Versorgung mit einer elektrischen Treppensteighilfe
Aussetzung eines Klageverfahrens
Klageerhebung vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens
Ermessensentscheidung
Keine grundsätzliche Ermessensreduzierung
Gründe
I.
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (im Folgenden: Beschwerdeführer) richtet sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts
(SG) Bayreuth vom 15.08.2017, mit dem das SG das Klageverfahren ausgesetzt hat.
In der Hauptsache begehrt der Beschwerdeführer die Versorgung mit einer elektrischen Treppensteighilfe.
Mit Bescheid vom 07.04.2017 lehnte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) die Versorgung mit
der vom Beschwerdeführer begehrten Treppensteighilfe ab. Mit Eingang bei der Beschwerdegegnerin am 10.04.2017 legte der Beschwerdeführer
Widerspruch ein und begründete diesen mit Schreiben vom 24.04.2017.
Ohne den Erlass eines Widerspruchsbescheids abzuwarten, hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 01.08.2017 Klage zum SG
Bayreuth erhoben. Die Beschwerdegegnerin hat mit Schreiben vom 10.08.2017 mitgeteilt, dass die Prozessvoraussetzungen nicht
erfüllt seien, weil der Klage nicht das Vorverfahren gemäß §§
78 ff.
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) vorausgegangen sei; sie habe das Widerspruchsverfahren nachzuholen.
Mit Beschluss vom 15.08.2017 hat das SG das anhängige Klageverfahren ausgesetzt und diese Entscheidung wie folgt begründet: "Der Aussetzungsbeschluss ergeht analog
§
114 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zur Durchführung des Widerspruchsverfahrens."
Gegen diesen Beschluss hat der Beschwerdeführer mit Eingang beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) am 23.08.2017 Beschwerde
eingelegt und diese mit Schreiben vom 24.08.2017 wie folgt begründet: Die Beschwerdegegnerin habe ihm gegenüber eine Verschleppungstaktik
betrieben. Sie habe sämtliche von ihm gesetzte Fristen zur Erwirkung eines Widerspruchsbescheids verstreichen lassen. Stattdessen
fordere die Beschwerdegegnerin unsinnigerweise weitere ärztliche Gutachten. Das SG hätte das Verfahren nicht vertagen dürfen, da der Ausgang des Widerspruchsverfahrens von vornherein klar sei. Noch nie habe
die Beschwerdegegnerin einem Widerspruch in seinen Angelegenheiten stattgegeben. Das SG hätte der Beschwerdegegnerin eine mit Bußgeld bewehrte Frist für einen Widerspruchsbescheid auferlegen müssen. Eine Vertagung
bringe keinerlei Fortschritt und ermuntere die Beklagte nur in ihrem bisherigen Vorgehen. Er beantrage eine Fristsetzung durch
das LSG.
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss des SG ist zulässig, insbesondere ist sie gemäß §
172 Abs.
1 SGG statthaft. §
172 Abs.
2 SGG ist nicht einschlägig, da es sich bei einem Aussetzungsbeschluss nicht nur um eine prozessleitende Verfügung handelt (vgl.
Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
114, Rdnr. 9; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders./Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
172, Rdnr. 3 - jeweils m.w.N.).
Die Beschwerde ist auch begründet.
Die Aussetzung eines Klageverfahrens ist analog §
114 Abs.
2 SGG möglich, wenn die Klage vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens erhoben worden ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Bundessozialgericht
- BSG - Urteil vom 24.10.2013, B 13 R 31/12 R, und Beschluss vom 01.07.2014, B 1 KR 99/13 B).
Für eine Aussetzung ist ein Antrag eines Beteiligten Voraussetzung (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 05.05.2014, L 11 AS 325/14 B). Sofern Keller (vgl. a.a.O., § 114, Rdnr. 5) ohne irgendeine Begründung davon ausgeht, dass es bei der Aussetzung zur
Nachholung des Widerspruchsverfahrens eines Antrags eines Beteiligten nicht bedürfe, kann der Senat dem nicht folgen. Bei
der analogen Anwendung des §
114 Abs.
2 SGG ist dessen Satz 2 zugrunde zu legen, der ausdrücklich einen Antrag eines Beteiligten voraussetzt. Denn die Aussetzung zur
Nachholung des Widerspruchsverfahrens ähnelt ganz stark der Aussetzung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, sodass
für die Aussetzung wegen Nachholung des Widerspruchsverfahrens §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG entsprechend heranzuziehen ist, nicht aber die Regelung des §
114 Abs.
2 Satz 1
SGG, die eine Aussetzung antragsunabhängig zulässt.
