Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens aG
Anspruchsausschließendes Restgehvermögen
Auferlegung von Verschuldenskosten
Aussichtslosigkeit eines Berufungsverfahrens
Tatbestand
Streitig ist die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Bei dem 1953 geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt zuletzt mit Bescheid vom 20. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 16. Dezember 2015 wegen der Funktionsbeeinträchtigungen „Schlaganfallfolgen (Einzel-GdB 50), arterielle Durchblutungsstörungen
der Beine mit operativer Behandlung (Einzel-GdB 50), Wirbelsäulenschaden, Spinalkanalstenose (Einzel-GdB 50)“ einen Grad der
Behinderung (GdB) von 90 ab dem 30. September 2015 fest. Die Zuerkennung des Merkzeichens aG lehnte das Versorgungsamt mit
diesem Bescheid ab. Bereits mit Bescheid vom 3. Juli 2014 war für den Kläger ab dem 11. März 2014 das Merkzeichen G (erhebliche
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festgestellt worden.
Im Dezember 2017 beantragte der Kläger die Neufeststellung des GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens aG wegen eines dritten
Schlaganfalles, den er im Januar 2017 erlitten hatte. Das beklagte Land zog ärztliche Unterlagen des den Kläger behandelnden
Arztes I. bei, der im Dezember 2017 u.a. mitteilte, dass bei dem Kläger seit dem letzten Hirninfarkt eine Hemiparese rechts
verblieben sei mit Stand- und Gangunsicherheit. Der Kläger sei umständlich am Stock mobil, das rechte Bein komme kaum mit,
sehr sehr langsamer Gang; es bestehe nur noch eine Gehstrecke von 5 bis 10 m, dann sei eine Pause notwendig. Dieser Arzt bat
um eine Begutachtung des Klägers statt einer Entscheidung nach Aktenlage. Bei den von diesem Arzt übersandten ärztlichen Unterlagen
befand sich auch der Reha-Abschlussbericht der J. Klinik vom 21. April 2017. Außerdem zog das beklagte Land das für den Kläger
unter dem 12. Juli 2017 erstellte Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch
(
SGB XI) des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen und im Lande Bremen (MDK) bei. Mit Bescheid vom 23. Februar
2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2018 lehnte das beklagte Land die Neufeststellung des GdB sowie
die Zuerkennung des beantragten Merkzeichens aG ab.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben. Das SG hat einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Internisten I. und der Ärztin K. beigezogen und sodann nach Anhörung
der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 21. Mai 2019 den Bescheid des Beklagten vom 23. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 19. Juni 2018 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, bei dem Kläger ab dem 5. Dezember 2017 das Merkzeichen aG festzustellen.
Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen darauf gestützt, dass bei dem Kläger nach Erleiden des dritten Schlaganfalls eine
erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliege, die einem GdB von mindestens 80 entspreche. Der Kläger könne
sich wegen der Schwere seiner Beeinträchtigung dauernd nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen.
Er benötige eine Fußheberorthese und Unterarmgehstützen, bzw. einen Rollator und sei nach den überzeugenden Ausführungen seines
behandelnden Arztes auch damit nur in der Lage, maximale Gehstrecken von 15 Meter zurückzulegen. Danach müsse er eine längere
Pause einlegen.
Das beklagte Land hat gegen den ihm am 27. Mai 2019 zugestellten Gerichtsbescheid am 18. Juni 2019 Berufung eingelegt. Zur
Begründung trägt es vor, nach Erleiden des dritten Schlaganfalles seien durch die Therapiemaßnahmen deutliche Besserungen
der Gehfähigkeit erreicht worden. Bei Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme habe der Kläger geäußert, er könne sich selbständig
am Rollator fortbewegen und fühle sich dabei ausreichend sicher. Treppen bewältige er im Nachstellschritt. Das Gangbild am
Rollator sei als normalbasig und ausreichend sicher beschrieben worden, mit angelegter Fußheberorthese hätten auf Klinikebene
auch längere Wege zurückgelegt werden können. Anlässlich der Pflegebegutachtung im Juli 2017 sei mitgeteilt worden, dass das
Gehen innerhalb und außerhalb der Wohnung mit Hilfsmitteln selbständig möglich sei. Unstrittig bestünden bei dem Kläger ausgeprägte
Beeinträchtigungen, die mit einem GdB von 90 angemessen berücksichtigt worden seien. Wegen der beschriebenen Beeinträchtigungen
beim Treppensteigen und der Notwendigkeit einer Rollator-Benutzung könne auch das Merkzeichen B festgestellt werden. Alle
vorgelegten Befundunterlagen zeigten aber ganz deutlich, dass auch außerhalb des Hauses Wegstrecken mit einem Rollator bewältigt
würden. Eine Rollstuhlnutzung sei nicht mehr notwendig. Ein mobilitätsbezogener GdB von 80 werde nicht erreicht. Das Merkzeichen
aG sei zu Unrecht zuerkannt worden.
Das beklagte Land beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 21. Mai 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung des beklagten Landes gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 21. Mai 2019 zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass er auch mittels Fußheberorthese
nicht imstande sei, längere Strecken zu gehen. Der Fußheber habe die Aufgabe, den Vorderfuß anzuheben, damit er beim Gehen
nicht stolpere, er ermögliche jedoch keine fließende Gehbewegung. Mit dem Rollator bzw. den Unterarmgehstützen komme er nicht
weit, weil ihm die Kraft fehle. Zwischenzeitlich sei ihm der Pflegegrad 2 zuerkannt worden. Zu dem Reha-Bericht aus April
2017 sei zu ergänzen, dass er dort den Umgang mit einem Rollator nicht vermittelt bekommen habe. Er sei in der Klinik nur
mit einem Rollstuhl unterwegs gewesen.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. L.. Dieser
ist in seinem Gutachten vom 18. Juli 2020 zu dem Ergebnis gelangt, dass „ohne Zweifel“ für den Kläger ab dem 5. Dezember 2017
das Merkzeichen aG festzustellen sei. Aufgrund des im Januar 2017 erlittenen dritten Schlaganfalls mit Hemiparese rechts sei
es zu diesem Zeitpunkt zu einer deutlichen Verschlechterung des Allgemeinzustandes gekommen. Komplikativ sei im April 2019
ein Nahtaneurysma an der linken Leiste festgestellt und notwendigerweise operativ behandelt worden. Darüber hinaus sei 2019
eine Versteifungsoperation der unteren Lendenwirbelsäule bei ausgeprägter Spinalstenose und deutlichem Wirbelgleiten bzw.
