Rentenversicherung - Rente wegen Erwerbsminderung; Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen; Verweisungstätigkeit;
Rente auf Zeit
Tatbestand:
Der 1967 geborene Kläger besuchte sieben Jahre die Schule, erreichte jedoch nur den Abschluss der sechsten Klasse. Er durchlief
danach vom 1. September 1982 bis zum 15. Juli 1984 eine (Teil-)Lehre als Gärtner und war bis Mai 1986 als Gärtner beschäftigt.
Danach arbeitete er nach seinen Angaben als Genossenschaftsbauer bzw. Melker und von Mai 1989 bis Oktober 1991 als Transportarbeiter
in einem Käsewerk. Von März 1992 bis Dezember 2006 war er als Bauhelfer, Baumaschinenführer und Kraftfahrer versicherungspflichtig
beschäftigt. Infolge einer Tumorerkrankung des rechten Auges mit nachfolgender Entfernung desselben im Januar 2007 bezog er
vom 1. August 2007 bis zum 31. Oktober 2010 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Seit dem 1. November 2010 erhält er Leistungen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II). Währenddessen war er von Mai 2012 bis Dezember 2013 und von Januar bis Februar 2014 als Auslieferungsfahrer für Großküchen
zwei bis drei Stunden täglich bzw. 15 Stunden wöchentlich geringfügig beschäftigt. Ausweislich des Arbeitsvertrages mit der
Großküche E. erhielt er hierfür 150,00 EUR monatlich. Nach Angaben des Klägers sei die Großküche E. dann als Bördeküche GmbH
mit Sitz in M. fortgeführt worden. Er hätte auf Abruf eingesetzt werden sollen. Da er dorthin auf eigene Kosten mit dem Auto
hätte fahren müssen und vom Arbeitgeber einmal 4,80 EUR monatlich erhalten habe, habe er diese Tätigkeit beendet.
Auf den am 24. April 2007 gestellten Rentenantrag des Klägers, den er mit dem Verlust des rechten Auges und der Tumorerkrankung
begründete, holte die Beklagte u.a. das Gutachten der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. K. vom 18. Juli 2007 ein, die den
Kläger am 12. Juli 2007 ambulant untersuchte und zu dem Ergebnis kam, beim Kläger bestehe durch Enukleation des rechten Auges
eine Einäugigkeit. Nach optimaler Augenprothesenanpassung könne er alle Tätigkeiten ausüben, die die Einäugigkeit zulasse.
Tätigkeiten in der Höhe oder an laufenden Maschinen seien ausgeschlossen. Im Entlassungsbericht der M. Klinik K. - Abteilung
Onkologie - vom 11. Dezember 2007 sind als Diagnosen ein Aderhautmelanom rechts mit extraokulärem Wachstum sowie der Zustand
nach Enukleation des rechten Auges am 29. Januar 2007 und nach Radiatio vom 8. März bis zum 20. April 2007 sowie eine lokale
Infektion des rechten Auges berücksichtigt. Die Leistungsfähigkeit des Klägers sei deutlich beeinträchtigt. Derzeit sei er
sowohl als Tiefbauer/Baumaschinenführer sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur unter drei Stunden täglich einsetzbar.
In einer hierzu angeforderten Erläuterung der Leistungsbeurteilung durch den prüfärztlichen Dienst wies die Chefärztin Onkologie
Dr. M. unter dem 25. März 2008 darauf hin, dass beim Kläger eine außerordentlich seltene Tumorerkrankung mit extraokulärem
Wachstum und ausgesprochen ungünstigen Prognosekriterien vorliege. Der Kläger habe über häufige Kopfschmerzen, überwiegend
im Hinterkopf, sowie über eine ausgeprägte und rezidivierende Entzündung in der Augenhöhle geklagt, wodurch sein Wohlbefinden
erheblich beeinträchtigt sei. Durch die Einäugigkeit bestehe ein deutlich eingeschränktes räumliches Sehvermögen. Aufgrund
der fehlenden Ausdauerbelastbarkeit, des eingeschränkten räumlichen Sehvermögens, der Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung
und der sozialen Unsicherheit des Klägers könnten auch leichte Tätigkeiten derzeit nur unter drei Stunden ausgeübt werden.
Nachdem dem Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. August 2007 bis zum 31. Oktober 2010 gewährt worden war,
beantragte er am 7. Juni 2010 die Weitergewährung dieser Rente. Die Beklagte holte daraufhin einen Behandlungs- und Befundbericht
vom dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. K. vom 2. Juni 2010 ein. Der Kläger habe über Kopfschmerzen geklagt und eine gelegentlich
bestehende psychovegetative Beeinflussung. Eine Befundänderung sei nicht eingetreten. Die Beklagte ließ den Kläger ferner
erneut von Dr. K. unter dem 4. Oktober 2010 begutachten. Der Kläger habe über eine ständig absondernde Augenhöhle geklagt.