Weiter bedarf es nach dem klaren Wortlaut des §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG ("kann ... aussetzen") für die Aussetzung einer Ermessensentscheidung dahingehend, ob eine Aussetzung angezeigt ist oder
die Nachholung des Widerspruchsverfahrens ohne Aussetzung abzuwarten ist. Dabei kann nicht grundsätzlich von einer Ermessensreduzierung
auf Null ausgegangen werden. Sofern das BSG im Beschluss vom 01.07.2014, B 1 KR 99/13 B, formuliert hat "a) Fehlt es - wie hier - an einem Vorverfahren als Sachurteilsvoraussetzung, hat das LSG das gerichtliche
Verfahren auszusetzen (§
114 Abs
2 SGG analog), um dem Kläger die Möglichkeit zu geben, das gebotene Vorverfahren (§
78 SGG) nachzuholen", beruht die Formulierung "hat", die als Hinweis auf eine grundsätzliche Ermessensreduzierung auf Null in derartigen
Konstellationen interpretiert werden könnte, ersichtlich auf einer Formulierungsungenauigkeit. So hat das BSG in anderen Entscheidungen ausdrücklich auf das Erfordernis einer Ermessenentscheidung hingewiesen, so z.B. im Urteil vom
02.08.1977, 9 RV 102/76: "Dies liefe - wie Bettermann, DVBL 1959, 314, im einzelnen dargetan hat - auf eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Widerspruchsentscheidung
analog §
114 Abs
2 SGG (§
148 Zivilprozeßordnung) hinaus. Die Aussetzung liegt zwar im Ermessen des Gerichts, erweist sich aber bei der gegebenen Situation im allgemeinen
als zweckmäßig und angezeigt." Von der Erforderlichkeit einer Ermessensausübung des Gerichts geht auch die Literatur aus.
Bei der Ermessensentscheidung hat das Gericht darüber zu befinden, ob eine Aussetzung zweckmäßig ist oder ob ein einfaches
Abwarten angezeigt ist, weil mit einem schnellen Abschluss des nachzuholenden Vorverfahrens gerechnet werden kann (vgl. Breitkreuz,
in: ders./Fichte,
SGG, 2. Aufl. 2014, §
78, Rdnr. 8; Binder, in: Lüdtke,
SGG, 5. Aufl. 2017, §
78, Rdnr. 8).
Im vorliegenden Verfahren hat keiner der Beteiligten einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt, sodass der Beschluss
vom 15.08.2017 schon aus diesem Grund aufzuheben ist. Die Beklagte hat lediglich mitgeteilt, dass das Widerspruchsverfahren
nachgeholt werde, ohne damit einen Antrag auf Aussetzung zu verbinden.
Zudem mangelt es an einer Ermessensentscheidung des SG. Der Beschluss vom 15.08.2017 ist daher auch wegen Ermessensnichtgebrauchs des SG aufzuheben. Sofern das SG die Aussetzung (einzig und allein) mit der "Durchführung des Widerspruchsverfahrens" begründet hat, kann darin keine Ausübung
von Ermessen liegen. Denn gemäß §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG ist das Vorliegen eines Verfahrensfehlers - hier also die fehlende Durchführung des Widerspruchsverfahrens - Tatbestandsvoraussetzung;
eine vom Gesetzgeber vorgegebene Tatbestandsvoraussetzung kann aber nicht gleichzeitig ein Ermessensgesichtspunkt sein. Im
Rahmen der Ermessenserwägungen hätte sich das SG vielmehr damit auseinandersetzen müssen, ob und aus welchen Gründen eine Aussetzung und nicht ein bloßes Abwarten angezeigt
gewesen ist. Derartige Erwägungen sind den Gründen des angegriffenen Bescheids vom 15.08.2017 nicht zu entnehmen.
Der Beschluss des SG vom 15.08.2017 war daher aufzuheben.
Einer Kostenentscheidung bedurfte es nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung nicht, denn bei dem vorliegenden
Verfahren der Beschwerde gegen einen Aussetzungsbeschluss des SG handelt es sich nur um einen unselbstständigen Verfahrensabschnitt in einem noch anhängigen Rechtsstreit (vgl. Bundesgerichtshof,
Beschluss vom 12.12.2005, II ZB 30/04; Beschluss des Senats vom 26.06.2017, L 20 KR 9/17 B - m.w.N.).
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.
Lediglich zur Information für den Beschwerdeführer weist der Senat abschließend darauf hin, dass eine "Fristsetzung durch
das LSG" gegenüber dem SG nicht erfolgen kann, da die Verfahrensführung (unter zeitlichen Gesichtspunkten) allein Sache des SG ist und einer Überprüfung durch das LSG entzogen ist.