Segmentinstabilität erfolgt. Die Versteifungsoperation an der Lendenwirbelsäule sei zwar erst 2019 durchgeführt worden, allerdings
habe der Schaden, der letztlich zur Operation geführt habe, bereits im Dezember 2017 in gleicher Ausprägung bestanden. Der
Sachverständige empfahl für die Schlaganfallfolgen mit Halbseitenlähmung rechts einen Einzel-GdB von 50, für die AVK, Zustand
nach operativer Behandlung einen Einzel-GdB von 50, für den Wirbelsäulenschaden bei bekannter Spinalstenose, Segmentinstabilität,
Zustand nach Versteifungsoperation einen Einzel-GdB von 50, für die Verschleißerkrankung beider Kniegelenke einen Einzel-GdB
von 10 – 20 und einen Gesamt-GdB von 90 seit Dezember 2017. Wegen der Schwere seines Leidens könne sich der Kläger dauernd
nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges fortbewegen.
Mit Verfügung vom 28. August 2020 hat die Berichterstatterin das beklagte Land auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) zu dem Merkzeichen aG (Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R) hingewiesen und darum gebeten, dass im Hinblick auf die Fortsetzung des Berufungsverfahrens eine Auseinandersetzung mit
dem Urteil des BSG einerseits und den von dem Sachverständigen Dr. L. mitgeteilten objektiven Befunden andererseits erfolgen möge. Bereits in
dieser Verfügung hat die Berichterstatterin darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass das beklagte Land die Berufung ohne
entsprechende Überlegungen fortsetzen sollte, sich der Senat über die Auferlegung von Verschuldenskosten gemäß §
192 SGG Gedanken machen müsse.
Mit weiterer Verfügung vom 12. Februar 2021 hat die Berichterstatterin das beklagte Land erneut darauf hingewiesen, dass unter
Berücksichtigung der vorliegenden medizinischen Unterlagen und der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R) die Berufung voraussichtlich erfolglos bleiben werde. Darüber hinaus hat die Berichterstatterin wiederum auf die Möglichkeit
der Kostenauferlegung nach §
192 SGG hingewiesen. Diese Verfügung ist dem beklagten Land am 15. Februar 2021 zugegangen.
In der dem beklagten Land am 21. Januar 2021 zugestellten Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. Februar 2021
ist dem beklagten Land gemäß §
111 Abs.
3 SGG aufgegeben worden, zum Termin einen Beamten oder Angestellten zu entsenden, der über die Sach- und Rechtslage ausreichend
unterrichtet ist. Außerdem hat der Senat die Beteiligten – vor dem Hintergrund der anhaltenden Corona-Pandemie – um Prüfung
und Mitteilung gebeten, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §
124 Abs.
2 SGG besteht, was von der Prozessbevollmächtigten des Klägers bejaht worden ist. Das beklagte Land hat weder eine verfahrensbezogene
Prozesserklärung zu einer Entscheidung gemäß §
124 Abs.
2 SGG abgegeben, noch einen Terminvertreter zur mündlichen Verhandlung am 23. Februar 2021 entsandt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie der Ausführungen des Sachverständigen wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie auf den Verwaltungsvorgang des beklagten Landes Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das Sozialgericht hat das beklagte Land zu Recht verpflichtet, bei dem Kläger ab dem 5. Dezember 2017 das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Bescheid des Beklagten vom 23. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2018 ist rechtswidrig
und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG sind bei dem Kläger
erfüllt.
Rechtsgrundlage für die Zuerkennung des Merkzeichens aG war für die Zeit bis zum 29. Dezember 2016 §
69 Abs.
4 SGB IX in der damals geltenden Fassung sowie die hierzu ergangenen straßenverkehrsrechtlichen und versorgungsmedizinischen Vorschriften.
Hiernach war Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens aG gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV, dass der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne von §
6 Abs.
1 Nr.
14 des
Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften war. Gemäß Abschnitt II Nr. 1 (Rn. 129 und 130) der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (AVwV) bzw. Teil D Nr. 3 b) der Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (im Folgenden: VMG) waren als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche
Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung
außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen konnten. Hierzu zählten Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte,
Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande waren, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine
Beckenkorbprothese tragen konnten oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert waren sowie andere schwerbehinderte Menschen,
die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen
waren. Im Rahmen der Gleichstellung kam es dabei nicht auf die allgemeine Schwere des Leidens an, sondern darauf, ob die Auswirkungen
der Störung auf das Gehvermögen funktionell denen der angeführten Personengruppen gleichzuachten waren (vgl. BSG, Urteil vom 6. November 1985, Az.: 9a RVs 7/83, SozR 3870 § 3 Nr. 18), so dass der Behinderte sich nur unter ebenso großen
Anstrengungen wie die Angehörigen der Beispielgruppen oder nur mit fremder Hilfe fortbewegen konnte (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, Az.: B 9 SB 7/01 R, SozR 3-3250 § 69 Nr. 1).
Das BSG hat die Regelungen über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ihrem Zweck entsprechend eng ausgelegt.
Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, waren hohe Anforderungen zu
stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R, juris, Rn. 15 m.w.N.). Dabei ließ sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren.
Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellten nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter
Mensch sich außerhalb eines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen konnte, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies
nur noch möglich gewesen ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung – praktisch
von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllte, qualifizierte sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich
(vgl. zum Vorstehenden: BSG, a.a.O., Rn. 19).
Gemäß §
146 Abs.
3 SGB IX in der vom 30. Dezember 2016 bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung bzw. gemäß § 229 Abs. 3
SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung setzt die Zuerkennung des Merkzeichens seitdem voraus, dass bei dem behinderten
Menschen eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt, die einem GdB von mindestens 80 entspricht.
Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt demnach vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen
der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs
bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die aufgrund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und
Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls
angewiesen sind.
Die Motive der Gesetzgebung (vgl. BT-Drs. 18/9522 S. 317 ff.) geben keine Anhaltspunkte dafür, dass der berechtigte Personenkreis
durch eine Absenkung der Anforderungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG gegenüber der bis zum 31. Dezember 2016 gültigen
Rechtslage wesentlich verändert bzw. ausgeweitet werden sollte. Im Gegenteil wird auch in der Gesetzesbegründung erneut auf
die Begrenztheit der verfügbaren Behindertenparkplätze hingewiesen und hieraus darauf geschlossen, dass auch zukünftig der
Kreis der Berechtigten eng begrenzt sein müsse. Damit hat der Gesetzgeber die wesentlichen Erwägungen aus der zitierten Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts übernommen. Mit der gesetzlichen Neufassung sollte nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers
also lediglich klargestellt werden, dass auch außerhalb des chirurgisch-orthopädischen Fachgebiets liegende Einschränkungen
der Gehfähigkeit die Voraussetzungen des Merkzeichens aG erfüllen können, was nach dem Verständnis des Senats auch bereits
nach früher geltendem Recht nicht wirklich zweifelhaft war.
I.
1. Bei dem Kläger liegt eine – wie §
146 Abs.
3 Satz 1
SGB IX a.F. bzw. § 229 Abs. 3 Satz 1
SGB IX n.F. kumulativ fordern – erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, die einem GdB von mindestens 80 entspricht.