Aus rein ophthalmologischer Sicht könne der Kläger leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich ausführen, die mit der
Einäugigkeit vereinbar seien. Als Tiefbauer und Maschinenführer könne er aufgrund der Einäugigkeit, der Schwere der Arbeit
und der Belastung durch Staub, Kälte, Nässe und Zugluft bei chronischer Entzündung der Augenhöhle nicht mehr arbeiten. Seinen
erlernten Beruf als Gärtner könne er unter bestimmten Voraussetzungen ausüben. Zu berücksichtigen seien darüber hinaus die
Schwere und Prognose des Krankheitsbildes, weshalb eine zusätzliche psychologische Begutachtung empfehlenswert sei. Dem Gutachten
beigefügt ist der Befund von Dr. K. von der Gemeinschaftspraxis für Pathologie vom 2. November 2009, wonach ausgeprägte fibröse
narbige Veränderungen mit granulierender teils florider Entzündung bei Zustand nach Voroperation bei dem aus der Orbitahöhle
rechts entnommenen Gewebe festgestellt worden seien. Ausweislich des Berichtes von Dr. M. vom 17. März 2011, Chefarzt in der
Klinik für Augenheilkunde im S. O.-Klinikum, zeige sich in der lateralen Orbitahöhle ein unveränderter Bindehauttumor.
Die Beklagte ließ den Kläger sodann von der Nervenärztin Dr. G. begutachten. Diese erstellte ihr Gutachten vom 10. September
2011 nach einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 31. August 2011. Dr. G. wies darauf hin, dass der Kläger (nur) wie
ein Schüler der zweiten Klasse lesen könne und die mathematischen Fähigkeiten ebenfalls sehr begrenzt seien. Befragt zu der
noch zu "DDR-Zeiten" erworbenen Fahrerlaubnis habe der Kläger angegeben, bei der Theorie habe der Fahrlehrer "ein Auge zugedrückt".
Neben der Einäugigkeit bestehe nach ihrer Auffassung eine intellektuelle Minderbefähigung. Der Kläger habe bis zur Erkrankung
körperlich schwere Arbeiten ausgeführt und sich in der Praxis offenbar, da er fleißig gewesen sei, bewährt. Die schlechte
Schulausbildung mache es nicht möglich, dass der Kläger eine Umschulungsmaßnahme bewältigen könne. Es kämen nur sehr einfache
Tätigkeiten mit sehr vielen Einschränkungen in Betracht. Nur wenn ein leidensgerechter Arbeitsplatz gefunden werde, sei die
Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit wieder möglich. Den Ankreuzbogen der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung füllte
die Gutachterin nur insoweit aus, als sie in Bezug auf die Tätigkeit als Hilfsarbeiter auf dem Bau ein unterdreistündiges
Leistungsvermögen ankreuzte. Zur Beurteilung des zeitlichen Umfangs entsprechend dem positiven und negativen Leistungsbild
ist die Bemerkung "nur einfache Anlerntätigkeiten unter Berücksichtigung der Tumorerkrankung" angegeben. In der daraufhin
vom prüfärztlichen Dienst angeforderten Ergänzung gab Dr. G. unter dem 9. Januar 2012 an, beim Versicherten liege eine leichte
Intelligenzminderung vor und er sei in der Lage, einfache Arbeiten unter Anleitung vollschichtig auszuführen, wobei die Einäugigkeit
infolge der Tumorerkrankung zu berücksichtigen sei. Mit Hilfe der Familie könne er selbstständig seine persönlichen Angelegenheiten
erledigen und entscheiden.
Mit Bescheid vom 21. Oktober 2010 lehnte die Beklagte den Weiterzahlungsantrag ab. Trotz des Verlustes des rechten Auges wegen
des Tumorleidens könne der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes
erwerbstätig sein. Mit dem hiergegen am 25. Oktober 2010 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, er könne seine
letzte Tätigkeit im Straßenbau wegen Staub und Dreck nicht mehr ausführen, Büroarbeit wegen fehlender schulischer Leistungen
und Computerarbeit wegen Brennens und verschwommenen Sehens des gesunden Auges nicht verrichten. Das rechte Auge schleime
ständig, ohne dass dagegen etwas getan werden könne. Auch das linke gesunde Auge sei schon leicht entzündet und in Mitleidenschaft
gezogen. Gelegentlich habe er Kopfschmerzen und es werde ihm schwarz vor Augen. Wegen der Sichtfeldeinschränkung könne er
auch eine Tätigkeit als Berufskraftfahrer nicht mehr ausüben. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 2012 wies die Beklagte
den Widerspruch als unbegründet zurück. Zwar sei die Leistungsfähigkeit des Klägers durch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung
(Verlust des rechten Auges wegen Tumorleiden) beeinträchtigt. Es sei daher eine konkrete Verweisungstätigkeit bzw. ein Tätigkeitsfeld
zu benennen. Medizinisch zumutbar sei der Kläger auf Produktionshelfertätigkeiten als Warenaufmacher, Verpacker und Sortierer
verweisbar. Die Beklagte hat insoweit eine Tätigkeitsbeschreibung beigefügt; wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 141 und
142 der Verwaltungsakte Bezug genommen.
