Anspruch auf Gewaltopferentschädigung für ein Kind; Leistungsbeginn bei verspäteter Antragstellung durch den gesetzlichen
Vertreter; Zurechnung einer schuldhaft unterlassenen früheren Antragstellung
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über den Beginn der dem Kläger zuerkannten Leistungen der Beschädigtenversorgung (Grundrente, Kleiderverschleißpauschale,
Pflegezulage, Schwerstbeschädigtenzulage, Ausgleichsrente) nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der am 20.6.1998 geborene Kläger ist das Kind von B. (Mutter) und Br. (Vater). Die unverheirateten Eltern bezogen kurz nach
der Geburt des Klägers (1.7.1998) eine gemeinsame Wohnung. Wegen erheblicher Spannungen in der Beziehung zum Vater zog die
Mutter mit dem Kläger Anfang September 1998 wieder zurück zu ihrer Mutter in die elterliche Wohnung.
Als der Vater sie dort am 22.9.1998 besuchte und im Kinderzimmer allein mit dem Kläger war, legte er das damals drei Monate
alte Kind in einen mitgebrachten, großen Müllsack, knotete diesen fest zu und versteckte ihn im Kinderwagen unter anderen
Bettsachen. Dadurch erlitt der Kläger schwerste Schädigungen (insbesondere eine Cerebralparese).
Nachdem die Mutter die Polizei gerufen hatte, wurde der Vater noch am Tatort vorläufig festgenommen. Aufgrund eines Haftbefehls
vom darauffolgenden Tag befand sich dieser seitdem in Haft. In der Hauptverhandlung des Schwurgerichts legte der Vater ein
Geständnis ab. Er wurde am 24.3.1999 vom Landgericht K. wegen versuchten Totschlags zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe
verurteilt. Die Mutter, die nach der Tat des Vaters alleinige gesetzliche Vertreterin des Klägers war, wurde im Rahmen des
Strafverfahrens auf die Möglichkeit einer Antragstellung nach dem
OEG hingewiesen. Sie machte davon jedoch keinen Gebrauch, weil sie finanzielle Nachteile für den Vater befürchtete.
Die Mutter hatte schon während der Untersuchungshaft wieder brieflich Kontakt zum Vater aufgenommen. Ab dem 22.4.1999 besuchte
sie diesen regelmäßig in den Justizvollzugsanstalten. Sie wurde in der Folgezeit auch zum Langzeitbesuch (Zeitraum von drei
Stunden unkontrolliert) zugelassen. Es kam im Gefängnis zu sexuellen Kontakten. Im Frühjahr 2000 verlobten sich die Mutter
und der Vater des Klägers. Sie planten, nach der Haftentlassung wieder zusammen zu ziehen und später zu heiraten. Am 10.4.2004
wurde der Vater erstmals in die Wohnung der Mutter ausgeführt. Am 2.9.2004 beendete diese die Beziehung zum Vater endgültig.
Am 20.9.2004 beantragte die Mutter als gesetzliche Vertreterin des Klägers - auf eindringliches Zureden der Versorgungsverwaltung
- beim damaligen Versorgungsamt K. für diesen die Gewährung von Leistungen der Beschädigtenversorgung nach dem
OEG. Zuvor hatte sie bereits am 23.2.2000 bei der Pflegekasse für den Kläger Pflegegeld beantragt, das ab 1.3.2000 bewilligt
wurde. Außerdem hatte sie am 18.9.2001 beim damaligen Versorgungsamt K. erfolgreich die Feststellung des Grades der Behinderung
des Klägers nach dem Schwerbehindertenrecht beantragt.
Mit Bescheid vom 5.7.2006 stellte das Versorgungsamt K. beim Kläger ua eine Cerebralparese als Folge einer Schädigung im Sinne
des
OEG fest und gewährte ihm ab 1.9.2004 Leistungen der Beschädigtenversorgung in entsprechender Anwendung der Bestimmungen des
BVG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH, im einzelnen Grundrente, Kleiderverschleißpauschale nach der Bewertungszahl
65, Pflegezulage der Stufe V und Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe VI.
Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch begehrte der Kläger, gesetzlich vertreten durch seine Mutter, einen früheren Leistungsbeginn.
Ihm könne die nicht rechtzeitige Antragstellung seiner Mutter nicht zugerechnet werden. Diese habe sich in einer Konfliktsituation
zwischen ihm (dem geschädigten Kind) und dem Täter befunden. Diese Konfliktlage werde von der Rechtsordnung zB durch ein Zeugnisverweigerungsrecht
geschützt, das hier spätestens seit der Verlobung mit dem Vater bestanden habe. Die Frist zur Antragstellung habe sich deshalb
nach § 60 Abs 1 Satz 3 BVG verlängert. Die Bezirksregierung M. (Abteilung Soziales und Arbeit, Landesversorgungsamt) wies diesen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid
vom 30.11.2006 zurück. Dagegen hat der Kläger am 15.12.2006 Klage erhoben.
Mit Bescheid vom 3.1.2007 gewährte das Versorgungsamt K. dem Kläger außerdem Ausgleichsrente ab 1.9.2004.
Mit Wirkung zum 1.1.2008 sind die Aufgaben des Sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung durch
Art 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen (= Art
1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007, GVBl NRW 482, [Eingliederungsgesetz])
auf die Landschaftsverbände übertragen worden.
Auf entsprechenden Klageantrag hat das Sozialgericht Köln (SG) den nunmehr beklagten Landschaftsverband R. verurteilt, "unter Abänderung des Bescheides des Versorgungsamtes Köln vom 5.7.2006
in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2006 und des Bescheides vom 3.1.2007 dem Kläger auch für die Zeit von
September 1998 bis August 2004 Beschädigtenversorgung nach dem
OEG iVm den Vorschriften des BVG nach einem GdS um 100 vH zu gewähren" (Urteil vom 21.4.2008 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 21./28.4.2008).