Erster Anhaltspunkt für diese Annahme ist der rechtskräftige Bescheid des beklagten Landes vom 20. Oktober 2015 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2015, mit dem für den Kläger ein GdB von 90 ab dem 30. September 2015 unter Berücksichtigung
der Funktionsbeeinträchtigungen „Schlaganfallfolgen, arterielle Durchblutungsstörungen der Beine mit operativer Behandlung,
Wirbelsäulenschaden, Spinalkanalstenose“ festgestellt worden ist. Der Umstand, dass Funktionsbeeinträchtigungen vor allem
der unteren Gliedmaße und der Lendenwirbelsäule in die GdB-Bewertung eingeflossen sind, legt es nahe, dass der GdB des Klägers
in erster Linie dessen mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung abbildet.
Der Sachverständige Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 18. Juli 2020 nach Auswertung der Akten, Untersuchung des Klägers sowie
Würdigung der neueren ärztlichen Berichte vom 10. April 2019, 23. April 2019, 15. Mai 2019 und 30. Oktober 2019 dies bestätigt
und drei bei dem Kläger wesentlich bestehende Diagnosen herausgearbeitet, die die Mobilität (erheblich) einschränken.
a) Zum einen besteht bei dem Kläger ein chronisches Wirbelsäulensyndrom bei ausgeprägter Fehlstatik, Mehrsegmentverschleiß
vorwiegend der Lendenwirbelsäule mit Spinalkanalstenose sowie ausgeprägter Instabilität, Zustand nach operativer Therapie
in Form einer Spondylodese L3 bis L5 mit resultierender Einschränkung der Beweglichkeit und glaubhaften nachvollziehbaren
Ruhe- und Belastungsbeschwerden, die der Sachverständige Dr. L. in Übereinstimmung mit den Vorgaben der VMG – Teil B Nr. 18.9
– mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet hat. Die entsprechenden Feststellungen decken sich mit den bei den Akten vorliegenden
Berichten der behandelnden Ärzte, insbesondere dem radiologischen Bericht vom 22. September 2015 sowie den Ausführungen des
Neurochirurgen M. vom 28. September 2015. Dieser Arzt hat den Befund einer steilgestellten LWS beschrieben bei einem FBA von
60 cm und positivem Lasègue-Zeichen beiderseits. Das Gangbild des Klägers war bereits zu diesem Zeitpunkt schmerzbedingt kaum
prüfbar, es fanden sich Schmerzen, Missempfindungen sub L4 rechtsbetont, Reflexe waren auch nach Bahnung nicht sicher auslösbar,
der Babinski-Reflex war beidseits angedeutet positiv. Daneben fand sich eine deutliche Gefäßsklerose der Beinarterien bei
Bypass links und Verschluss der A. femoralis profunda links und rechts auch post stenotische Flussveränderungen in den Beinen.
Dieser Arzt war der Auffassung, dass die von dem Kläger mitgeteilten Beschwerden – nämlich die auf ca. 20 Meter schmerzbedingt
reduzierte Gehstrecke, wobei die Schmerzen rechtsbetont in beiden Beinen über die Knie ziehend auftraten – glaubhaft seien,
wenn man die massive Spinalkanalstenose und Instabilität L3/4 und (geringer) L4/5 berücksichtige. Auch auf die Durchblutungsstörung
der Beine wies dieser Arzt in diesem Zusammenhang hin. Schon zu diesem Zeitpunkt empfahl der Neurochirurg bei Versagen konservativer
Therapiemaßnahmen eine risikoreiche OP mit Dekompression des Spinalkanals und einer Stabilisierung L 3 nach L 5. Vor diesem
Hintergrund hat auch das beklagte Land im Oktober 2015 den bestehenden Wirbelsäulenschaden bei Spinalkanalstenose und eingeschränkter
Gehfähigkeit mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet (vgl. ärztliche Stellungnahme der Dr. N. vom 13. Oktober 2015). 2019 wurde
der Kläger sodann im Krankenhaus O. in der wirbelsäulenchirurgischen Abteilung aufgrund der ausgeprägten Spinalstenose operativ
behandelt. Die unteren Bewegungssegmente wurden versteift. Der Bericht der Klinik für Geriatrie P. vom 30. Oktober 2019 nach
einer Anschlussrehabilitation dokumentiert nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. insoweit eine reduzierte Schwungbeinphase
rechts und eine teilweise verminderte Spurbreite; der Richtungswechsel war deutlich unsicher. Das Gehen an zwei Unterarmgehstützen
war dem Kläger mit leichten Unsicherheiten auf Zimmerebene selbständig möglich, empfohlen wurde die Nutzung der Fußheberorthese.
Treppensteigen gelang dem Kläger für fünf Stufen im Nachhalteschritt mit leichten Unsicherheiten. Das Rollatorhandling gelang
dem Kläger zuletzt selbständig, jedoch erschwert. Der Sachverständige Dr. L. hat dazu in seinem Gutachten festgestellt, dass
diesbezüglich noch deutliche Restbeschwerden bestünden, die Schwäche im Bein habe sich nicht erholt. Im Hinblick auf die Lendenwirbelsäule
hat der Sachverständige auch ausdrücklich unterstrichen, dass zwar die Versteifungsoperation erst im Jahr 2019 durchgeführt
worden sei; eine (erst) zu diesem Zeitpunkt eintretende Verschlimmerung, die eine andere Bewertung des GdB (und der Gehfähigkeit)
rechtfertigen würde, hat der Sachverständige gleichwohl - in Übereinstimmung mit den vorliegenden ärztlichen Berichten - nicht
angenommen, weil der Schaden, der letztlich zur Operation geführt hat, bereits im Dezember 2017 in gleicher Ausprägung vorgelegen
hat. Lag und liegt damit unstreitig ein Wirbelsäulenschaden mit besonders schweren Auswirkungen in der Lendenwirbelsäule mit
Spinalkanalstenose (nach zwischenzeitlich operativer Therapie) vor, so ist der für diese Funktionsbeeinträchtigung bestehende
Einzel-GdB von 50 folgerichtig auch bei der Bewertung der mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung mit in den Blick zu
nehmen, wie von dem Sachverständigen Dr. L. vorgeschlagen worden ist. Die Behauptung des beklagten Landes, das Wirbelsäulenleiden
wirke sich im vorliegenden Fall auf die Einschränkung der Gehfähigkeit nicht aus, weil sich die Spinalkanalstenose „üblicherweise
erst nach Gehstrecken von einigen 100 m“ bemerkbar mache, überzeugt den Senat in dieser Pauschalität ohne Einzelfallbezug
zum vorliegenden Fall nicht.