Mit der hiergegen am 10. Mai 2012 beim Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat der Kläger seinen Anspruch auf Bewilligung
von Rente wegen voller Erwerbsminderung weiterverfolgt. Er hat zum einen sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Zum anderen hat er auf seine seelische Beeinträchtigung hingewiesen, da bei ihm unverändert ein Bindehauttumor vorlege und
er sich halbjährlich zu augenärztlichen Nachuntersuchungen sowie zu Oberbauchsonografien zum Ausschluss einer Leberfiliae
zu begeben habe. Von den behandelnden Ärzten sei auf die ausgesprochen ungünstige Prognose des bei ihm bestehenden Aderhautmelanoms
hingewiesen worden.
Das Sozialgericht hat Behandlungs- und Befundberichte von Dr. K. vom 22. Juli 2013 und von Dipl.-Med. K. vom 27. September
2013 eingeholt. Dipl.-Med. K. hat auf weitere Tumorentfernungen im Bereich des Lidwinkels im Oktober 2009 sowie im Mai 2013
hingewiesen und die Leistungseinschätzung abgegeben, der Kläger könne nur noch unter sechs Stunden täglich mit zusätzlichen
Einschränkungen tätig sein.
Sodann hat das Sozialgericht ein Gutachten des Facharztes für Augenheilkunde und Arbeitsmedizin Priv. Doz. Dr. M. (im Weiteren:
PD Dr. M.) vom 18. Oktober 2014 eingeholt. Danach betrage das Sehvermögen des linken Auges 1,0. Rechts bestehe ein guter Prothesensitz
mit einem befriedigenden kosmetischen Ergebnis. Es bestehe kein Anhalt für ein Rezidiv eines Bindehaut-Tumors bzw. Melanoms.
Es liege eine leichte Farbsinnstörung vor. Die Prognose des Aderhaut-Melanoms sei weiterhin unsicher, aufgrund des Zeitablaufs
aber eher günstig einzuschätzen. Seitens der Augen könne der Kläger eine Vielzahl von Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
verrichten, wobei nur geringe Anforderungen an seine Intelligenz gestellt werden könnten. Der Kläger könne als Gärtner, nicht
dagegen als Kraftfahrer, Wäschefahrer, Baumaschinenfahrer und im Straßenbau tätig sein. Hinsichtlich der Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten
Einäugiger hat er auf die Literatur "Augenärztliche Begutachtung in der DDR" hingewiesen, an der er als Mitglied in der Kommission
der augenärztlichen Arbeitsmedizin "maßgeblich" mitgearbeitet habe. Die von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten
als Verpacker, Produktionshelfer als Warenaufmacher sowie Portier seien für Einäugige mit geistiger Minderbegabung wie den
Kläger durchaus zumutbar. Der prüfärztlichen Stellungnahme sei voll zuzustimmen, soweit es dort heiße, dass der "Ist-Zustand"
maßgeblich sei und sich die Leistungseinschätzung nicht an "Prognose-Kriterien" zu orientieren habe. Wörtlich es heißt weiter:
Wenn letzteres geschehe, müssten bei unsicherer Prognose [ ] eine Vielzahl von Krebspatienten prophylaktisch berentet werden."
Mit Urteil vom 21. Januar 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger sei über den 31. Oktober 2010 hinaus
weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. Er könne trotz der bestehenden Einäugigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbare
Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Die Kammer stütze sich auf das Gutachten von PD Dr. M. Dieses stimme
mit dem Gutachten der Augenfachärztin Dr. K. von September 2010 überein, welche festgestellt habe, dass der Kläger noch in
der Lage sei, leichte Tätigkeiten zu verrichten. Insbesondere die benannten Verweisungstätigkeiten eines Produktionshelfers
oder Verpackers seien dem Kläger trotz der aufgrund der bestehenden Einäugigkeit zu berücksichtigenden schweren spezifischen
Leistungsbehinderung gesundheitlich zumutbar.
