Rechtmäßigkeit einer Herabsetzung des Grades der Behinderung – GdB – nach dem SGB IX nach Ablauf einer Heilungsbewährung aufgrund einer Krebserkrankung nach einem Teilanerkenntnis
Anforderungen an eine teilweise Rechtswidrigkeit von Aufhebungsbescheiden
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren über die Herabsetzung des GdB von 100 auf 40.
Mit Bescheid vom 09.01.2013 stellte die Beklagte auf Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme sowie unter Rücknahme eines
Bescheides vom 16.09.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2010 bei dem 1959 geborenen Kläger für die Zeit
ab 31.05.2010 einen GdB von 100 fest. Diese Feststellung beruhte im Wesentlichen auf einer beim Kläger aufgetretenen Darmkrebserkrankung
und deren Folgen.
Im Dezember 2015 leitete die Beklagte ein Nachprüfungsverfahren ein und holte zunächst Befund- und Behandlungsberichte ein.
Im Rahmen einer gutachtlichen Stellungnahme vom 05.01.2016 ging die beratende Ärztin der Beklagten davon aus, dass im Hinblick
auf die Darmkrebserkrankung nach Ablauf der Heilungsbewährung nur noch ein Einzel-GdB von 20 angemessen sei. Im Übrigen leide
der Kläger unter einer Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von 20 und einem Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von 10. Der
Gesamt-GdB belaufe sich auf 30.
Im Rahmen der von der Beklagten veranlassten Anhörung teilte der Kläger mit, dass nach seiner Einschätzung die Herabstufung
des GdB nicht angemessen sei. Die verbliebenen Gesundheitsstörungen, insbesondere nach durchlaufener Krebserkrankung mit Chemotherapie
sowie die entsprechenden psychischen Belastungen seien nicht ausreichend berücksichtigt worden. Anwaltlich vertreten ergänzte
der Kläger, dass auch orthopädische Beeinträchtigungen zu berücksichtigen seien.
Die Beklagte veranlasste eine weitere gutachtliche Stellungnahme durch ihren ärztlichen Berater Dr. B. Dieser hielt daran
fest, dass der Gesamt-GdB des Klägers nach Ablauf der Heilungsbewährung mit 30 zu bewerten sei.
Daraufhin hob die Beklagte den Bescheid vom 09.01.2013 auf und setzte den GdB des Klägers für die Zeit ab 08.08.2016 auf 30
herab. In den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 09.01.2013 zugrunde gelegen hätten, sei eine wesentliche
Änderung im Sinne einer wesentlichen Besserung eingetreten (Bescheid vom 08.08.2016).
Im Widerspruchsverfahren verwies der Kläger auf seine Ausführungen im Rahmen der Anhörung. Darüber hinaus legte er Bescheinigungen
des ihn behandelnden onkologischen Zentrums sowie seiner behandelnden Ärzte für Allgemeinmedizin vor. Mitgeteilt wurden schwankende
Blutdruckwerte mit Neigung zu Dysregulation und Schwindel. Aufgrund der Krebserkrankung bestehe zudem eine psychische Instabilität
mit Schlafstörungen und Erschöpfung. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung des Klägers durch den Facharzt für
Allgemeinmedizin Dipl.-Psych. Dr. N. Dr. N hielt in seinem nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstatteten Gutachten
vom 27.01.2017 zusammenfassend einen Gesamt-GdB von 30 für angemessen.
Daraufhin wies die Bezirksregierung N1 den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 12.05.2017).
Mit seiner am 16.06.2017 bei dem SG Köln Klage erhobenen Klage hat der Kläger unter Bezugnahme auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren
geltend gemacht, die Beklagte habe seine Teilhabeeinschränkungen nicht hinreichend berücksichtigt.
Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 08.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.05.2017 aufzuheben und zu seinen
Gunsten einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides gestützt.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin, Rheumatologie und Psychotherapie Dr.
L. In seinem nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstatteten Gutachten vom 18.01.2018 hat der Sachverständige die Auffassung
vertreten, dass zwar eine wesentliche Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt des Erlasses des
Vergleichsbescheides eingetreten sei. Allerdings sei ein Gesamt-GdB von 40 festzustellen.
Die Beklagte hat daraufhin ein Teilanerkenntnis über einen GdB von 40 ab dem 08.08.2016 abgegeben. Die Annahme des Teilanerkenntnisses
hat der Kläger abgelehnt und daran festgehalten, dass der GdB noch mindestens 50 betrage. Der Kläger hat ein Attest des Facharztes
für Neurologie/Somnologie Priv.-Doz. Dr. B1 vom 07.09.2018 zur Akte gereicht. In dem Attest hat Priv.-Doz. Dr. B1 u.a. mitgeteilt,
dass der Kläger unter einem ausgeprägten obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom leide.