b) Vergleichbares gilt für die arterielle Verschlusskrankheit. Der Kläger ist in der Vergangenheit aufgrund dieser Erkrankung
mehrfach operiert worden. Dr. Q. hat im April 2014 auf die bekannte arterielle Verschlusskrankheit im Stadium II mit Zustand
nach femoro-poplitealer Bypassversorgung links 2004, perkutaner transluminaler Angioplastie (PTA) einer hochgradigen proximalen
Anastomosenstenose 2/2006 und Erweiterungsplastik der proximalen Anastomose mittels Dacron-Patch links bei Restenose 4/2007
hingewiesen. Links fand sich zwar eine gute Bypassfunktion, rechtsseitig hatte sich die Durchblutung aber deutlich verschlechtert,
die Fußpulse rechts waren nicht tastbar. Schon damals wies Dr. Q. darauf hin, dass der Kläger über Schmerzen beim Gehen in
der rechten Wade und rechten Hüfte nach 20 m klage. In diesem Sinne hatte auch der den Kläger behandelnde Arzt I. im August
2014 mitgeteilt, bei dem Kläger bestehe eine rechtsbetonte PAVK II b mit einer Gehstrecke bis 20 Meter. Dementsprechend hatte
das beklagte Land diese Funktionsbeeinträchtigung mit schmerzbedingt eingeschränkter Wegstrecke unter Anwendung von Teil B
9.2.1 VMG mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet (vgl. ärztliche Stellungnahme der Dr. N. vom 26. August 2014, Bl. 40 VA). Zuletzt
wurde im April 2019 im Herz- und Gefäßzentrum R. ein Nahtaneurysma der linken Leiste – als Spätkomplikation (vgl. Seite 20
des Gutachtens) des früheren gefäßrekonstruktiven Eingriffes an der unteren Extremität – operativ ausgeräumt. Der Sachverständige
Dr. L. hat danach in seinem Gutachten vom 18. Juli 2020 ausgeprägte Ödeme beider Beine mit Zeichen einer Stauungsdermatitis
beidseits beschrieben. Der rechte Fuß war deutlich kühler als der linke Fuß. Die Fußpulse waren links sicher tastbar, rechts
waren die Fußpulse nicht tastbar. Bei der Reflextestung fand sich eine Hyperreflexie PSR rechts und ein Achillessehnenreflex-
(ASR-)Verlust beidseits. Dr. L. hat insoweit die Diagnose AVK im Stadium II, Zustand nach femoropoplitealem Bypass links,
Zustand nach Nahtaneurysma linke Leiste, Zustand nach operativer Therapie bestätigt bzw. gestellt und diese im Einklang mit
Teil B Nr. 9.2.1 VMG und der bisherigen Beurteilung des beklagten Landes mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet. Weshalb der
ärztliche Dienst des beklagten Landes unter dem 19. August 2020 meint, dass durch die operative Therapie des Nahtaneurysma
in der linken Leiste eine „bessere Beindurchblutung“ insbesondere des rechten Beines habe erreicht werden können, so dass
die arterielle Verschlusskrankheit (beider Beine) mit einem niedrigeren GdB als 50 zu bewerten wäre, erschließt sich dem Senat
nicht. Die Behauptung des beklagten Landes, „Durchblutungsstörungen wirkten sich üblicherweise erst nach Gehstrecken von einigen
100 m aus“ ist ohnehin in dieser Pauschalität nicht richtig, so dass der Senat keinen Anlass hat, sich mit diesem Argument
ernsthaft zu befassen.
c) Daneben besteht bei dem Kläger nach drei erlittenen Schlaganfällen eine Hemiparese rechts mit Stand- und Gangunsicherheit.
Weil es insoweit zwischen den Beteiligten unstreitig ist, dass die Folgen des wiederholten Schlaganfalls mit einem Einzel-GdB
von 50 zu bewerten sind und zu einer ausgeprägten Einschränkung der Gehfähigkeit des Klägers geführt haben und führen (vgl.
beratungsärztliche Stellungnahme vom 19. August 2020) hat der Senat insoweit keinen Anlass für weitere Ausführungen.
d) Bestehen bei dem Kläger damit in drei Bereichen (Lendenwirbelsäule, Arterielle Verschlusskrankheit der unteren Gliedmaßen,
Folgen von drei Schlaganfällen mit Hemiparese) solche Funktionsbeeinträchtigungen, die jeweils mit einem Einzel-GdB von 50
zu bewerten sind, so erscheint die Bewertung des Sozialgerichts, dass eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt,
diein der Gesamtheit mit einem GdB von 80 zu bewerten ist, unter Anwendung von Teil A Nr. 3 d) VMG und der Annahme wechselseitiger,
sich teilweise überschneidender, aber auch verstärkender Beziehungen, nicht fehlerhaft. Auch der Sachverständige Dr. L. hat
in diesem Zusammenhang nachvollziehbar ausgeführt, dass aufgrund der Komplexität der sich überschneidend deutlich potenzierenden
Gesundheitsstörungen des Klägers eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt, die mit einem GdB von
mindestens 80 zu bewerten ist. Das beklagte Land jedenfalls hat den Gesamt-GdB mit 90 bewertet, ohne sich im vorliegenden
Verfahren dazu zu erklären, welche Teilhabebeeinträchtigung – wenn nicht in erster Linie die einer mobilitätsbezogenen – aus
seiner Sicht hiermit bewertet worden ist.
2. Der Senat hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger wegen der Schwere seines
Leidens in so ungewöhnlich hohem Maße in seiner Gehfähigkeit eingeschränkt ist, dass er sich dauernd nur mit fremder Hilfe
oder nur mit großer Anstrengung – und zwar von den ersten Schritten an – außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Der
Sachverständige Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 18. Juli 2020 einen deutlich vorgealterten Kläger im reduzierten Allgemeinzustand
bei leichtem Übergewicht beschrieben, dem der Entkleidungsvorgang nur im Sitzen und sehr mühsam gelang. Stehen war dem Kläger
kaum möglich. Befragt zu seinen Beschwerden berichtete der Kläger dem Sachverständigen, er könne schlecht gehen, es seien
nur ganz kleine Strecken möglich am Rollator bzw. mit einer linksseitig geführten Unterarmgehstütze. Treppensteigen sei kaum
möglich im Nachstellschritt mit Handlauf. Die Beine seien kraftlos, er fühle sich sehr unsicher, auch im Stehen. Aufgrund
einer Lähmung am rechten Bein sei das Gehen sehr unsicher. Im Untersuchungsbefund hat der Sachverständige ein „kümmerliches“
Gangbild beschrieben; das rechte Bein werde fast schleifend hinterhergezogen, kleinschrittig. Es fand sich im Stand ein deutlicher
Knick-Senkfuß beidseits. Der Belastungsvorgang fand ausschließlich bei Kniestreckung statt. Prinzipiell stand der Kläger ausschließlich
auf dem linken Bein, was der Sachverständige mit dem objektiven Befund einer deutlichen Muskelminderung des gesamten rechten
Beines untermauert hat. So ergaben die vergleichenden Umfangmessungen an den unteren Extremitäten folgende Werte:
20 cm oberhalb medialer Kniegelenkspalt: rechts: 50,5 cm, links 55 cm
10 cm oberhalb medialer Kniegelenkspalt: rechts 43 cm, links 46 cm
Kniegelenkspalthöhe: rechts 39,5 cm, links 41,5 cm
15 cm unterhalb medialer Kniegelenkspalt: rechts 38,5 cm, links 40,5 cm.