Gegen das ihm am 10. Februar 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10. März 2015 Berufung beim Landessozialgericht (LSG)
Sachsen-Anhalt eingelegt. Mit der am 13. August 2015 eingegangenen Berufungsbegründung hat er darauf hingewiesen, inzwischen
an einem psychosomatischen Syndrom sowie an einer schweren depressiven Episode zu leiden und sich deshalb in psychotherapeutische
Behandlung begeben zu haben. Bislang seien weder seine psychischen Beeinträchtigungen noch die festgestellte Legasthenie sowie
eine neu aufgetretene Funktionsstörung des Magen-Darm-Traktes berücksichtigt worden. Er hat einen von ihm veranlassten Befundbericht
des Facharztes für Psychiatrie/Psychotherapie T. vom 23. April 2015 über die vom Hausarzt initiierte Mitbehandlung vom 16.
Februar bis zum 16. März 2015 beigefügt. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 159 bis 167 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Der Kläger hat angegeben, ca. alle zwei Stunden das Glasauge mit Hilfe eines Saugnapfs entfernen und mit einer speziell hierfür
hergestellten Flüssigkeit reinigen sowie Salbe in die Augenhöhle geben zu müssen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll
des Verhandlungstermins beim Senat verwiesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 21. Januar 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. Oktober 2010 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung
über den 31. Oktober 2010 hinaus, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. November 2010 zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil und ihren Bescheid für rechtmäßig.
Im Berufungsverfahren sind Behandlungs- und Befundberichte von dem Facharzt für Innere Medizin Dr. G. - ohne Datum -, eingegangen
am 15. Dezember 2015, von Dr. K. vom 1. Februar 2016 sowie von dem Facharzt für Neurologie, Psychiatrie Dr. W. vom 10. Oktober
2016 eingeholt und die Epikrise des A. Klinikums H. vom 13. Juli 2015 über die teilstationäre Behandlung des Klägers vom 11.
Mai bis zum 3. Juli 2015 beigezogen worden. Dr. G. hat einen unauffälligen Oberbauchbefund bei derzeitiger Beschwerdefreiheit
mitgeteilt. Dr. K. hat auf einen konstant gebliebenen Gesundheitszustand bei beklagter Sehbehinderung, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche,
Angst vor einem Rezidiv sowie psychosomatische Beschwerden hingewiesen. Dr. W. hat die Diagnose einer mittelgradig ausgeprägten
depressiven Erkrankung gestellt. Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers sei schwierig, da dieser durch das fehlende
Auge beeinträchtigt sei, der Verdacht auf eine Lese-Rechtschreib-Schwäche bestehe und der Kläger wenig flexibel erscheine.
Es sei die Therapie mit einem Antidepressivum begonnen worden. Sollte die Depressivität positiv beeinflussbar sein, könne
der Kläger seinen Fähigkeiten entsprechend und unter Berücksichtigung seiner Beeinträchtigungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
eingesetzt werden. Aus der Epikrise des A. Klinikums H. ergibt sich, dass dort die Diagnose einer mittelgradigen reaktiven
depressiven Episode gestellt worden ist. Die Einstellung auf ein Antidepressivum ist als nicht erforderlich angesehen, jedoch
eine medikamentöse Behandlung mit Augensalbe unverändert fortgeführt worden. Zum Ende der Therapie habe der Kläger angegeben,
körperlich wieder belastbarer zu sein, weniger Grübelneigung zu spüren und im Kontaktverhalten aktiver geworden zu sein. Wegen
der Einzelheiten wird auf Blatt 205, 206, 216 bis 218, 221, 222 sowie 239, 240 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Schließlich ist das Gutachten von dem Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie Privatdozent Dr. G. (im Weiteren:
PD Dr. G.) vom 10. Mai 2017 eingeholt worden. Der gerichtliche Sachverständige hat den Kläger am 19. April 2017 ambulant untersucht.
Im Rahmen der Anamneseerhebung hat der Kläger angegeben, immer verheimlicht zu haben, dass er nicht richtig lesen und schreiben
könne. 1987 und 1990 habe er den Führerschein für das Motorrad bzw. für das Auto gemacht und die theoretischen Fragen für
den Motorradführerschein auswendig gelernt; für den Kraftfahrzeugführerschein seien ihm die Prüfungsfragen vorgelesen worden.
Einer Nachprüfung seitens der Führerscheinstelle habe er sich auch nach dem Verlust des rechten Auges nie unterziehen müssen.
Er habe in dem seinem Vater gehörenden Pkw einen zweiten Innenspiegel anbringen lassen, um den toten Winkel, den er nach der
Entfernung seines Auges habe, einzugrenzen. Zur Begutachtung sei er gemeinsam mit seinem Vater mit dem Auto kommen.
