Anspruch auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung bei einer Hilfeleistung zur Beseitigung
einer Gefahr im Straßenverkehr
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls.
Der Kläger war am 28.9.2006 mit seinem Kraftfahrzeug auf der BAB 6 in Richtung Mannheim unterwegs. Er hielt sein Fahrzeug
in Höhe des Kilometers 600,120 auf dem Standstreifen an, stieg aus und holte ein Kurbelstützrad von der Fahrbahn, das ein
vorausfahrender LKW verloren hatte. Danach überquerte er erneut die Fahrbahn, um auch die Stützradführungshülse zu entfernen.
Dieses ca 30 cm lange Metallrohr lag außerhalb der Fahrbahn neben der Mittelleitplanke und ragte bis an den Rand der Überholspur.
Auf der Fahrbahn wurde der Kläger von einem VW-Bus erfasst. Dabei erlitt er ein Schädelhirntrauma und diffuse Hirnkontusionen
mit Gedächtnisverlust sowie zahlreiche Frakturen.
Die Beklagte lehnte die Feststellung eines Arbeitsunfalls ab, weil von der Führungshülse keine Gefahr iS des §
2 Abs
1 Nr
13 Buchst a
SGB VII für andere Verkehrsteilnehmer ausgegangen sei (Bescheid vom 21.2.2008; Widerspruchsbescheid vom 27.5.2008). Das SG Speyer
hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.4.2010). Das LSG Rheinland-Pfalz hat diese Entscheidung sowie die angefochtene Ablehnung
des Feststellungsanspruchs durch die Beklagte aufgehoben und festgestellt, dass der Unfall vom 28.9.2006 ein Arbeitsunfall
ist. Der Kläger habe bei einer gemeinen Gefahr Hilfe geleistet. Die Führungshülse habe unzweifelhaft eine besondere Gefahr
für den Straßenverkehr bedeutet. Mit dem erneuten Betreten der Fahrbahn sei die Hilfeleistung zur Beseitigung der durch das
Stützrad bedingten Gefahr fortgesetzt worden (Urteil vom 23.2.2011).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des §
2 Abs
1 Nr
13 Buchst a
SGB VII sowie einen Verstoß gegen die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung. Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger erneut
die Fahrbahn betreten habe, um die Führungshülse aufzuheben. Zudem sei die mit dem Stützrad verbundene Gefahr beseitigt gewesen.
Von der Hülse selbst sei keine Gefahr ausgegangen. Sie habe außerhalb des Fahrstreifens gelegen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23.2.2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil
des Sozialgerichts Speyer vom 29.4.2010 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Die Ablehnung der Beklagten in ihrem Bescheid vom 21.2.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.5.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinem Anspruch auf Feststellung eines Versicherungsfalles
(Arbeitsunfall, Berufskrankheit) aus §
102 SGB VII iVm §
8 Abs
1 SGB VII. Er hat am 28.9.2006 einen Arbeitsunfall erlitten.
Nach §
8 Abs
1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende
Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Ein Arbeitsunfall setzt danach Folgendes voraus:
Eine Verrichtung des Verletzten zur Zeit des Unfalls (genauer: davor) muss den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten
Tätigkeit erfüllt haben. Diese Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und
dieses Unfallereignis muss einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität
und haftungsbegründende Kausalität; vgl BSG vom 4.9.2007 - B 2 U 24/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 24 RdNr 9 mwN).
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger hat zur Zeit des Unfalls als Hilfeleistender iS von §
2 Abs
1 Nr
13 Buchst a Alt 2
SGB VII eine versicherte Tätigkeit verrichtet. Diese Verrichtung hat seine Kollision mit dem VW-Bus, also das Unfallereignis, und
dieses hat sein Schädelhirntrauma sowie seine diffusen Hirnkontusionen und damit seinen Gesundheitserstschaden wesentlich
verursacht.
Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln eines Verletzten, das seiner Art nach von Dritten beobachtbar (BSG vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 22) und (zumindest auch) auf die Erfüllung des Tatbestandes der jeweiligen versicherten Tätigkeit
ausgerichtet (sog objektivierte Handlungstendenz) ist. Mit seinem Handeln zur Zeit des Unfalls, dem Überqueren der Fahrbahn,
um die Führungshülse des Stützrades zu entfernen, hat der Kläger den Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt. Denn
nach §
2 Abs
1 Nr
13 Buchst a Alt 2
SGB VII sind ua Personen kraft Gesetzes versichert, die bei gemeiner Gefahr Hilfe leisten.