Der Barfußgang ohne Unterarmstütze war dem Kläger nicht möglich. Das rechte Bein wurde praktisch als „Stelze“ benutzt, es
fand sich eine deutliche Fußheberschwäche, der Kläger stand bereits sehr unsicher auf den Beinen. Im Einbeinstand fand sich
ein positives Trendelenburg-Zeichen rechts (Abkippen des Beckens zur gesunden Seite beim Stehen auf dem erkrankten Bein als
Hinweis für eine Schwäche der hüftübergreifenden Muskulatur). Hackenstand und –gang waren dem Kläger nicht möglich, auch der
Zehenstand rechts nicht. Rechts fand sich eine Fußsenker- und Fußheberparese. Der Sachverständige hat außerdem ausgeprägte
Ödeme beider Beine mit Zeichen einer Stauungsdermatitis beidseits beschrieben, der rechte Fuß war deutlich kühler als der
linke Fuß. Die Fußpulse waren links sicher tastbar, rechts hingegen nicht tastbar. Die Fußsohlen waren seitengleich kaum beschwielt,
es fand sich eine deutliche Krallenzehenstellung. Der Sachverständige befand die Muskelminderungen des rechten Beines als
„signifikant“ und die Fußheber- und Fußsenkerparese als „evident“ und hat vor dem Hintergrund der von ihm erhobenen Befunde
die Ausführungen des den Kläger behandelnden Internisten I. – es bestehe eine maximale Gehstrecke von 15 m – (vgl. Bericht
vom 4. Juli 2018, Bl. 7 GA) als plausibel bezeichnet. Der Sachverständige ist in seiner Beurteilung der Gehfähigkeit des Klägers
sodann deutlich geworden und hat „ohne Zweifel“ ausgeführt, der auf den Beinen sehr unsichere undpersönlichkeitsimmanent eher
dissimulierendwirkende Kläger könne sich nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges mit notwendigen Hilfsmitteln
bewegen, dies auch nur kurzstreckig. Die Nutzung eines Rollstuhles zur Vermeidung überflüssiger Gehstrecken sei durchaus sinnvoll,
allerdings sei zu bezweifeln, dass die Umsetzung praxisrelevant angewendet werden könne.
Die von dem Sachverständigen zu Grunde gelegten Annahmen finden sich in Übereinstimmung mit den Angaben der behandelnden Ärzte
des Klägers. So hat der Internist I. schon im Dezember 2017 darauf hingewiesen, dass der Kläger „umständlich“ am Stock mobil
sei, das rechte Bein komme kaum mit, es bestehe ein sehr, sehr langsamer Gang und nur noch eine Gehstrecke von 5 bis 10 Meter,
dann sei eine Pause notwendig, der Kläger sei unglaublich eingeschränkt. Der Neurochirurg M. berichtete in diesem Sinne bereits
im September 2015, das Gangbild sei bei dem Kläger schmerzbedingt kaum prüfbar und befand die Beschwerden - schmerzbedingte
eingeschränkte Wegstrecke von ca. 20 Meter, dann müsse der Kläger stehenbleiben - unter Berücksichtigung der massiven Spinalkanalstenose
für glaubhaft.
Zwar ist dem beklagten Land zuzustimmen, dass aus dem Entlassungsbericht der J. Klinik vom 21. April 2017 hervorgeht, der
Kläger sei bei der Abschlussuntersuchung in der Lage gewesen, mit angelegter Fußheberorthese rechts am Rollator längere Wege
auf Klinikebene zurückzulegen, wobei das Gangbild nomalbasig und ausreichend sicher gewesen sei. Einerseits ist der Kläger
dieser Darstellung aber entgegengetreten, indem er erklärt hat, ihm sei in dieser Klinik der Umgang mit einem Rollator nicht
vermittelt worden und er sei in der Klinik nur mit einem Rollstuhl unterwegs gewesen (vgl. Schriftsatz vom 29. Juli 2019).
Andererseits sieht der Senat, dass nach Begutachtung des Klägers am 11. Juli 2017 im Rahmen der Feststellung der Pflegebedürftigkeit
zwar auch eine ausreichende Mobilität für kurze Wege innerhalb der Wohnung am Rollator bejaht worden ist (wobei es auf Seite
5 des Gutachtens heißt, „Gehen ist innerhalb und außerhalb der Wohnung mit Hilfsmittel selbständig möglich, das Treppensteigen
ist nicht selbständig möglich“). Gleichwohl hat die Gutachterin aufgrund ihres gewonnenen Gesamteindruckes bezüglich der Fortbewegung
im außerhäuslichen Bereich darauf hingewiesen, dass die Fortbewegung des Klägers außerhalb der Wohnung zu Fuß oder mit dem
Rollstuhl auf allen Wegen nur mit personeller Hilfe möglich sei, ebenso die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Nahverkehr.
Eine zuverlässige Einschätzung der Gehfähigkeit des Klägers im außerhäuslichen Bereich - wie ihn § 229 Abs. 3 Satz 1
SGB IX im Blick hat - ist damit auf Grundlage des Entlassungsberichtes der J. Klinik vom 21. April 2017 und des Pflegegutachtens
vom 12. Juli 2017 nicht möglich.
Bei zusammenfassender Betrachtung stellt der Senat fest, dass der Kläger unter erheblichen Schmerzen und nur unter Nutzung
von Hilfsmitteln (Fußheberorthese, Rollator, Unterarmgehstütze) in einem kleinschrittigen – mit den Worten des Sachverständigen:
kümmerlichen – Gang praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kfz an bestenfalls bis zu 20 Meter weit gehen kann
und dann eine Pause einlegen muss, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss,
um weitergehen zu können. Hierbei handelt es sich um die erforderliche – und für das Merkzeichen aG geforderte – große körperliche
Anstrengung (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R sowie Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R). Das Merkzeichen aG setzt nicht voraus, dass der schwerbehinderte Mensch nahezu unfähig ist, sich fortzubewegen (vgl. dazu
BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R sowie Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R).
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Die Auferlegung von Verschuldenskosten beruht auf §
192 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht im Urteil einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch
verursacht werden, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dargelegt und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites
hingewiesen worden ist.
1. Seit der Änderung des §
192 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG aufgrund des SGGArbGGÄndG (vom 26. März 2008, BGBl I 444) durch die Streichung der Worte "in einem Termin" ist auch die schriftliche
Belehrung über die Missbräuchlichkeit und zu erwartende Kostenauferlegung für den Fall der Fortführung des Rechtsstreits ausreichend
(vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, B 4 AS 17/13 R; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Auflage 2020, §
192 Rn. 10). Dieser schriftliche Hinweis auf die Möglichkeit der Auferlegung von Verschuldenskosten kann nicht nur vom Vorsitzenden,
sondern auch – wie vorliegend erfolgt – vom zuständigen Berichterstatter gegeben werden (vgl. Löcken, in: Hennig,
SGG, Stand 10/2020, §
192, Rdnr. 17; Krauß, in: Roos/Wahrendorf,
SGG, 2014, §
192, Rdnr. 31; Thüringer LSG, Urteil vom 30. Januar 2006, Az.: L 6 RA 383/04; Bayerisches LSG, Beschluss vom 10. Januar 2017, L 15 VK 14/16).