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die dagegen eingelegte Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil
vom 9.9.2008). Es hat ausgeführt: Richtiger Beklagter sei seit dem 1.1.2008 der Landschaftsverband R.. Das SG habe diesen zu Recht verurteilt, dem Kläger "nach Maßgabe des § 60 Abs 1 Satz 2 BVG" Versorgung nach dem
OEG iVm dem BVG bereits ab September 1998 zu zahlen. Dem im Zeitpunkt der Gewalttat erst drei Monate alten Kläger könne das pflichtwidrige
Verhalten seiner allein sorgeberechtigten Mutter im Hinblick auf die verspätete Antragstellung nicht zugerechnet werden. Das
SG habe die vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 28.4.2005 aufgestellten Grundsätze zu Recht auf den hier zu beurteilenden
Sachverhalt übertragen. Es habe richtigerweise darauf abgestellt, dass sich die Mutter in einer Konfliktsituation befunden
habe. Bis zur Trennung vom Vater habe ein erheblicher täterbezogener Konflikt vorgelegen, in dem die Mutter das Interesse
an der Aufrechterhaltung der Liebesbeziehung zum Vater über das Wohl des Klägers gestellt habe. Die Beziehungen seien jedenfalls
ab Frühjahr 1999 wieder eng verflochten gewesen. Es liege damit genau die vom BSG angesprochene Situation vor, dass die Antragstellung
nach dem
OEG und der aus Sicht der Mutter zu erwartende Regress gegen den Vater zu einem Bruch oder einer erheblichen Belastung der Beziehung
zu dem straffällig gewordenen Familienangehörigen habe führen können. Dem Kläger sei ein solches Versagen der allein sorgeberechtigten
Mutter im Rahmen des § 60 Abs 1 BVG nicht als Verschulden zuzurechnen. Der Senat habe deshalb nicht mehr unter dem Gesichtspunkt eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
zu prüfen gehabt, ob es sich der Krankenkasse im Jahre 1999, der Pflegekasse im Jahre 2000 oder insbesondere der Versorgungsverwaltung
im September 2001 hätte aufdrängen müssen, die Mutter dazu anzuhalten, zu Gunsten des Klägers einen Antrag nach dem
OEG zu stellen.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung von § 60 Abs 1 BVG (iVm §
1 Abs
1 Satz 1
OEG). Nach § 60 Abs 1 Satz 3 BVG könnten Leistungen vor der Antragstellung im September 2004 nur gewährt werden, wenn eine unverschuldete Verhinderung, den
Antrag zu stellen, angenommen werden könne. Der Kläger habe zwar als (sozialrechtlich) Handlungsunfähiger keinen Antrag stellen
können. Ihm sei jedoch zuzurechnen, dass seine Mutter es als seine gesetzliche Vertreterin schuldhaft unterlassen habe, rechtzeitig
einen Antrag nach dem
OEG zu stellen. Bei der hier vorliegenden Konfliktsituation sei entgegen der Auffassung der Vorinstanzen keine Ausnahme von dem
Grundsatz der Zurechnung zu machen. Es habe kein tatbezogenes Motiv für die Mutter gegeben, keinen Versorgungsantrag zu stellen,
denn der Täter sei unmittelbar nach der Tat verhaftet worden. In den ersten Monaten nach der Tat habe auch kein täterbezogener
Hinderungsgrund bestanden, denn die Mutter habe sich kurz vor der Tat von dem Täter getrennt und sich diesem erst während
der Haft wieder zugewandt. Auch nachdem sie im Strafverfahren auf die Möglichkeit der Antragstellung nach dem
OEG hingewiesen worden sei, habe sie eine solche unterlassen, weil sie Nachteile für den Täter befürchtet habe. Diese Umstände
reichten nicht aus, um eine Ausnahme von dem Grundsatz der Zurechnung zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9.9.2008 und das Urteil des SG Köln vom 21.4.2008 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses
vom 21./28.4.2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §
124 Abs
2 SGG).
II
Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil des LSG vom 9.9.2008 ist aufzuheben. Der Berufung
des Beklagten ist insoweit stattzugeben, als in dem Urteil des SG vom 21.4.2008 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 21./28.4.2008 über den Bescheid vom 3.1.2007 entschieden worden
ist, denn dieser Bescheid ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht gemäß §
96 Abs
1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Im Übrigen ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen
(§
170 Abs
2 Satz 2
SGG). Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG lassen eine abschließende Entscheidung des Senats über einen früheren Leistungsbeginn
nicht zu.
1. Gegenstand der Revision ist das die Berufung des Beklagten zurückweisende Urteil des LSG. Dieses hat die Entscheidung des
SG bestätigt, das der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
1 Satz 1 und Abs
4 SGG) des Klägers auf früheren Leistungsbeginn von Grundrente, Kleiderverschleißpauschale, Pflegezulage, Schwerbeschädigtenzulage
und Ausgleichsrente stattgegeben hat, indem es den Beklagten "unter Abänderung des Bescheides des Versorgungsamtes Köln vom
5.7.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2006 und des Bescheides vom 3.1.2007" verurteilt hat, "dem Kläger
auch für die Zeit von September 1998 bis August 2004 Beschädigtenversorgung nach dem
OEG iVm den Vorschriften des BVG nach einem GdS um 100 vH zu gewähren".
Zu Unrecht haben die Vorinstanzen den nach Klageerhebung erlassenen Bescheid vom 3.1.2007, in dem das damals zuständige Versorgungsamt
Köln über die Ausgleichsrente entschieden hat, in das Verfahren einbezogen. Sie sind irrtümlich davon ausgegangen, dass dieser
Verwaltungsakt nach §
96 Abs
1 SGG Gegenstand der am 15.12.2006 erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geworden ist. Nach dieser Vorschrift
(in der vor dem 1.4.2008 geltenden Fassung) wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens, wenn er nach Klageerhebung
den (angefochtenen) Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Dies ist hier nicht der Fall.