Der Tatbestand der versicherten Tätigkeit der Hilfeleistung bei gemeiner Gefahr iS des §
2 Abs
1 Nr
13 Buchst a Alt 2
SGB VII ist nicht auf Hilfeleistungen begrenzt, deren Unterlassen nach §
323c StGB mit Strafe bedroht ist. Er setzt, anders als der Straftatbestand, nicht voraus, dass die erforderliche Hilfeleistung dem
Helfenden zuzumuten und insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich
war. Gesetzlich unfallversichert ist nicht nur jede vom Handlungszwang des §
323c StGB erfasste Hilfeleistung. Auch eine nach dieser Vorschrift nicht gebotene erforderliche Hilfeleistung ist gemäß §
2 Abs
1 Nr
13 Buchst a Alt 2
SGB VII versichert, falls objektiv eine gemeine Gefahr vorliegt.
Eine gemeine Gefahr besteht, wenn aufgrund der objektiv gegebenen Umstände zu erwarten ist, dass ohne sofortiges Eingreifen
eine erhebliche Schädigung von Personen oder bedeutenden Sachwerten eintreten wird (vgl BSG vom 13.9.2005 - B 2 U 6/05 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 7 RdNr 14). Eine solche Gefahrensituation war für die Straßenverkehrsteilnehmer aufgrund der Lage der
Stützradführungshülse am Rand des Autobahnfahrstreifens gegeben.
Entgegen der Auffassung der Beklagten scheidet die gemeine Gefahr nicht deshalb aus, weil sich die Führungshülse nicht auf
der Fahrbahn selbst befunden hat. Bei der Führungshülse handelte es sich um ein ca 30 cm langes massives Metallrohr, das zwar
außerhalb des Fahrstreifens lag, jedoch bis an den Rand der linken Überholspur ragte. Es entspricht der allgemeinen und gerichtsbekannten
Lebenserfahrung, dass Verkehrsteilnehmer auf Überholspuren von Autobahnen häufig ihr Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit aus
Unachtsamkeit oder verkehrsbedingt über die Fahrstreifenbegrenzung hinaus auf den Randstreifen zur Mittelleitplanke steuern
(müssen), ferner dass ein ca 30 cm langes massives Metallrohr durch Witterungseinflüsse auf die Fahrbahn geraten und daher
im Ablauf des Verkehrs zur Seite, hoch- oder nach hinten geschleudert werden kann. Diese Erfahrungssätze hat auch die Beklagte
in der mündlichen Verhandlung vor dem BSG nicht infrage gestellt. Da anderen Verkehrsteilnehmern damit eine Verletzung von Leben, Gesundheit oder Eigentum drohte,
waren sie in erhöhtem Maße gefährdet. Angesichts der von der Führungshülse objektiv ausgegangenen gemeinen Gefahr kommt es
nicht mehr darauf an, ob der Kläger nach den für ihn erkennbaren Umständen eine solche Gefahr angenommen hat.
Der Kläger hat bei dieser gemeinen Gefahr auch notwendige Hilfe geleistet. Die Entfernung des Metallrohres war als einzige
Möglichkeit der unverzüglichen Gefahrenbeseitigung erforderlich, da sich die Gefahr für unbestimmt viele Motorrad- und Autofahrer
sofort und jederzeit verwirklichen konnte.
Das Hilfeleisten ist eine Unterstützungshandlung, die darauf ausgerichtet ist, eine gemeine Gefahr zu beseitigen oder aus
ihr erwachsende Störungen abzuwenden (vgl BSG vom 15.6.2010 - B 2 U 12/09 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 15 RdNr 17). Solche Hilfe kann nur geleistet werden, solange die gemeine Gefahr andauert (vgl BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 30 RdNr 18). Zum Unfallzeitpunkt ging lediglich von der Führungshülse eine gemeine Gefahr aus. Das Bergen
des Stützrades und der Führungshülse sind eigenständig zu bewertende Handlungen, die keinen einheitlichen Lebensvorgang bilden.
Die mit dem Stützrad verbundene Gefahr war mit seiner Beseitigung von der Fahrbahn beendet. Mit dem anschließenden Überqueren
der Fahrbahn zur Entfernung der Führungshülse ist die zuvor erbrachte Hilfeleistung des Wegräumens des Stützrades nicht fortgesetzt
worden. Der Kläger hat sich vielmehr erneut in die allein von der Führungshülse und ihrer angestrebten Beseitigung ausgehende
Gefahr begeben.