Zum Tagesablauf hat er angegeben, um 7.30 Uhr aufzustehen. Er lebe mit seinem Vater gemeinsam in einem Einfamilienhaus auf
einem ungefähr 2000 m² großen Grundstück mit Rasen und einigen Bäumen. Als Haustiere hätten sie drei Vögel. Er habe Kontakt
zu einer Nachbarin, es gebe eine Schwester der Mutter und entfernte Bekannte und Verwandte in H. Freunde habe er keine, auch
schon seit vielen Jahren keine Partnerin mehr und ein Hobby, an dem ihm besonders gelegen sei, könne er nicht benennen. Der
Tag bestehe aus Frühstücken, Mittagessen, Aufräumen und Abwaschen, Fernsehen schauen, etwas spazieren gehen und Abendbrotessen.
Seit 2014 gehe er auf Vermittlung des Arbeitsamtes jeweils montags, mittwochs und donnerstags von 8.15 Uhr bis 12.30 Uhr zur
Volkshochschule und solle dort lesen und schreiben lernen.
PD Dr. G. hat zum körperlichen Untersuchungsbefund angegeben, die Augenprothese sei außerordentlich - deutlich sichtbar -
tief in der Augenhöhle gelegen. Der Augenhöhlenbereich sei rechts entzündet, der Lidschluss nicht möglich, die Wimpern des
rechten Auges seien an der Prothese festgeklebt. Arme und Hände seien frei beweglich, die grobe Kraft und die Feinmotorik
nicht beeinträchtigt gewesen. Auch die unteren Extremitäten hätten keine Auffälligkeiten gezeigt. Das Gangbild sei flüssig
und unauffällig gewesen. Die Wirbelsäule sei leicht S-skoliotisch konfiguriert, eine isolierte Druck- oder Klopfschmerzhaftigkeit
bzw. ein Stauchungsschmerz habe sich nicht nachweisen lassen. In psychischer Hinsicht sei der Kläger bewusstseinsklar und
orientiert gewesen. Er habe sich in der Untersuchungssituation zugewandt und auskunftsbereit, kooperativ und in seinen Angaben
glaubwürdig gezeigt. Zeitweise habe er depressiv verstimmt bei der Erörterung seines Leidensweges gewirkt. Hier sei er deutlich
verbittert und insbesondere vom Tod seiner Mutter schwer betroffen gewesen. In der Gesamtpersönlichkeit bestünden ausgesprochen
auffällige Züge. Der Kläger wirke wenig selbstbestimmt und übertrage die Verantwortung für sein eigenes Leben bevorzugt an
Andere, lebe in einer nahezu symbiotischen Beziehung zu seinem Vater, wirke infolge durchweg negativer Paar-Beziehungen frustriert
und sei in seiner Fähigkeit, künftig neue soziale Beziehungen aufzubauen, hochgradig gehemmt. Insgesamt sei er durchsetzungsgehemmt,
in seinem Denken ausgesprochen misserfolgsorientiert und aggressionsgehemmt. Es bestünden ausgeprägte neurotischunreife Bewältigungsmechanismen
in Form massiver Verdrängung und Verleugnung. Hinweise für eine Aggravation oder Simulation hätten sich nicht gefunden. Der
Kläger wirke ausgesprochen frustrationsintolerant, dabei aber arbeitsmäßig an sich motiviert; anders könne die dreijährige
Teilnahme am Deutschunterricht ohne spezifische Trainingsstrategien für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht interpretiert
werden. Das Ergebnis der Rechtschreibprüfung sei extrem schlecht und belege die Nichteignung für alle Berufe mit durchschnittlichen
Leseanforderungen und zeige zugleich auch ausgeprägte Grenzen der Aneignung neuer Lerninhalte auf diesem Wege. Die spezielle
Testung habe einen Intelligenz-Quotienten von 98 und damit ein durchschnittliches intellektuelles Niveau ergeben.
Als Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem und neurologischem Gebiet bestünden eine Lese- und Rechtschreibstörung, deren
Ursache in einem Zustand nach frühkindlicher Hirnschädigung mit nachfolgender Volumenminderung des Gehirns liegen dürfte.
Ferner sei eine kombinierte Persönlichkeitsstörung zu berücksichtigen. Nach der Krebserkrankung hätten sich zudem eine Klaustrophobie
sowie eine Höhenphobie entwickelt. Schließlich bestehe die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig
remittiert. Als fachfremde Gesundheitsstörungen seien die Entfernung des rechten Auges wegen eines Tumors sowie eine leichte
Skoliose der Wirbelsäule, ausgehend von einem diskreten angeborenen Beckenschiefstand, zu berücksichtigen.