Gegenstand der am 15.12.2006 erhobene Anfechtungsklage ist die durch Bescheid vom 5.7.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 30.11.2006 erfolgte Ablehnung der Gewährung von Grundrente, Kleiderverschleißpauschale, Pflegezulage und Schwerstbeschädigtenzulage
für die Zeit vor dem 1.9.2004. Soweit der Kläger mit der Leistungsklage "Beschädigtenversorgung ab dem 22.9.1998" geltend
macht, ist dieses Begehren nach §
123 SGG dahingehend auszulegen, dass er alles zugesprochen haben möchte, was ihm auf Grund des Sachverhalts zusteht. In zulässiger
Weise kann er jedoch nur genau bestimmte Leistungen einklagen, über die bereits eine mit der Klage angefochtene Verwaltungsentscheidung
vorliegt, also Grundrente, Kleiderverschleißpauschale, Pflegezulage und Schwerstbeschädigtenzulage. Durch Bescheid vom 3.1.2007
hat das damals zuständige Versorgungsamt über eine weitere Leistung und deren Beginn entschieden und dem Kläger ebenfalls
erst ab 1.9.2004 Ausgleichsrente gewährt. Damit hat es den angefochtenen Verwaltungsakt weder abgeändert noch ersetzt, denn
der Regelungsgegenstand des neuen Verwaltungsakts ist nicht mit dem des früheren Verwaltungsakts identisch (vgl BSGE 47, 168, 170 = SozR 1500 § 96 Nr 13 S 19 f; BSGE 77, 279, 281 = SozR 3-2500 § 85 Nr 10 S 55; BSGE 78, 98, 100 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 12 S 36 f; BSGE 90, 143, 144 f = SozR 3-2500 § 37 Nr 5 S 29 f). Dies kommt auch im Wortlaut des Bescheids zum Ausdruck ("im Anschluss an den Bescheid
vom 5.7.2006 ergeht weiterer Bescheid").
Vorliegend sprechen auch keine Gründe der Prozessökonomie für eine weite Auslegung oder eine entsprechende Anwendung des §
96 Abs
1 SGG (dazu etwa BSGE 47, 168, 170 = SozR 1500 §
96 Nr 13 S 20; BSGE 78, 98, 101 ff = SozR 3-2500 § 87 Nr 12 S 36 ff; BSGE 90, 143, 145 = SozR 3-2500 § 37 Nr 5 S 29 f; BSGE 91, 128 = SozR 4-2700 § 157 Nr 1, jeweils RdNr 8; BSGE 93, 109 = SozR 4-5375 § 2 Nr 1, jeweils RdNr 10 ff; BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 14). Denn in Bezug auf den Bescheid über die Ausgleichsrente
für einen jugendlichen Schwerbeschädigten müsste auf zusätzliche für den konkreten Anspruch rechtserhebliche tatsächliche
Gesichtspunkte eingegangen werden. Gemäß § 34 Abs 2 Satz 1 BVG ist diese Leistung nämlich nur insoweit zu gewähren, als dies nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Beschädigten und
seiner unterhaltspflichtigen Angehörigen gerechtfertigt ist. Die Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse für den Zeitraum
September 1998 bis August 2004, die hier die Vorinstanzen unterlassen haben, würde zu einer Komplizierung des Verfahrens führen,
die dem Zweck des §
96 Abs
1 SGG, eine schnelle, erschöpfende Entscheidung über das gesamte Streitverhältnis zu ermöglichen, widersprechen würde. Der Kläger
erleidet dadurch auch keinen Rechtsnachteil, denn das damals zuständige Versorgungsamt K. hatte ihn in der Rechtsbehelfsbelehrung
zutreffend darüber belehrt, dass gegen den Bescheid vom 3.1.2007 Widerspruch erhoben werden kann, den er auch fristgerecht
eingelegt hat.
Die Nichtanwendbarkeit des §
96 Abs
1 SGG schließt es zwar nicht aus, dass die Beteiligten den Bescheid vom 3.1.2007 im Wege der (gewillkürten) Klageänderung nach
§
99 Abs
1 SGG zum Gegenstand des anhängigen Verfahrens gemacht haben. Aus den Akten ergeben sich jedoch weder Anhaltspunkte dafür, dass
das SG insoweit eine Klageänderung für sachdienlich gehalten hat (§
99 Abs
1 Nr
1 SGG), noch dass darin der Beklagte eingewilligt hat (§
99 Abs
1 Nr
2 und Abs
2 SGG). Zudem setzt eine Klageänderung grundsätzlich voraus, dass die neue Klage zulässig ist, also ein Vorverfahren durchgeführt
worden ist (§
78 SGG; vgl etwa BSG SozR 4-2700 §
63 Nr 3 RdNr 14). Dies ist hier nicht der Fall.
Die fehlerhafte Einbeziehung eines neuen Verwaltungsakts hat das Revisionsgericht ohne Rüge von Amts wegen als Verfahrensfehler
zu berücksichtigen (vgl etwa BSG SozR 3-1500 § 29 Nr 1 S 6; BSGE 91, 287 = SozR 4-2700 § 160 Nr 1, jeweils RdNr 6). Das hat hier zur Folge, dass die Urteile der Vorinstanzen schon aus diesem Grund
insoweit aufzuheben sind, als darin über den Bescheid des Versorgungsamts Köln vom 3.1.2007 entschieden worden ist. Auf die
Berufung des Beklagten ist deshalb insoweit das Urteil des SG in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses aufzuheben und die Klage als unzulässig abzuweisen.