In einer daraufhin vom SG veranlassten ergänzenden Stellungnahme hat der Sachverständige Dr. L unter dem 18.10.2018 ausgeführt, dass er an seiner Bewertung
festhalte. Bei nächtlicher Überdruckbeatmung rechtfertige die Schlafapnoeproblematik einen GdB von 20. Dennoch verbliebe es
bei einem Gesamt-GdB von 40, der als „ggf. tendenziell starker 40er-Wert“ anzusehen sei.
Nach Hinweis an die Beteiligten (Schreiben vom 07.12.2018) hat das SG die Beklagte durch Gerichtsbescheid vom 26.02.2019 unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, gemäß ihrem Teilanerkenntnis
vom 19.03.2018 den Bescheid vom 08.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.05.2017 teilweise aufzuheben und
festzustellen, dass bei dem Kläger ein Gesamt-GdB von 40 ab dem 08.08.2016 bestehe. In den gesundheitlichen Verhältnissen,
die der maßgeblichen Vergleichsentscheidung der Beklagten vom 09.01.2013 zugrunde lägen, sei eine wesentliche Änderung im
Sinne einer Besserung eingetreten. Hinsichtlich der Darmkrebserkrankung sei eine Besserung insoweit eingetreten, als der Zeitraum
der Heilungsbewährung abgelaufen sei, ohne dass die Erkrankung zurückgekehrt wäre oder metastasiert hätte. Verblieben seien
die aus der Darmkrebserkrankung und operativen Behandlung resultierenden körperlichen Beeinträchtigungen, die der Sachverständige
Dr. L zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 berücksichtigt habe. Die Nachsorge sei im Wesentlichen unauffällig gewesen. Der
Kläger weise allerdings noch wechselndes Stuhlverhalten auf. Eine relevante Reduzierung des Kräfte- und Ernährungszustandes
resultiere daraus nicht. Weiterhin sei zu Gunsten des Klägers eine Polyneuropathie-Symptomatik zu berücksichtigen, die sich
jedoch gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt des Vergleichsbescheides nicht wesentlich geändert habe. Der
Kläger habe polyneuropathische Beschwerden im Bereich der Füße und Zehen, nachfolgend auch im Bereich der Zehenspitzen. Hierbei
handele es sich nicht zuletzt um Folgen der Chemotherapie. Da insoweit keine wesentliche Änderung eingetreten ist, verbleibe
es bei einem Einzel-GdB von 20. Darüber hinaus bestehe eine psychische Beeinträchtigung mit rezidivierenden depressiven Phasen,
Ängsten, Schlafstörungen, einer Anpassungsstörung und derzeit unspezifischen Therapiemaßnahmen. Auch diese Beeinträchtigung
bedinge einen Einzel GdB von 20. Dabei habe der Sachverständige nachvollziehbar einen Bewertungsspielraum von einem Einzel-GdB
im Bereich 0-20 angenommen. Diesen Spielraum habe er zugunsten des Klägers voll berücksichtigt. Stärker behinderte Störungen
psychischer Art habe der Sachverständige jedoch nicht feststellen können. Für die Schlafapnoesymptomatik des Klägers sei unter
Zugrundelegung der inzwischen wohl erforderlichen Überdruckbeatmung ein Einzel-GdB von 20 in Ansatz zu bringen. Im Hinblick
auf die darüber hinaus bestehenden orthopädischen Probleme - muskuläre Dysbalancen sowie eine Lumboischialgie rechts ausstrahlend,
aber ohne motorisch-neurologische Ausfallerscheinungen – sei ein Einzel-GdB von 20 zutreffend. Demgegenüber sei das Bluthochdruckleiden
des Klägers lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Es bestünden nur geringe Auswirkungen mit intermittierenden
Schwindelerscheinungen, Ohrgeräuschen, aber ohne bleibende Folgeschäden an Organen. In der Gesamtschau der Beeinträchtigungen
werde ein GdB von 50 nach Ablauf der Heilungsbewährung nicht mehr erreicht. Der Kläger weise in den verschiedenen Funktionsbereichen
lediglich jeweils einen Einzel-GdB von maximal 20 auf. Bei nur leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von jeweils
20 sei es nach Maßgabe der VMG nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Gegen den ihm am 28.02.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28.03.2019 Berufung erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 26.02.2019 zu ändern und den Bescheid vom 08.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 12.05.2017 insoweit aufzuheben, als die Beklagte einen GdB von weniger als 50 festgestellt hat.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid.
Die Beklagte hat den angefochtenen Bescheid für die Zeit vom 08.08.2016 bis 11.08.2016 aufgehoben. Nach Hinweis an die Beteiligten
hat der Senat den Rechtsstreit auf den Berichterstatter übertragen (Beschluss vom 27.03.2020).