Die Augenhöhle sei entzündet und mache eine tägliche Pflege mit entzündungshemmender und antibiotischer Salbe erforderlich,
deren Anwendung dazu führe, dass die Wimpern an der Prothese festklebten, wodurch die Schutzfunktion des rechten Augenlides
und der Augenhöhle entfalle. Deshalb könne der Kläger nicht mehr unter Einfluss von Staub, Kälte und Wind, nicht längere Zeit
am Computer und nicht bei Nacht arbeiten. Infolge der Beeinträchtigung des räumlichen Sehens seien dem Kläger Tätigkeiten
in Spät- und Nachtschicht sowie Tätigkeiten unter Zeitdruck, im Akkord oder am Fließband nicht zumutbar. Die Einäugigkeit
führe zu einer Beeinträchtigung der räumlichen Wahrnehmung mit Vergrößerung des toten Winkels nicht nur bei der Bewegung im
Raum, sondern auch bei der Griffgenauigkeit der Hände. Aufgrund der - aus seiner (des Gutachters) Sicht - deutlichen kosmetischen
Beeinträchtigung seien Arbeiten mit Publikumsverkehr nicht möglich. Wegen der phobischen Syndrome, aber auch der Einschränkung
des räumlichen Sehens, könne der Kläger nicht in der Höhe und nicht in engen geschlossenen Räumen arbeiten. Die Beeinträchtigung
der Lesefähigkeit - auch aufgrund der Lese-Rechtschreibstörung - sei erheblich. Infolge der Persönlichkeitsstruktur sei der
Kläger in seinem Denken misserfolgsorientiert, frustrationsintolerant, leicht irritier- und ablenkbar und er neige zur depressiven
Konfliktverarbeitung. Der Kläger sei nur noch Arbeiten mit sehr geringen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit,
Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit gewachsen. Arbeiten, wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen,
Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen seien, sofern sie nicht in Räumen mit Staubentwicklung,
zu starker Sonneneinstrahlung, zu dunklen Räumen und augenreizenden Klebstoffen verrichtet werden müssten, möglich. Auch feinmotorische
Höchstanforderungen könnten nicht erfüllt werden. Das Gehvermögen des Klägers sei nicht beeinträchtigt. Einen PKW könne er
nutzen, nicht aber bei der Beförderung anderer Personen oder als Berufskraftfahrer.
Insgesamt werde der Kläger durch die Gesundheitsstörungen in den im Erwerbsleben erforderlichen körperlichen und geistigen
Funktionen "ungewöhnlich vielschichtig und in den verschiedensten Funktionsbereichen behindert". Aus medizinischer Sicht bestünden
die vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht isoliert nebeneinander, sondern potenzierten sich in ihrem Zusammenwirken hinsichtlich
der Verminderung der Arbeitseinsatzressourcen und damit der Anpassung an die Gegebenheiten des allgemeinen Arbeitsmarktes.
Aus der Gesamtheit der vorliegenden Gesundheitsstörungen resultiere letztlich aus gutachterlicher Sicht eine so hochgradige
gesundheitlich bedingte Einschränkung der Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, dass im Grunde genommen eine
Stelle nach den Fähigkeiten des Klägers geschaffen werden müsse. Typischerweise finde sich eine solche Stelle nur im Bereich
einer geschützten Werkstatt. Aus gutachterlicher Sicht werde dem Gericht empfohlen, zu überprüfen, inwieweit doch eine "Summation
ungewöhnlicher Leistungsminderungen" vorliege.
Sofern alle umfänglichen vorgenannten Einsatzeinschränkungen realisiert werden könnten, könne der Kläger noch mindestens sechs
Stunden täglich arbeiten. Bei den vorhandenen zahlreichen Gesundheitsstörungen seien mit großer Wahrscheinlichkeit längere
krankheitsbedingte Ausfallzeiten zu erwarten. Die Leistungseinbußen seien von dauerhafter Natur und bestünden in wesentlichen
Bereichen schon seit Oktober 2010.
Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf eine prüfärztliche Stellungnahme von Dr. K. und Frau W. vom 13. Juni 2017 daran festgehalten,
dass der Kläger leichte bis mittelschwere Arbeiten mit qualitativen Leistungseinschränkungen sechs Stunden und mehr täglich
verrichten könne. Den vom gerichtlichen Sachverständigen angenommenen qualitativen Leistungseinschränkungen hinsichtlich der
mnestischen Fähigkeiten könne nicht gefolgt werden, da während des tagesklinischen Aufenthalts im A. Klinikum der Kläger im
Aufmerksamkeit-Belastungs-Test d2 Ergebnisse im Normalbereich erzielt hätte. Die Einäugigkeit bestehe seit Januar 2007. Er
fahre nach eigenen Angaben PKW und nehme regelmäßig dreimal wöchentlich an einer Schulungsmaßnahme teil. Anders als in den
Vorgutachten sei von einer normalen Intelligenz auszugehen. Anlerntätigkeiten wie Zureichen, Abnehmen etc. könnten im Rahmen
der Tätigkeit als Verpacker von Kleinteilen, aber auch Tätigkeiten mit höheren Anforderungen, verrichtet werden. Insoweit
hat sie berufskundliche Unterlagen, insbesondere die Gutachten des Diplom-Verwaltungswirts (FH) M. L. vom 13. September 2009
und vom 5. Mai 2010 sowie dessen Stellungnahme vom 13. Februar 2016 in dem Verfahren beim LSG Sachsen-Anhalt L 1 R 91/14 eingereicht; insoweit wird auf Blatt 322 bis 328 der Gerichtsakte verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten, die sämtlich
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist teilweise begründet.