2. Im Übrigen ist die Revision des Beklagten im Sinne der Zurückverweisung begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG). Ob das SG - bestätigt vom LSG - der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage, soweit sich diese gegen die Ablehnung eines früheren
Leistungsbeginns von Grundrente, Kleiderverschleißpauschale, Pflegezulage und Schwerstbeschädigtenzulage im Bescheid vom 5.7.2006
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2006 richtet, zu Unrecht stattgegeben hat, kann der Senat aufgrund der
bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden. Er lässt insoweit offen, ob der Urteilsausspruch
des SG hinsichtlich aller streitigen Leistungen hinreichend bestimmt ist. Zwar ergibt sich entgegen der Auffassung von SG und LSG ein früherer Leistungsbeginn als ab 1.9.2004 (Beginn des Antragsmonats) nicht aus §
1 Abs
1 Satz 1
OEG iVm § 60 Abs 1 Satz 3 BVG. Ob der Kläger jedoch unter dem Gesichtspunkt eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen ist, als habe seine
Mutter als seine gesetzliche Vertreterin den Antrag früher gestellt, kann nach den bisherigen Tatsachenfeststellungen des
Berufungsgerichts vom Senat nicht beurteilt werden.
a) Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft
Gesetzes (vgl hierzu BSG SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4; BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6, jeweils RdNr 13 f; BSGE 101, 177 = SozR 4-2500 § 109 Nr 6 RdNr 13) stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiert legitimiert
ist, denn § 4 Abs 1 Eingliederungsgesetz hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des Sozialen Entschädigungsrechts
einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Wie der Senat bereits
entschieden hat, verstößt diese Aufgabenübertragung nicht gegen höherrangiges Recht (vgl Urteile vom 11.12.2008 - B 9 V 3/07 R zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen und - B 9 VS 1/08 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R -). Sie hat zur Folge, dass allein der im Lauf des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die vom Kläger beanspruchten
Leistungen gewähren kann, sodass sich hier die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ab 1.1.2008 gegen den Landschaftsverband
Rheinland zu richten hatte.
b) Ein Anspruch des Klägers auf die von ihm begehrten Leistungen für die Zeit vor dem 1.9.2004 richtet sich nach §
1 OEG iVm den Vorschriften des BVG. Dass er am 22.9.1998 Opfer einer Gewalttat iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG geworden ist und dadurch eine bleibende gesundheitliche Schädigung erlitten hat, steht nach den tatsächlichen Feststellungen
des LSG außer Zweifel; die damalige Versorgungsverwaltung hat dem Kläger auch ab dem Beginn des Antragsmonats (1.9.2004) Leistungen
nach dem
OEG iVm dem BVG zuerkannt. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen lässt sich ein früherer Beginn der betreffenden Leistungen (Grundrente,
Kleiderverschleißpauschale, Pflegezulage und Schwerstbeschädigtenzulage) nicht aus §
1 Abs
1 Satz 1
OEG iVm § 60 Abs 1 Satz 3 BVG herleiten; denn die Mutter des Klägers war als dessen gesetzliche Vertreterin nicht ohne Verschulden gehindert, vor Ablauf
der Jahresfrist des § 60 Abs 1 Satz 2 BVG Antrag auf Leistungen der Beschädigtenversorgung nach dem
OEG zu stellen.
Nach §
1 Abs
1 Satz 1
OEG iVm § 60 Abs 1 Satz 1 BVG beginnen auch bei Opfern von Gewalttaten die Leistungen der Beschädigtenversorgung im Grundsatz mit dem Antragsmonat, wenn
die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmsweise eröffnet § 60 Abs 1 Satz 2 BVG eine Rückwirkung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Die Jahresfrist wird
nach § 60 Abs 1 Satz 3 BVG wiederum um den Zeitraum verlängert, in dem eine unverschuldete Verhinderung der Antragstellung vorlag. Ihrer Wirkung nach
ermöglicht die (verlängerte) Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung. Entgegen
der Auffassung der Vorinstanzen sind hier die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs 1 Satz 3 BVG nicht gegeben, denn der Kläger war nicht ohne Verschulden gehindert, bis zum Ablauf der Jahresfrist (beginnend mit dem Eintritt
der Schädigung) Leistungen der Beschädigtenversorgung nach §
1 Abs
1 Satz 1
OEG iVm § 9, §§ 10 ff, §§ 29 ff BVG zu beantragen.
Ein eigenes Verschulden des Klägers scheidet allerdings schon deshalb aus, weil dieser als Kleinkind in der Zeit vom 23.9.1998
bis zum 22.9.1999 (also während der Jahresfrist des § 60 Abs 1 Satz 3 BVG) weder geschäftsfähig (§
104 Nr
1 BGB) noch sozialrechtlich handlungsfähig (§
36 Abs
1 SGB I) war und deshalb keine rechtswirksamen Willenserklärungen abgeben, mithin auch keinen Antrag nach dem
OEG stellen konnte (zum Antrag als einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung stellvertretend BSG SozR 3-1200 § 16 Nr 2
S 5; BSG SozR 4-1200 § 44 Nr 2 RdNr 23; BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R - RdNr 20, zur Veröffentlichung in SozR
vorgesehen).
Der Kläger muss sich jedoch entsprechend der in § 27 Abs 1 Satz 2 SGB X getroffenen Regelung sowie den zu §
67 Abs
1 SGG von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ein Verschulden seiner Mutter als seiner gesetzlichen Vertreterin zurechnen
lassen (vgl BSGE 59, 40, 41 f = SozR 3800 § 1 Nr 5 S 13; BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3 S 5; BSGE 94, 282 = SozR 4-3800 § 1 Nr 8, jeweils RdNr 6; BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R -, RdNr 21, zur Veröffentlichung in
SozR vorgesehen; zur Zurechnung des Verschuldens des gesetzlichen Vertreters auch §
51 Abs
2 ZPO). Danach liegt ein Verschulden nur dann nicht vor, wenn der Vertreter die nach den Umständen des Falles zu erwartende Sorgfalt
beachtet hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Es sind insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der
Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit zu berücksichtigen. Rechtsunkenntnis schließt ein Verschulden allerdings nicht aus
(vgl BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3 S 5).
Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden (§
163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG war gesetzlicher Vertreter des Klägers allein seine Mutter (§§
1626,
1629 BGB). Diese war entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht gehindert, bis zum Ablauf der Jahresfrist - also bis zum 22.9.1999
(§
187 Abs
1, §
188 Abs
2 BGB) - einen Antrag auf Leistungen nach dem
OEG zu stellen.
Als gesetzliche Vertreterin des Klägers wäre die Mutter des Klägers verpflichtet gewesen, dessen Interessen wahrzunehmen.