Bei dieser Gefahr hat der Kläger schon mit dem erneuten Überqueren der Fahrbahn Hilfe geleistet. Gesetzlich unfallversichert
nach §
2 Abs
1 Nr
13 Buchst a Alt 2
SGB VII ist nicht allein der unmittelbare Vorgang der Beseitigung der Gefahr oder des Abwendens von Störungen hieraus. Die versicherte
Hilfeleistung erfasst auch den (gefährlichen) Weg in den und aus dem Gefahrenbereich, der zur Gefahrenbeseitigung zurückgelegt
wird. Sie beginnt daher mit dem Eintritt und endet mit dem Verlassen dieses Gefahrenbereichs. Der darin zurückgelegte Weg
zum und vom Ort der unmittelbaren Gefahr sowie die Hilfeleistung selbst bilden einen einheitlichen Lebensvorgang (vgl BSG vom 12.12.2006 - B 2 U 39/05 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 9 RdNr 19).
An die Feststellung des LSG, der Kläger habe, als er die Fahrbahn erneut überquerte, sein Handeln darauf ausgerichtet, die
Führungshülse zu entfernen (sog objektivierte Handlungstendenz), ist der Senat gebunden (§
163 SGG), weil diese Feststellung einer inneren Tatsache (BSG vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 23) nicht mit zulässig erhobenen Verfahrensrügen angegriffen worden ist.
Die Rüge der Beklagten, bei ordnungsgemäßer Beweiswürdigung wäre das Berufungsgericht nicht von einer auf Gefahrenabwehr gerichteten
Handlungstendenz ausgegangen, ist nicht ordnungsgemäß erhoben. Sie hätte darlegen müssen, dass das LSG die Grenzen seiner
ihm durch §
128 Abs
1 Satz 1
SGG eingeräumten Befugnis verletzt hat, nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden.
Es hätte insoweit aufgezeigt werden müssen, dass es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen oder das Gesamtergebnis
des Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt hat (BSG vom 31.5.2005 - B 2 U 12/04 R - SozR 4-5671 Anlage 1 Nr 2108 Nr 2 RdNr 9). Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung nicht gerecht.
Die Beklagte hat nicht behauptet, das LSG habe einen bestehenden Erfahrungssatz nicht berücksichtigt oder einen tatsächlich
nicht existierenden Erfahrungssatz herangezogen (vgl hierzu BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 24/00 R - SozR 3-2200 § 581 Nr 8 S 37 mwN). Auch ein sog Denkgesetz, gegen das das LSG verstoßen haben könnte, ist nicht aufgezeigt
worden. Dass es zu einer bestimmten, aus seiner Sicht erheblichen Frage aus den gesamten rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten
nur eine Folgerung hätte ziehen können, jede andere nicht folgerichtig "denkbar" ist und das Gericht die allein in Betracht
kommende nicht gesehen hat (vgl BSG vom 11.6.2003 - B 5 RJ 52/02 R - Juris RdNr 13 mwN), legt die Revision nicht dar.
Aus ihrem Vortrag geht auch nicht hervor, dass das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht hinreichend berücksichtigt worden wäre.
Soweit sie geltend macht, eine beabsichtigte Hilfeleistung sei von den im Ermittlungsverfahren vernommenen Zeugen nicht bestätigt
worden, wird übersehen, dass die Bewertung von Zeugenaussagen als Teil der Beweiswürdigung zur Feststellung von Tatsachen
des Einzelfalls allein in die Kompetenz des Berufungsgerichts fällt und dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt ist. Die
Beklagte setzt nur ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG. Allein damit ist aber eine Verletzung der Grenzen
des Rechts auf freie Beweiswürdigung nicht formgerecht gerügt (BSG vom 23.8.2007 - B 4 RS 3/06 R - SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 31).
Die Hilfeleistung des Klägers hat das Unfallereignis, die Kollision mit dem VW-Bus, und dieses hat den Gesundheitserstschaden,
ein Schädelhirntrauma sowie diffuse Hirnkontusionen, rechtlich wesentlich verursacht. Weil diese Kausalzusammenhänge offenkundig
gegeben sind, konnte sich das LSG darauf beschränken, die Verrichtung der versicherten Tätigkeit, das von außen auf den Körper
einwirkende Ereignis und die Gesundheitsbeeinträchtigung festzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.