Im Ergebnis zu Unrecht hat das Sozialgericht in Bezug auf den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen voller
Erwerbsminderung die Klage vollumfänglich abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist teilweise rechtswidrig und verletzt den
Kläger in seinen Rechten (§§
153 Abs.1, 54 Abs.
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG)).
Der Kläger hat Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. November 2017 bis zum 31. Oktober 2020.
Denn es ist zur Überzeugung des Senats im Zeitpunkt der Untersuchung bei PD Dr. G. nachgewiesen, dass der Kläger nicht mehr
in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein und die von der Beklagten
benannten Verweisungstätigkeiten zu verrichten.
Nach §
43 Abs.
1 und
2 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen
teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor
Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt
der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Gemäß §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind,
unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach
§
43 Abs.
2 Satz 2
SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert
ist nach §
43 Abs.
3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein
kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Der Kläger ist nach dem Ergebnis der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchgeführten medizinischen Ermittlungen seit
Rentenantragstellung in der Lage, sechs Stunden täglich (nur noch) leichte körperliche Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten
ohne Arbeiten in Zwangshaltungen, ohne Leiter- oder Gerüstarbeiten oder andere Arbeiten mit Absturzgefahr, ohne schweres Heben
und Tragen in Tagschicht zu verrichten. Die Gebrauchsfähigkeit der Hände ist in Bezug auf Griffgenauigkeit und hohe feinmotorische
Anforderungen eingeschränkt. Ausgeschlossen sind zudem Akkord- oder Fließbandarbeit sowie Arbeiten in Zugluft, Nässe und Kälte,
mit Sonneneinstrahlung, mit Staubeinwirkung oder schleimhautreizenden Stoffen, bei Dunkelheit, mit erhöhtem Zeitdruck und
mit Publikumsverkehr sowie in Wechsel-, Spät- und Nachtschicht. Der Kläger verfügt nur über mangelhafte Rechtschreibkenntnisse
und geringe mathematische Fähigkeiten. Er kann einerseits nur in geschlossenen, aber andererseits nicht in engen Räumen arbeiten.
Der Kläger ist geistig und anamnestisch nur geringsten Anforderungen gewachsen.
Dieses Leistungsbild ergibt sich für den Senat aus dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren,
insbesondere aus den Gutachten von PD Dr. G. vom 10. Mai 2017 und von Dr. G. vom 10. September 2011 sowie den Befunden in
den Gutachten von Dr. K. vom 4. Oktober 2010 und von PD Dr. M. vom 18. Oktober 2014.
Danach besteht beim Kläger der Zustand nach Entfernung des rechten Auges aufgrund eines Aderhautmelanoms. Die Tumorerkrankung
hat bislang nicht zur Metastasenbildung außerhalb des Auges, jedoch zu rezidivierenden bösartigen Neubildungen der Bindehaut
mit der Notwendigkeit weiterer Tumorgewebeentfernungen im Oktober 2009 und im Mai 2013 geführt. Nachdem zunächst eine ungünstige
Prognose aufgrund der als Folge des Aderhautmelanoms häufig beschriebenen Metastasierung im zentralen Nervensystem und in
der Leber abgegeben worden ist, wird die Prognose aufgrund des Zeitablaufs inzwischen positiver bewertet. Gleichwohl leidet
der Kläger nach wie vor unter der Angst der Ausbreitung der Krebserkrankung. Die Versorgung mit dem Kunstauge ist weiterhin
unbefriedigend. Der Kläger leidet unter rezidivierenden Entzündungen und Verklebungen der Augenhöhle, weshalb der Lidschluss
nicht möglich und die Schutzfunktion des Augenlides aufgehoben ist. Das Kunstauge muss regelmäßig entnommen sowie gereinigt
und die Augenhöhle mit entzündungshemmender Salbe versorgt werden. Gleichwohl brennt und tränt die rechte Augenhöhle und ist
verschleimt, wodurch eine ständige Beeinträchtigung des Wohlbefindens hervorgerufen wird. Durch die Überlastung des gesunden
linken Auges ist dies ebenfalls öfter gereizt und in Mitleidenschaft gezogen. In Folge dessen hat sich eine häufige Kopfschmerzsymptomatik
entwickelt. Aufgrund der Einäugigkeit ist die räumliche Wahrnehmung des Klägers im Straßenverkehr, bei der Bewegung im Raum
und bei der Griffgenauigkeit der Hände beeinträchtigt. Die Einäugigkeit hat ferner zu der Ausbildung einer Höhenphobie sowie
einer Klaustrophobie geführt. Schließlich leidet der Kläger als Folge der Tumorerkrankung unter rezidivierenden depressiven
Verstimmungen mit unterschiedlicher Ausprägung.