Diese Voraussetzung ist mit der Verfügung der Berichterstatterin vom 12. Februar 2021 erfüllt. Mit dieser Verfügung – dem
beklagten Land bekannt gegeben am 15. Februar 2021 – ist der Berufungsführerin dargelegt worden, wie der Senat die Sach- und
Rechtslage einschätzt und aus welchen Gründen die Berufung voraussichtlich erfolglos bleiben wird. Darüber hinaus ist das
beklagte Land auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites i.S.d. §
192 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG hingewiesen worden. Diese Verfügung ist ausreichend gewesen, um ihrer „Warnfunktion“ i.S.d. §
192 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG (vgl. hierzu: B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Auflage 2020, §
192 Rn. 10) zu genügen. Insbesondere ist diese Verfügung nicht – wie das beklagte Land unter dem 18. Februar 2021 reklamiert
– zu kurzfristig vor dem für den 23. Februar 2021 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung ergangen. Kann die Missbräuchlichkeit
der Rechtsverfolgung vom Vorsitzenden nach wie vor (vgl. zur Rechtslage vor dem SGGArbGGÄndG, oben) auch im Termin der mündlichen
Verhandlung zur Auslösung der Kostenfolge des §
192 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG dargelegt werden, so reicht es erst recht aus, wenn dieser Hinweis schriftlich eine Woche vor dem Termin ergeht.
2. Bezüglich der Bestimmung des Begriffs der Missbräuchlichkeit kann wegen des Bezugs auf § 34 BVerfGG in der Gesetzesbegründung (BT-DRS. 14/5943, Seite 28 zu Nr. 65) auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen
zurückgegriffen werden (Krauß in Roos/Warendorf,
Sozialgerichtsgesetz, 2014, §
192, Rn. 25, m.w.N.). Missbräuchlich ist danach insbesondere eine offensichtlich unzulässige oder unbegründete Rechtsverfolgung,
die von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss (z.B. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 2011, 2 BvR 751/11-, Rn. 7). Offensichtlich aussichtslos ist eine Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn sich die maßgeblichen Rechtsfragen
entweder unmittelbar aus dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften beantworten lassen oder durch höchstrichterliche Rechtsprechung
zweifelsfrei geklärt sind (Krauß in Roos/Warendorf,
Sozialgerichtsgesetz, 2014, §
192, Rn. 26, m.w.N.). Hängt der Ausgang eines Rechtsstreites maßgeblich von einer Beweiswürdigung ab, kann sich die Rechtsverfolgung
oder Rechtsverteidigung auch als offensichtlich aussichtslos darstellen, wenn ein gesteigertes Maß an Aussichtslosigkeit besteht.
Allein eine ungünstige Beweissituation oder Beweislage wird einen Missbrauch jedoch noch nicht begründen können. Vielmehr
muss ein gewisses Maß an Aussichtslosigkeit bestehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Gutachten oder gar ein Gutachten
nach §
109 SGG das Begehren nicht stützen (Krauß in Roos/Warendorf,
Sozialgerichtsgesetz, 2014, §
192, Rn. 26, m.w.N.).
Aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. L. vom 18. Juli 2020 ergeben sich keine Anhaltspunkte, die das Berufungsbegehren
des beklagten Landes stützen; im Gegenteil lassen sich daraus Argumente entnehmen, die auf die Richtigkeit der erstinstanzlichen
Entscheidung hindeuten. Ein gewisses Maß an Aussichtslosigkeit des maßgeblich von einer Beweiswürdigung abhängenden vorliegenden
Berufungsverfahrens besteht damit seit Vorliegen dieses Gutachtens.
Die Aussichtslosigkeit des Berufungsverfahrens war auch für die Berufungsführerin erkennbar. Die Frage, ob eine objektivierte
Einsichtsfähigkeit, wenn also ein verständiger Kläger von der Rechtsverfolgung Abstand nehmen oder ein verständiger Beklagter
den geltend gemachten Anspruch ohne Weiteres anerkennen würde (Krauß in Roos/Warendorf,
Sozialgerichtsgesetz, 2014, §
192, Rn. 30), ausreichend oder auf die subjektive Einsichtsfähigkeit abzustellen ist (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/
Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
192, Rn. 9a), ist vorliegend nicht zu klären, da das beklagte Land die Berufung führt und dem (objektivem) Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung unterliegt. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bindet die Verwaltung an die Regelungen des Gesetzgebers.
Er enthält zwei Komponenten, nämlich einmal den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes und zum anderen den des Vorbehalts des
Gesetzes. Der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes bringt die Bindung der Verwaltung an die bestehenden Gesetze zum Ausdruck
und besagt, dass die Verwaltungsbehörden - positiv - den Gesetzen entsprechend handeln müssen und - negativ - keine gegen
die Gesetze verstoßenden Maßnahmen treffen dürfen. Das Vorrangprinzip gilt uneingeschränkt und unbedingt für den gesamten
Bereich der Verwaltung. Das ergibt sich bereits aus der Verbindlichkeit der geltenden Gesetze und wird durch Art.
20 Abs.
3 Grundgesetz (
GG) bestätigt. §
31 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (
SGB I) regelt für den Bereich des Sozialrechts den Gesetzesvorbehalt, indem er bestimmt, dass Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen
dieses Gesetzbuches nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibt
oder zulässt. Der Gesetzesvorbehalt gilt nicht nur für die materiell-rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Bürger, sondern
erstreckt sich auch auf die Verwaltungsorganisation und das Verwaltungsverfahren. Der Aufbau und die Strukturen der Verwaltung,
die Errichtung der Verwaltungsträger, die Zuständigkeiten der Behörden und die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens in
seinen Grundzügen müssen durch Gesetz festgelegt werden. Das ergibt sich schon aus ihrer sachlichen Bedeutung, wird aber durch
die Erkenntnis, dass die Grundrechte nicht nur materielle Verbürgungen enthalten, sondern auch eine entsprechende Gestaltung
und Organisation und des Verfahrens erfordern („Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren“) bestätigt und verstärkt.
Diesem Grundsatz folgend ist die Ausgestaltung des Sozialverwaltungsverfahrens durch den Bundesgesetzgeber im Zehnten Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erfolgt. Einen Schwerpunkt innerhalb des SGB X bildet der Untersuchungsgrundsatz, § 20 SGB X. Der Untersuchungsgrundsatz enthält den Grundgedanken, dass die Behörde als neutrale Ermittlungsinstanz besonders zur objektiven
Aufklärung des Sachverhalts geeignet ist, um dadurch das Recht zur Geltung zu bringen. Deshalb ist sie ausdrücklich auch nicht
an das Vorbringen der Beteiligten gebunden (§ 20 Abs. 2 HS. 2 SGB X). Der Untersuchungsgrundsatz ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips in Art.