Zu ihren objektiven Betreuungspflichten hätte es gehört, rechtzeitig (innerhalb der Jahresfrist des § 60 Abs 1 Satz 2 BVG) einen Versorgungsantrag nach dem
OEG zu stellen. Dass diese Möglichkeit besteht, hat sie spätestens nach dem Hinweis des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung
vor dem Schwurgericht im März 1999, also etwa ein halbes Jahr nach der Tat, gewusst. Nach den bisherigen Feststellungen des
LSG liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Mutter im Hinblick auf ihren Geisteszustand, ihr Alter, ihren Bildungsstand
und/oder ihre Geschäftsgewandtheit subjektiv nicht in der Lage gewesen wäre, die nach den Umständen des Falles zu erwartende
zumutbare Sorgfalt bei der Antragstellung zu beachten. Auch ein Entschuldigungsgrund ist nicht ersichtlich.
Dem Gebot, im Interesse des Kindes rechtzeitig Antrag auf Leistungen nach dem
OEG zu stellen, standen entgegen der Auffassung der Vorinstanzen im vorliegenden Fall keine eigenen schutzwürdigen tat- oder
täterbestimmten Interessen entgegen, die dazu führen könnten, das Verschulden des gesetzlichen Vertreters ausnahmsweise nicht
dem minderjährigen Gewaltopfer zuzurechnen. Allerdings hat das BSG von dem Grundsatz, dass eine pflichtwidrig unterlassene
rechtzeitige Antragstellung des gesetzlichen Vertreters dem Opfer einer Gewalttat iS des §
1 Abs
1 Satz 1
OEG zuzurechnen ist, in seiner bisherigen Rechtsprechung Ausnahmen zugelassen:
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 23.10.1985 - 9a RVg 4/83 - (BSGE 59, 40 = SozR 3800 § 1 Nr 5) das pflichtwidrige Unterlassen des gesetzlichen Vertreters dann nicht dem Opfer zugerechnet, wenn der
gesetzliche Vertreter zugleich der Täter war und deshalb den Widerspruch zwischen seinem Eigeninteresse (als Täter unentdeckt
zu bleiben) und den Interessen des von ihm Vertretenen zu dessen Lasten gelöst hat. Dieser Interessenwiderstreit darf sich
nicht nachteilig auf den Versorgungsanspruch des Minderjährigen auswirken, denn nach dem Schutzzweck des
OEG kann es nicht im Belieben des Schädigers liegen, den von der Gewalttat Betroffenen (oder dessen Hinterbliebene) von einer
Entschädigung nach dem
OEG auszuschließen (vgl BSGE 59, 40, 42 = SozR 3800 §
1 Nr 5 S 13; dazu auch BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R - RdNr 23, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
Diese Rechtsprechung hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28.4.2005 - B 9a/9 VG 1/04 R - (BSGE 94, 282 = SozR 4-3800 § 1 Nr 8) fortgeführt: In dem damaligen Fall wurde das Opfer über Jahre hinweg vom Stiefvater (also dem Ehemann
der allein personensorgeberechtigten Mutter) sexuell schwer missbraucht. Der Senat hat den vorgenannten Rechtsgrundsatz erweitert
und dem minderjährigen Gewaltopfer das Verschulden seines gesetzlichen Vertreters, der aus tat- und täterbestimmten eigenen
Interessen keinen Antrag auf Beschädigtenrente stellt, nicht zugerechnet. Nach dem Schutzzweck des
OEG darf es auch nicht in der Hand von sorgeberechtigten Eltern, die dem Gewalttäter familiär und durch gleichgelagerte Interessen
eng verbunden sind, liegen, ihr Kind als Opfer einer Gewalttat von zügiger Entschädigung nach dem
OEG auszuschließen (aaO, jeweils RdNr 9). Maßgebend für diese Wertung war der Interessenkonflikt, in dem die Mutter (in jenem
Fall) stand. Einerseits durfte die Tat nicht offenbar werden, weil damit zumindest - auch eigener - empfindlicher Ansehensverlust
verbunden gewesen wäre und dem gewalttätigen Familienangehörigen (Ehemann der gesetzlichen Vertreterin) Kriminalstrafe bis
zum Freiheitsentzug drohte. Andererseits hätte sie in Erfüllung ihrer Pflichten dem Kind gegenüber für dieses einen Versorgungsantrag
stellen und dabei grundsätzlich Tat und Täter angeben müssen. Diese Konfliktlage bestand in jenem Fall auch nach Einleitung
staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen fort, weil es den persönlichen Interessen des personensorgeberechtigten Elternteils
zuwiderlief, an der vollständigen Aufdeckung des Tatgeschehens irgendwie mitzuwirken, insbesondere weil eine Antragstellung
nach dem
OEG zum Bruch der Beziehungen zu dem straffällig gewordenen Familienangehörigen (Ehemann der gesetzlichen Vertreterin) hätte
führen können. Räumen Eltern in einer solchen Situation ihren eigenen und den damit eng verbundenen Interessen des Gewalttäters
den Vorrang ein, so ist ein solches tatbestimmtes und täterbezogenes Versagen des gesetzlichen Vertreters dem kindlichen Gewaltopfer
im Rahmen des § 60 Abs 1
OEG nicht als Verschulden zuzurechnen (aaO, jeweils RdNr 9).
An diese Ausführungen des erkennenden Senats haben die Vorinstanzen angeknüpft und auch im vorliegenden Fall eine schutzwürdige
Konfliktsituation für gegeben erachtet, in der ausnahmsweise dem Gewaltopfer die schuldhaft unterlassene Antragstellung des
gesetzlichen Vertreters nicht zugerechnet werden könne. Eine solche Lage haben die Vorinstanzen darin gesehen, dass die Antragstellung
nach dem
OEG und der aus der Sicht der Mutter zu erwartende Regress gegen den Vater zu einem Bruch oder einer erheblichen Belastung der
Beziehung zwischen den Eltern des Klägers hätte führen können. Sie haben es deshalb für die Annahme eines Ausnahmetatbestandes
als ausreichend angesehen, dass die Mutter des Klägers ihren Interessen an der Aufrechterhaltung der (Liebes-)Beziehung zum
Vater, mit dem sie weder verheiratet war noch zusammenlebte, Vorrang eingeräumt hat. Dem vermag der erkennende Senat nicht
uneingeschränkt zu folgen.
