausbildung für einen späteren Beruf
einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahr vor dem Unfall regelmäßig noch kein Arbeitsentgelt, sondern allenfalls eine
geringe Ausbildungsvergütung erhalten haben, sowie aufgrund des Versicherungsfalls ihre Ausbildung später beenden, sollen
zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung
der Berufsausbildung erlitten (s zum stimmigen Konzept des §
90 SGB VII BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 11/11 R - BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2, RdNr 35). Eine solche genau umschriebene Ausnahmeregelung kann nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung
auf andere, vermeintlich ähnlich liegende Sachverhalte erstreckt werden. Es besteht insoweit auch kein Widerspruch zu Vorschriften
der Krankenversicherung und Rentenversicherung, weil der Begriff der Berufsausbildung im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung
eigenständig ist (s bereits BSG vom 27.4.1960 - 2 RU 191/56 - BSGE 12, 109, 116; BSG vom 30.11.1962 - 2 RU 193/59 - BSGE 18, 136 = SozR Nr 5 zu § 565
RVO aF = juris RdNr 20). Schließlich bestehen zwischen Personen, die das Ausbildungsziel noch nicht erreicht haben und solchen,
die sich noch in der Ausbildung befinden, Unterschiede von solcher Art und Gewicht, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen,
sodass dahinstehen kann, ob es sich überhaupt um iS des Art
3 Abs
1 GG vergleichbare Personengruppen handelt (vgl zum Prüfungsmaßstab zu Art
3 Abs
1 GG BVerfG vom 28.4.1999 - 1 BvR 1926/96, 1 BvR 485/97 - BVerfGE 100, 104 = SozR 3-2600 § 307b Nr 6 S 45 f; BSG vom 18.6.2013 - B 2 U 6/12 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 22 RdNr 24).
3. Das LSG hat auch zutreffend erkannt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Bewilligung einer höheren Verletztenrente aufgrund
der Billigkeitsnorm des § 577
RVO hat. Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, ist als unbestimmter Rechtsbegriff durch das
Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 24/10 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 26; BSG vom 28.1.1993 - 2 RU 15/92 - HV-Info 1993, 972 mwN; BSG vom 30.10.1991 - 2 RU 61/90 - HV-Info 1992, 428; BSG vom 29.10.1981 - 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 mwN). § 577
RVO soll atypische Fallgestaltungen erfassen und - ausgerichtet ua am Lebensstandard des Versicherten - für diese zu einem billigen
Ergebnis führen. Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert
wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat. Die Regelungen
zur Berechnung des JAV sollen für den Regelfall eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des
JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen. Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirken
und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründen (unterwertige Beschäftigung; Verdienstausfall innerhalb
der Jahresfrist zB durch unbezahlten Urlaub; dazu BSG vom 11.2.1981 - 2 RU 65/79 - BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr 20 S 42 f), kann zur Vermeidung von Zufallsergebnissen eine Korrektur des JAV angezeigt sein (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 24/10 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 28).
Die Nachfolgeregelung des § 577
RVO - §
87 Satz 2
SGB VII - nennt, ohne abschließend zu sein (s bereits zum früheren Recht BSG vom 26.6.1958 - 2 RU 58/56 - BSGE 7, 269, 273; sowie BT-Drucks 13/2204 S 96), Kriterien für die Beurteilung der Unbilligkeit. Bei der Überprüfung des JAV sind die
Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls zu
berücksichtigen. In Bezug auf die erreichte "Lebensstellung" ist darauf abzustellen, welche Einkünfte die Einkommenssituation
des Versicherten geprägt haben (BSG vom 16.12.1970 - 2 RU 239/68 - BSGE 32, 169, 173 = SozR Nr 1 zu § 577
RVO Aa 1; BSG vom 11.2.1981 - 2 RU 65/79 - BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr 20 S 43; BSG vom 29.10.1981 - 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 S 14 mwN; BSG vom 9.12.1993 - 2 RU 48/92 - BSGE 73, 258, 260 = SozR 3-2200 § 577 Nr 1 S 3; BSG vom 3.12.2002 - B 2 U 23/02 R - SozR 3-2200 § 577 SozR 3-2200 § 577 Nr 2 = HVBG-Info 2003, 428; Schudmann in jurisPK-
SGB VII, 2. Aufl 2014, §
87 RdNr 18). In zeitlicher Hinsicht ist zu prüfen, welche Einkünfte der Versicherte innerhalb der Jahresfrist vor dem Versicherungsfall
erzielt hat. Seine Einnahmen aus Erwerbstätigkeit im maßgeblichen Jahreszeitraum sind mit dem Ergebnis der gesetzlichen Berechnung
zu vergleichen. Durch diesen Vergleich ergibt sich, ob der nach gesetzlichen Vorgaben festgesetzte Betrag des JAV außerhalb
jeder Beziehung zu den Einnahmen steht, die für den Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls oder innerhalb der Jahresfrist
vor diesem Zeitpunkt die finanzielle Lebensgrundlage gebildet haben (BSG vom 18.3.2003 - B 2 U 15/02 R - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 17; so auch BSG vom 28.4.1977 - 2 RU 39/75 - BSGE 44, 12 = SozR 2200 § 571 Nr 10). Die Festsetzung des JAV ist danach nicht in erheblichem Maße unbillig, wenn der ermittelte JAV
- wie hier ausgehend von einer halben A-13-Stelle - den Fähigkeiten, der Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten
in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat des Versicherungsfalls entspricht (BSG vom 15.9.2011 - B 2 U 24/10 R - SozR 4-2700 §
87 Nr 2 RdNr 26; Keller in Hauck/Noftz,
SGB VII, K §
87 RdNr 6).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.