20 Abs.
3 GG und des Gebots des fairen Verfahrens. Bereits im Vorfeld möglichen gerichtlichen Rechtsschutzes wird durch den Untersuchungsgrundsatz
ein Ausgleich geschaffen für die prinzipiell schwächere Stellung des Bürgers gegenüber der Verwaltung; so wird ausdrücklich
die Verpflichtung der Behörde zu einer interessenneutralen Sachverhaltsaufklärung (vgl. § 20 Abs. 2 SGB X) hervorgehoben. Insofern bewirkt die Vorschrift gewissermaßen einen vorgelagerten Rechtsschutz der Beteiligten bereits innerhalb
des Verwaltungsverfahrens. Da nur auf der Basis einer einwandfreien Sachverhaltsaufklärung dem Recht Geltung verschafft werden
kann, ist der Untersuchungsgrundsatz eine Grundvoraussetzung für die Verwirklichung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
(vgl. zum Vorstehenden: Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 20 SGB X (Stand: 18.07.2019)). Im Hinblick auf die Verwaltungsorganisation hat das Land Niedersachsen mit der sachlichen und personellen
Ausstattung des die Berufung führenden Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie dafür Sorge zu tragen,
dass durch den Aufbau und die Strukturen dieser Verwaltung die administrative Umsetzung und Anwendung der Gesetze sowie die
Gestaltung der materiell-rechtlichen Beziehungen zwischen Amt und Bürger gesetzeskonform – also rechtmäßig – erfolgen.
Das Vorstehende verdeutlicht, dass in Bezug auf eine Behörde ein strengerer Maßstab an die Einsichtsfähigkeit zu stellen ist,
als bei einem/einer Kläger:in, der/die in dem Verfahren von subjektiven Motiven geleitet ist. Im Fall einer Behörde kann es
wegen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nur auf die objektivierte Einsichtsfähigkeit ankommen, denn die Behörde
ist verpflichtet, alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen, Umstände zu berücksichtigen.
Gemessen an der objektivierten Einsichtsfähigkeit musste das beklagte Land mit Kenntnisnahme des Gutachtens des Sachverständigen
Dr. L. erkennen, dass ein gewisses Maß an Aussichtslosigkeit der Berufung besteht. Dies erst recht, nachdem sich die Berichterstatterin
mit ihren Verfügungen vom 28. August 2020 und 12. Februar 2021 zur voraussichtlichen Einschätzung der Sach- und Rechtslage
durch den Senat geäußert hatte.
Neben der für das beklagte Land erkennbaren Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels liegen auch besondere Umstände vor (vgl.
B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Auflage 2020, §
192 Rn. 9), die es rechtfertigen, von der Missbräuchlichkeit der Fortsetzung des Berufungsverfahrens auszugehen. Das beklagte
Land führt die Berufung und beharrt auf einer gerichtlichen Entscheidung, ohne sich mit der gebotenen Sorgfalt mit der vorliegenden
Sach- und Rechtslage zu befassen. Insbesondere würdigt es nicht alle für den vorliegenden Fall bedeutsamen, auch die für den
Kläger günstigen, tatsächlichen Umstände. Der Senat erkennt an – vgl. insoweit schon oben unter I.2. –, dass der Entlassungsbericht
der J. -Klinik vom 21. April 2017, auf den sich das beklagte Land fortwährend beruft, nicht für das Vorliegen des streitgegenständlichen
Anspruches spricht. Davon abgesehen, dass der Kläger den Darstellungen des Entlassungsberichts entgegengetreten ist (vgl.
Schriftsatz vom 29. Juli 2019), finden sich in den vorliegenden Unterlagen und in den Befunderhebungen des Sachverständigen
aber deutliche Anhaltspunkte, die für den klägerischen Anspruch sprechen. Das Pflegegutachten vom 12. Juli 2017, welches das
beklagte Land ebenfalls für seine Sichtweise zitiert, verhält sich ohnehin nicht eindeutig zur Mobilität des Klägers im außerhäuslichen
Bereich – vgl. insoweit schon oben unter I.2. Der Senat hat nicht den Eindruck gewinnen können, dass sich das die Berufung
führende Land mit den für den Kläger günstigen Umständen auseinandergesetzt hat. So hat es zwar die von dem Sachverständigen
für den klägerischen Anspruch sprechenden festgestellten Befunde (teilweise) referiert (vgl. Stellungnahme des ärztlichen
Dienstes vom 19. August 2020, Seite 1 unten, 2 oben). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesen Feststellungen findet
aber nicht statt. Stattdessen wird die Einschätzung des Sachverständigen mit der durch nichts belegten Behauptung ins Blaue
angegriffen, die arterielle Durchblutungsstörung der Beine habe sich nach der operativen Therapie gebessert. Daneben wird
die vom vorliegenden Einzelfall losgelöste und in ihrer Pauschalität unzutreffende Aussage getroffen, dass sich Durchblutungsstörungen
und die Spinalkanalstenose „üblicherweise“ erst nach Gehstrecken von einigen 100 m auswirkten und daraus die mit den vorliegenden
Befunden nicht in Deckung zu bringende Schlussfolgerung abgeleitet, dass sich die bei dem Kläger bestehende arterielle Verschlusskrankheit
und die Spinalkanalstenose nicht verstärkend auf die Einschränkung seiner Gehfähigkeit auswirken würden. Eine substantiierte
Auseinandersetzung mit den konkret vorliegenden Befunden und der Einschätzung des Sachverständigen stellt beides nicht dar.
Die Beliebigkeit im Vortrag des beklagten Landes bildet sich auch in dem Schriftsatz vom 18. Februar 2021 ab, in dem plötzlich
und entgegen den früheren eigenen Ausführungen vom August 2020 behauptet wird, im Jahre 2019 sei eine Verschlimmerung der
gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers eingetreten.
Zentrales Argument des Berufungsvorbringens ist die Auffassung des beklagten Landes, bei dem Kläger liege keine mobilitätsbezogene
Teilhabebeeinträchtigung vor, die mit einem GdB von mindestens 80 zu bewerten sei, wobei bereits die Berufungsbegründung vom
18. Juni 2019 in dieser Hinsicht eher gehaltlos ist. Spätestens nach Kenntnis des Gutachtens des Sachverständigen Dr. L. hätte
für das die Berufung führende Land aber Anlass bestehen müssen, substantiiert unter Anwendung der Regelungen der VMG darzulegen,
wie unter Berücksichtigung der von dem Sachverständigen festgestellten medizinischen Tatsachen die bei dem Kläger bestehenden
Funktionsbeeinträchtigungen einzeln und in ihrer mobilitätsbezogenen Gesamtheit konkret zu bewerten sind, um der von ihm angegriffenen
Entscheidung des Sozialgerichts begründet entgegenzutreten. Selbst in dem Schriftsatz vom August 2020, mit dem das beklagte
Land ins Blaue hinein eine Verbesserung der arteriellen Durchblutungsstörung der Beine und einen „niedrigeren GdB als 50“
für diese Funktionsbeeinträchtigung behauptet, findet sich jedoch kein Hinweis darauf, welcher Einzel-GdB für die arterielle
Verschlusskrankheit unter Anwendung von Teil B 9.2.1 VMG und welcher mobilitätsbezogene GdB nach Teil A Nr. 3 VMG nach Ansicht
der Berufungsführerin entgegen der Einschätzung des Sozialgerichts und entgegen der Empfehlung des Sachverständigen anzunehmen
ist.