Der vorliegende Fall gibt allerdings Anlass, die bisherige Rechtsprechung weiterzuentwickeln: Ein die Zurechnung von Verschulden
des gesetzlichen Vertreters ausschließender Interessenkonflikt liegt auch dann vor, wenn eine dem Gewalttäter eng verbundene
Person durch die Antragstellung (als materiell-rechtliche Voraussetzung von Versorgungsansprüchen nach dem
OEG) zivilrechtliche Regressansprüche des Kostenträgers des
OEG (§
5 Abs
1 OEG iVm § 81a Abs 1 Satz 1 BVG) gegen den Schädiger auslösen würde. Auch in diesem Falle besteht ein vom Schutzzweck des
OEG erfasstes tat- und täterbestimmtes eigenes Interesse des gesetzlichen Vertreters, keinen Antrag nach dem
OEG zu stellen.
Schutzwürdig ist dieser Interessenkonflikt jedoch nur bei Personen, die dem Gewalttäter hinreichend eng verbunden sind. Nur
diesem Personenkreis gesteht die Rechtsordnung durch ein Zeugnisverweigerungsrecht (§
383 Abs
1 Nr
1 bis
3 ZPO) als Ausnahme von der allgemeinen öffentlich-rechtlichen Zeugnispflicht einen Schutz zu, nichts offenbaren zu müssen, was
zu Konfliktslagen führen könnte. Durch das Zeugnisverweigerungsrecht sollen Konfliktsituationen innerhalb der Familie vermieden
und damit zugleich der Zusammenhalt der Familie gestärkt werden (vgl zum Normzweck des Zeugnisverweigerungsrechts nach §
383 Abs
1 Nr
1 bis
3 ZPO: Berger in Stein/Jonas,
ZPO, 22. Aufl 2006, §
383 RdNr 1; Damrau in Münchener Kommentar zur
ZPO, 3. Aufl 2008, §
383 RdNr 1; Greger in Zöller,
ZPO, 27. Aufl 2009, §
383 RdNr 1a; zum Zeugnisverweigerungsrecht als Anknüpfungspunkt für die Konfliktslage schon LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13.11.2003
- L 7 (5) VG 22/02 - Breith 2004, 674). Zu den in diesem Sinne familiär eng verbundenen Personen gehören nach §
383 Abs
1 Nr
1 ZPO der/die Verlobte einer Partei, also Personen, die sich nach bürgerlichem Recht (§
1297 BGB) wechselseitig die Ehe versprochen haben. Eine Liebesbeziehung allein genügt nicht, da der Gesetzgeber bewusst nicht jede
mögliche Konfliktsituation entschärfen wollte, sondern auf formale Kriterien abgestellt hat (vgl Damrau, aaO, RdNr 15).
Nach den für den Senat bindenden (§
163 SGG) Tatsachenfeststellungen haben sich die Mutter und der Vater des Klägers erst nach Ablauf der Jahresfrist (22.9.1999), nämlich
im Frühjahr 2000, verlobt. Der Mutter hätte deshalb erst ab diesem Zeitpunkt ein Zeugnisverweigerungsrecht nach §
383 Abs
1 Nr
1 ZPO zugestanden. Es ist mithin unerheblich, dass sich die Mutter bereits in dem Jahr nach der Schädigung des Klägers dem Vater
wieder zugewandt hat, denn eine Liebesbeziehung begründet noch keine von der Rechtsordnung durch ein Zeugnisverweigerungsrecht
anerkannte Konfliktlage. Damit bleibt es dabei, dass es dem Kläger als Verschulden des gesetzlichen Vertreters zuzurechnen
ist, dass seine Mutter innerhalb der Jahresfrist nach Eintritt der Schädigung keinen Antrag nach dem
OEG gestellt hat.
c) Ob der Kläger unter dem Gesichtspunkt eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen ist, als habe seine Mutter
als seine gesetzliche Vertreterin den Antrag früher gestellt, kann nach den bisherigen Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts
vom Senat nicht beurteilt werden. Das LSG hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht nicht näher geprüft.
aa) Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur
Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Leistungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder des
konkreten Sozialrechtsverhältnisses gegenüber dem Berechtigten obliegenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft
und Beratung (§
14, §
15 SGB I), ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Er setzt demnach eine dem Sozialleistungsträger zurechenbare behördliche Pflichtverletzung
voraus, die (als wesentliche Bedingung) kausal für einen sozialrechtlichen Nachteil des Berechtigten ist. Außerdem ist erforderlich,
dass durch Vornahme einer zulässigen Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn die Behörde
ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berechtigten nicht verletzt hätte (stRspr vgl etwa BSGE 41, 126, 127 f = SozR 7610 § 242 Nr 5 S 3 f; BSGE 49, 30, 33 = SozR 4220 § 6 Nr 3 S 5 f; BSGE 57, 288, 290 = SozR 1200 § 14 Nr 18 S 42 f; BSGE 58, 283, 284 f = SozR 1200 § 14 Nr 20 S 50 f; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 16 S 49 ff; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 22 S 74; BSGE 79, 168, 171 ff = SozR 3-2600 § 115 Nr 1 S 5 ff; BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1, jeweils RdNr 24; BSGE 92, 182 = SozR 4-6940 Art 3 Nr 1, jeweils RdNr 25; BSGE 92, 267 = SozR 4-4300 § 137 Nr 1, jeweils RdNr 30 f).