Weiterer Einzelheiten wegen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
1. Der Senat konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden, weil die Beklagte in ordnungsgemäßer
Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist. Im Übrigen hatte der Senat der Beklagten angesichts der gegenwärtigen
Pandemiesituation nicht aufgegeben, einen Vertreter zum Termin zu entsenden.
2. Die Berufung, über die der Vorsitzende als Berichterstatter gemeinsam mit den ehrenamtlichen Richtern gemäß §
153 Abs.
5 SGG entscheiden kann (Übertragungsbeschluss v. 27.03.2020), ist unbegründet.
3. a) Unschädlich ist, dass der Kläger das „Teilanerkenntnis“ der Beklagten im Hinblick auf die teilweise Aufhebung des angefochtenen
Bescheides betreffend den Zeitraum 08.08.2016 bis 11.08.2016 nicht angenommen hat. Einer Annahme bedarf es nicht, weil der
Bescheid im Umfang seiner Aufhebung unabhängig von einer Mitwirkung des Klägers nicht mehr existiert und durch die unmittelbare
rechtsgestaltende Wirkung der Rechtsstreit in diesem (wenn auch geringen) Umfang erledigt ist.
b) Die Rechtswidrigkeit der ursprünglich von der Beklagten vorgenommenen rückwirkenden Aufhebung führt nicht zur Rechtswidrigkeit
des angefochtenen Bescheides insgesamt. Das LSG Berlin-Brandenburg hat zwar in einem Urteil vom 25.02.2015 in einer vergleichbaren
Konstellation einen Aufhebungsbescheid wegen fehlender Teilbarkeit in zeitlicher Hinsicht und nur punktueller Wirkung für
insgesamt rechtswidrig gehalten (L 13 SB 90/13, juris Rn 14). Der Senat schließt sich dem aber nicht an und sieht sich dabei in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
BSG. Das BSG hat in einem Fall, in dem rechtswidrig rückwirkend der Wegfall des Schutzes der Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt
worden war, entschieden, dass nur die an § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X zu messende rückwirkende Feststellung rechtswidrig, im Übrigen aber die Klage abzuweisen sei (BSG, Urteil v. 04.07.1989 - 9 RVs 3/88, juris Rn 19 f.). In einem weiteren Sachverhalt, in dem über eine rückwirkende Aufhebung von Arbeitslosenhilfe zu entscheiden
war, hat das BSG ebenfalls zwischen der Rechtmäßigkeit der Aufhebung für die Vergangenheit und der Rechtmäßigkeit der Aufhebung für die Zukunft
differenziert (BSG, Urteil v. 09.09.1986 - 7 RAr 47/85, juris Rn 16 ff.). Dahinstehen kann, ob dies dogmatisch damit begründet wird, dass eine Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X immer auch eine solche nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X beinhaltet, dass eine entsprechende Umdeutung erfolgen kann oder dass es sich schlichtweg um einen Austausch der Begründung
handelt.
4. a) Das SG hat die über das Teilanerkenntnis der Beklagten hinausgehende Klage sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zu Recht
abgewiesen, weil eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X) im Sinne einer Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers und der damit einhergehenden Reduzierung der Teilhabeeinschränkungen
eingetreten ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat gemäß §
153 Abs.
2 SGG Bezug auf die Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe
ab, zumal der Kläger auch im Berufungsverfahren keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die für eine andere Beurteilung sprechen
könnten.
b) Ob sich der Gesundheitszustand des Klägers zwischenzeitlich ggf. wieder verschlimmert hat, ist für die Beurteilung dieses
Rechtsstreits ohne Bedeutung, weil streitentscheidend die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides
ist. Nachdem der Widerspruchsbescheid unter dem 12.05.2017 ergangen ist, kommt es insbesondere nicht darauf an, dass im Hinblick
auf das beim Kläger vorhandene Schlafapnoe-Syndrom im Februar 2018 eine nächtliche Ventilationstherapie mit nCPAP (vgl. hier
Bericht des Priv.-Doz. Dr. B1 vom 07.09.2018) eingeleitet wurde.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
6. Anlass, die Revision zuzulassen, hat der Senat auch angesichts der Revisionszulassungen in den Entscheidungen des LSG Rheinland-Pfalz
vom 16.10.2019 (L 4 SB 69/19 und L 4 SB 77/19) nicht gesehen. Zur Bestimmtheit von Verwaltungsakten und insbesondere zur Frage der teilweisen Rechtswidrigkeit von Aufhebungsbescheiden
findet sich die bereits unter 3.b) skizzierte Rechtsprechung des BSG. Insofern sind diese Fragen als geklärt anzusehen (vgl. auch BSG, Beschluss v. 06.03.2020 - B 9 SB 86/19 B).