Soweit das beklagte Land in seinen Schriftsätzen vom 18. Juni 2019 und August 2020 Ausführungen zu der Gehfähigkeit des Klägers
gemacht hat, könnte es sich insoweit auf die in § 229 Abs. 3 Satz 2
SGB IX gesetzlich formulierte weitere Voraussetzung für das Merkzeichen aG (Notwendigkeit dauernder fremder Hilfe und/oder der großen
Anstrengung) bezogen haben, ohne dabei allerdings in den Blick genommen zu haben, unter welchen Bedingungen dem Kläger die
Fortbewegung außerhalb eines Kraftfahrzeuges nur möglich ist. Das Argument des beklagten Landes, dass der Kläger „zumindest
kurze Gehstrecken noch zurückzulegen“ in der Lage ist, trifft nicht den Kern der gesetzlichen Regelung und auch nicht der
zu dem Merkzeichen aG ergangenen Rechtsprechung des BSG (vgl. dazu BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R sowie Urteil vom 16. März 2016, B 9 SB 1/15 R). Hierzu hat das beklagte Land unter dem 16. Oktober 2020 darauf hingewiesen, dass es von seinem Rechtsstandpunkt ausgehend
auf diese Voraussetzung nicht ankomme. Damit verbleibt dem Senat allerdings nur die Feststellung, dass die Frage, ob dem Kläger
das Zurücklegen von Wegstrecken nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung möglich ist, nicht Gegenstand von Überlegungen
der Berufungsführerin gewesen ist.
3. Die Entscheidung nach §
192 Abs.
1 Nr.
2 SGG steht im Ermessen des Gerichts. Dabei sind stets die Umstände des Einzelfalls maßgeblich, wobei das Gericht den Grad der
Missbräuchlichkeit oder der Schwere des Verschuldens, die Höhe der entstandenen Kosten und die wirtschaftlichen Verhältnisse
der Betroffenen berücksichtigen sollte. Bezüglich der Höhe der beabsichtigten Gerichtskosten ist zu beachten, dass es sich
hier nicht um Gerichtskosten im Sinne von § 1 GKG, sondern um eine Regelung über Schadensersatz handelt. Als Mindestbetrag ist die Pauschgebühr nach §
184 Abs.
2 SGG für die jeweilige Instanz anzusetzen. Darüber hinaus können Gebühren erhoben werden, welche jedoch im Einzelfall begründet
werden müssen.
Der Senat hält es im vorliegenden Fall für angemessen, der Berufungsführerin die Personal- und Sachkosten aufzuerlegen, die
durch das Berufungsverfahren entstanden sind. Hierfür stützt sich der Senat zur Orientierung auf den Haushaltsplan des Landes
Niedersachsen für das Haushaltsjahr 2021, Einzelplan 11 (Justizministerium), Kapitel 1113 (Seite 113). Danach beliefen sich
im Jahr 2019 die budgetierten Personal- und Sachkosten (Ist) für die beim LSG eingegangenen Rechtssachenvon 4.100 Verfahren
auf EUR 6.975.532, woraus sich für eine beim LSG im Jahr 2019 eingegangene Rechtssache der durchschnittliche Stückpreis von
1.701,35 EUR errechnet. Da die vorliegende Sach- und Rechtslage weder außergewöhnlich einfach, noch außergewöhnlich schwierig
oder umfangreich ist, hält der Senat diesen durchschnittlichen Preis vorliegend für grundsätzlich sachgemäß. Ermessenserwägungen
hinsichtlich der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen erübrigen sich bei einer Landesbehörde bzw. dem Land Niedersachsen,
so dass hieraus keine Reduzierung der Kosten ableitbar ist.
Hinsichtlich des Grades der Missbräuchlichkeit bzw. der Schwere des Verschuldens nimmt der Senat zum einen in den Blick, dass
das beklagte Land schon in der Vergangenheit wiederholt Berufungsverfahren ohne die aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung ableitbare – in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht – gebotene Sorgfalt geführt bzw. Verfahren fortgesetzt
hat, obwohl ihm die voraussichtliche Erfolglosigkeit der Rechtsverfolgung bewusst gewesen ist. Dabei waren die erkennbar erfolglosen
Berufungen des beklagten Landes regelmäßig durch Entscheidungen des Berufungsgerichts zurückzuweisen. Nur beispielhaft wird
insoweit auf die Verfahren L 10 SB 2/15, L 5 SB 48/15, L 10 SB 127/15, L 5 SB 128/15, L 10 SB 160/15, L 10 SB 20/16, L 10 SB 106/16, L 10 SB 131/16, L 10 SB 32/17, L 5 SB 88/17, L 10 SB 111/17, L 10 SB 36/18, L 10 SB 101/18, L 10 SB 126/18, L 10 SB 157/18, L 10 SB 161/18, L 10 SB 11/20, L 10 SB 14/20 hingewiesen. Bisherige Apelle des Berufungsgerichts, die kostenauslösende Inanspruchnahme seiner Arbeitskapazität gewissenhaft
zu prüfen, blieben vom Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie bisher ungehört bzw. wurden von ihm dahingehend
beantwortet, dass auch Kläger:innen erkennbar erfolglose Berufungsverfahren bis zu einer Entscheidung vorantrieben, was genauso
vom Landesamt in Anspruch genommen werden könne. Diese Ansicht teilt der Senat nicht, denn er sieht im Hinblick auf die Verantwortlichkeit
für eine sachgemäße Prozessführung einen grundlegenden Unterschied zwischen den in ihren subjektiven Rechten betroffenen Kläger:innen
und der dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung unterliegenden Behörde.
Zum anderen bildet sich die Nachlässigkeit der Verfahrensführung im vorliegenden Fall nicht nur materiell-rechtlich, sondern
auch prozessrechtlich ab. Obwohl mit der Ladung dem beklagten Land gemäß §
111 Abs.
3 SGG aufgegeben worden war, zum Termin einen Beamten oder Angestellten zu entsenden, der über die Sach- und Rechtslage ausreichend
unterrichtet ist, ist im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. Februar 2021 niemand erschienen, um die Berufungsposition
zu vertreten. Da das beklagte Land im Übrigen auch die in der Ladung enthaltende Nachfrage des Senates nach einem Einverständnis
zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §
124 Abs.
2 SGG unbeantwortet gelassen hat – das Einverständnis des Klägers mit einer solchen Entscheidung lag am 20. Januar 2021 vor – hat
der Senat mit vollständiger fünfköpfiger Besetzung allein auf Veranlassung des beklagten Landes im sonst menschenleeren Sitzungssaal
verhandelt.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.