Der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass die Regelung des § 60 BVG die Begründung eines früheren Leistungsbeginns im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht ausschließt, insbesondere
wenn feststeht, dass eine Behörde pflichtwidrig eine gebotene Beratung über bestehende Antragsmöglichkeiten unterlassen hat
(vgl BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3 S 6; BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1, jeweils RdNr 24; BSG, Urteil vom 16.12.2004 - B 9 VJ 2/03 R -, juris RdNr 25; BSG SozR 4-3800 § 1 Nr 9 RdNr 32 ff; zur Antragsfiktion im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
auch BSGE 58, 283, 284 = SozR 1200 § 14 Nr 20 S 50; BSG SozR 3-5868 § 85 Nr 8 S 45 f; BSGE 92, 182 = SozR 4-6940 Art 3 Nr 1, jeweils RdNr 33; BSG SozR 4-2600 § 4 Nr 2 RdNr 14 ff; BSGE 96, 44 = SozR 4-1300 § 27 Nr 2, jeweils RdNr 19 ff; BSG SozR 4-4100 § 106 Nr 1 RdNr 14). Die Anwendungsbereiche beider Rechtsinstitute
sind nicht deckungsgleich. § 60 Abs 1 Satz 3 BVG verschafft praktisch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung. Der Herstellungsanspruch erfasst
ua Fristversäumnisse, die auf Behördenfehlern beruhen (zum Nebeneinander der gesetzlichen Wiedereinsetzungsregelung in § 27 SGB X und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs: BSGE 96, 44 = SozR 4-1300 § 27 Nr 2, jeweils RdNr 21 ff).
Grundlage für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ist insbesondere §
14 SGB I. Danach hat jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch. Zuständig für die Beratung
sind (grundsätzlich) die Leistungsträger, denen gegenüber Rechte geltend zu machen oder Pflichten zu erfüllen sind. In der
Regel wird die Beratungspflicht durch ein entsprechendes Begehren des Berechtigten ausgelöst. Aber auch unabhängig davon ist
der Leistungsträger gehalten, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen,
die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und von jedem verständigen Berechtigten mutmaßlich genutzt werden (sog Spontanberatung,
vgl hierzu etwa BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 16 S 49 f; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 22 S 74; BSGE 91,1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1, jeweils
RdNr 37; BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1, jeweils RdNr 29; BSG SozR 4-1200 § 14 Nr 5 RdNr 9). Die Verletzung ua der Beratungspflicht kann
zu einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch des Berechtigten gegen den betreffenden Leistungsträger führen.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG kann sich ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auch aus einem fehlerhaften Verhalten
anderer Behörden ergeben, das sich der zuständige Leistungsträger zurechnen lassen muss. Einer anderen Behörde als der für
die Entscheidung über die Leistung befugten Stelle kann eine Beratungspflicht, deren Verletzung zu einem sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch gegen den zuständigen Leistungsträger führen kann, dann obliegen, wenn die andere Behörde vom Gesetzgeber
im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren "arbeitsteilig" eingeschaltet ist (vgl etwa BSGE 57, 288, 290 = SozR 1200 § 14 Nr 18 S 42 f; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 22 S 74 mwN; BSG SozR 4-1200 § 14 Nr 5 RdNr 13). Ebenso muss
sich ein Leistungsträger das Fehlverhalten derjenigen Behörde zurechnen lassen, deren Funktionsnachfolge er angetreten hat
(vgl BSGE 58, 283, 284 f = SozR 1200 § 14 Nr 20 S 50 f; BSG, Urteil vom 16.12.2004 - B 9 VJ 2/03 R -, juris RdNr 28). Eine zurechenbare Beratungspflichtverletzung wird von der Rechtsprechung des BSG auch dann angenommen,
wenn die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die andere Behörde im maßgeblichen
Zeitpunkt aufgrund eines bestehenden Kontaktes der aktuelle "Ansprechpartner" des Berechtigten ist und sie - die Behörde -
aufgrund der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Berechtigten im Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet
ein dringender Beratungsbedarf in einer gewichtigen Frage besteht (vgl BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 22 S 75).
bb) Ob im vorliegenden Fall eine behördliche Betreuungspflicht, insbesondere eine Beratungspflicht, verletzt worden ist, die
zu einem sozialrechtlichen Nachteil (Unterlassen einer früheren Antragstellung) geführt hat, hat das LSG nicht näher geprüft.
Nach seinen Feststellungen hatte die Mutter des Klägers zwischen dem Eintritt der Schädigung im September 1998 und der Antragstellung
im September 2004 Kontakte zur Krankenkasse (im Jahre 1999), zur Pflegekasse (Antrag und Bewilligung von Pflegegeld im Jahre
2000) und zur Versorgungsverwaltung (Antrag und Feststellung einer Behinderung nach dem
SGB IX im Jahre 2001). Feststellungen dazu, ob in diesem Rahmen eine behördliche Betreuungspflicht im vorgenannten Sinne dem Beklagten
zurechenbar verletzt worden ist, fehlen. Da der erkennende Senat die danach noch fehlenden Tatsachenfeststellungen im Revisionsverfahren
nicht nachholen kann, ist das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache - soweit er den Bescheid vom 5.7.2006 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2006 betrifft - an das LSG zurückzuverweisen (§
170 Abs
2 Satz 2
SGG).
3. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG eingehend zu prüfen haben, ob im Rahmen der festgestellten Kontakte
zur Krankenkasse und zur Pflegekasse ein etwaiges Fehlverhalten einer anderen Behörde vorgelegen hat, das sich der Beklagte
zurechnen lassen muss. Insoweit bestehen allerdings erhebliche Zweifel, denn die Krankenkasse, zu der die Mutter des Klägers
nach den Feststellungen des LSG im Jahre 1999 Kontakt hatte, dürfte nicht arbeitsteilig in das Verfahren nach dem
OEG iVm dem BVG eingebunden gewesen sein. Auch sind die Zuständigkeitsbereiche der für die Opferentschädigung und die gesetzliche Krankenversicherung
zuständigen Leistungsträger erst nach Antragstellung des Geschädigten materiellrechtlich, insbesondere was die Heil- und Krankenbehandlung
(§ 9 Nr 1, §§ 10 ff BVG) anbelangt, eng miteinander verknüpft (vgl BSGE 61, 180, 181 f = SozR 3100 § 19 Nr 17 S 50 ff). Die Krankenkasse dürfte demnach im Jahre 1999 nicht der aktuelle "Ansprechpartner"
des Klägers in Sachen Opferentschädigung gewesen sein. Allenfalls aus eigenem Interesse hätte die Krankenkasse tätig werden
können, denn vor einer Antragstellung als materiell-rechtlicher Voraussetzung für einen Anspruch auf Versorgung (§
1 Abs
1 Satz 1
OEG iVm § 60 Abs 1 BVG) bestand keine - die Krankenkasse von ihrer Leistungspflicht befreiende - Leistungspflicht des für die Opferentschädigung
zuständigen Leistungsträgers (vgl dazu BSG SozR 2200 § 205 Nr 55 S 151). Es gibt im Übrigen keine gesetzliche Vorschrift,
nach der die Krankenkasse einen Antrag nach dem
OEG unabhängig von der Willenserklärung des Geschädigten (oder seines gesetzlichen Vertreters) stellen kann (vgl dazu BSGE 61,
180 = SozR 3100 § 19 Nr 17), etwa vergleichbar der sich für das Jugendamt aus § 97 Satz 1 SGB VIII ergebenden Antragsbefugnis (hierzu BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R -, juris RdNr 25, zur Veröffentlichung in
SozR vorgesehen). Für die Pflegekasse, zu der nach den Feststellungen des LSG die Mutter des Klägers im Jahre 2000 Kontakt
hatte, gilt nichts anderes. Auch insoweit dürfte es sowohl an einer arbeitsteiligen Einbeziehung in das Verwaltungsverfahren
nach dem
OEG iVm dem BVG als auch - vor einer Antragstellung des Geschädigten - an einer engen materiell-rechtlichen Verknüpfung fehlen.
Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, der sich ab 1.1.2008 gegen den Beklagten richten würde, könnte sich weiterhin
aus dem Verhalten der Versorgungsverwaltung im Rahmen des im Jahre 2001 eingeleiteten Verfahrens zur Feststellung einer Behinderung
nach dem
SGB IX ergeben. Das LSG wird deshalb auch dazu Feststellungen zu treffen haben, ob in diesem Verfahren konkreter Anlass zu einer
Spontanberatung bestanden hat. Dies könnte insbesondere dann der Fall gewesen sein, wenn sich aus den von der Mutter des Klägers
eingereichten Unterlagen oder den beigezogenen medizinischen Befunden und Stellungnahmen Anhaltspunkte für eine Gewalttat
mit gesundheitlichen Folgen ergaben; in diesem Fall hätte es sich der Versorgungsverwaltung offensichtlich aufdrängen müssen,
die Mutter des Klägers auf die Antragsmöglichkeit nach dem
OEG hinzuweisen. In diesem Zusammenhang wird das LSG allerdings auch die Frage der Kausalität zu klären haben, nämlich ob eine
(möglicherweise) unterlassene (Spontan-)Beratung der Versorgungsverwaltung oder aber das Verhalten der Mutter des Klägers
wesentliche Bedingung dafür war, dass vor September 2004 kein Antrag nach dem
OEG gestellt worden ist (hierzu etwa BSGE 91,1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1, jeweils RdNr 61). Zweifel hinsichtlich der Kausalität bestehen vor allem deshalb, weil die Mutter des Klägers, wie
das LSG festgestellt hat, einen Antrag nach dem
OEG trotz des Hinweises durch das Schwurgericht im März 1999 - jedenfalls bis zur Beendigung der Beziehung zum Vater des Klägers
Anfang September 2004 - deshalb nicht gestellt hat, weil sie finanzielle Nachteile für den Vater befürchtete. Dem Senat als
Revisionsinstanz sind jedoch Rückschlüsse aus dem Verhalten der Mutter des Klägers verwehrt, denn die Beurteilung, welche
die wesentliche, dh zumindest gleichwertige Bedingung für die unterlassene Antragstellung war, ist Aufgabe der Tatsacheninstanz
(so auch BSG SozR 4-4100 § 106 Nr 1 RdNr 20).
Schließlich wird das LSG auch der von ihm im angefochtenen Urteil aufgeworfenen Frage nachzugehen haben, ob angesichts des
Verhaltens der Mutter von der Versorgungsverwaltung das Jugendamt hätte eingeschaltet werden müssen. Das Jugendamt darf allerdings
nur tätig werden, wenn es eine Aufgabe der Jugendhilfe nach § 2 SGB VIII wahrnimmt, wozu auch die Amtspflegschaft nach § 2 Abs 2 Nr 11, § 55 Abs 1 SGB VIII, §§
1793,
1915 BGB gehört. Dies hätte wiederum vorausgesetzt, dass der Mutter des Klägers vom Familiengericht die Personensorge hinsichtlich
der Antragsbefugnis nach dem
OEG entzogen (§§
1666 BGB) und dem Jugendamt als Ergänzungspfleger übertragen worden wäre (§
1909 BGB; vgl hierzu auch BSG, Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a VG 1/07 R -, juris RdNr 22, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
Ob die Betreuungspflicht der Versorgungsverwaltung soweit reicht und ob die Glieder dieser mehrgliedrigen Kausalkette im Wege
eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden können, bedarf einer eingehenden Prüfung in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht (zur Fiktion von Handlungen außerhalb des Zuständigkeitsbereiches eines Sozialleistungsträgers vgl etwa
BSGE 92, 267 = SozR 4-4300 § 137 Nr 1; BSG SozR 4-4300 § 330 Nr 3 [Lohnsteuerklassenwechsel]). Dabei wird das LSG vor allem auch zu berücksichtigen
haben, dass das Antragserfordernis des
OEG vor allem auch dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts jedes Geschädigten dient (vgl BSGE 61, 180, 182 f = SozR 3100 § 19 Nr 17 S 51 f). Die auf einem Interessenkonflikt beruhende Weigerung des gesetzlichen Vertreters,
zu Gunsten des Geschädigten einen Antrag zu stellen, wird deshalb erst dann von Belang sein, wenn sie im Hinblick auf die
Differenz zwischen den zu beanspruchenden Leistungen nach dem
OEG iVm dem BVG und den Leistungen, mit denen der Lebensunterhalt des Geschädigten tatsächlich bestritten wird, gänzlich unverständlich erscheint.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.