Die weitere sein Leistungsvermögen maßgeblich beeinträchtigende Gesundheitsstörung ist eine kombinierte Persönlichkeitsstörung.
Bereits Dr. M. hat unter dem 25. März 2008 eine soziale Unsicherheit des Klägers erkannt. Auch Dr. G. ist zu der Einschätzung
gelangt, der Kläger könne nur mit Hilfe der Familie seine persönlichen Angelegenheiten erledigen und entscheiden. PD Dr. G.
hat anhand der persönlichen Entwicklung des Klägers, seiner Beziehungsgestaltung zu Partnerinnen und Eltern "ausgesprochen
auffällige Züge der Gesamtpersönlichkeit" beschrieben. Aufgrund dessen sei der Kläger misserfolgsorientiert, frustrationsintolerant
sowie leicht irritier- und ablenkbar. Zudem besteht bei dem Kläger aufgrund des Zustandes nach frühkindlicher Hirnschädigung
mit nachfolgender Volumenminderung des Gehirns eine Lese- und Rechtschreibstörung. Trotz des regelmäßigen Grundschulbesuchs
von sieben Klassen und des Besuchs eines Deutschkurses im Rahmen einer Weiterbildungsmaßnahme seit 2014 ist es dem Kläger
nicht gelungen, ausreichende Rechtschreibkenntnisse zu erwerben. Schließlich besteht beim Kläger eine leichte Skoliose der
Wirbelsäule, ausgehend von einem diskreten angeborenen Beckenschiefstand, die nach seinen Angaben bereits in der Jugend seine
Berufswahl beeinträchtigt und die Verwirklichung seines Berufswunsches des Maurers verhindert hat.
Aufgrund der Kombination der hieraus resultierenden qualitativen Leistungseinschränkungen ist für den Senat keine Tätigkeit
ersichtlich, die der Kläger noch verrichten kann.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 78/09 R -, juris), der der Senat sich anschließt, ist bei Versicherten, die trotz qualitativer Leistungseinschränkungen noch zu
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten können, die Einsatzfähigkeit des Versicherten in einem Betrieb
nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Auf einer ersten Prüfstufe ist festzustellen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten
Verrichtungen oder Tätigkeiten (wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren,
Verpacken; Zusammensetzen von Teilen usw.) erlaubt, die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden. In diesem
Fall genügt die Benennung von "Arbeitsfeldern", von "Tätigkeiten der Art nach" oder "geeigneten Tätigkeitsfeldern", die der
Versicherte ausfüllen könnte (BSG, a.a.O. RdNr. 36).
In Bezug auf die oben genannten Tätigkeiten wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben,
Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen ist ein wettbewerbsfähiger Einsatz des Klägers aufgrund der vorgenannten
Gesundheitsstörungen und der daraus resultierenden Leistungseinschränkungen nicht mehr möglich. Der Kläger kann nicht über
einen längeren Zeitraum konzentriert arbeiten, da er durch die Beeinträchtigungen des rechten Auges bzw. in geringem Umfang
auch des linken Auges und der Kopfschmerzen in seiner Konzentration beeinträchtigt und aufgrund seiner Persönlichkeitsstörung
leicht irritier- und ablenkbar ist. Er muss in regelmäßigen Abständen den Arbeitsplatz verlassen und einen hygienisch ausgestatteten
Waschraum aufsuchen, um das Kunstauge zu entnehmen und zu reinigen und die Augenhöhle mit Salbe zu versorgen. Der Arbeitsplatz
darf nicht zu eng, aber auch nicht im Freien, nicht mit Staubentwicklung, nicht mit zu starker Sonneneinstrahlung, aber auch
nicht zu dunkel gestaltet sein. Aufgrund seines misserfolgsorientierten Denkens und der fehlenden Frustrationstoleranz bedarf
der Kläger ständiger Betreuung und Anleitung, um das geforderte Arbeitsziel zu erreichen. Diese Beurteilung ergibt sich aus
den übereinstimmenden Einschätzungen von Dr. M., Dr. G. und PD Dr. G.
Soweit Dr. K. darauf abstellt, die Ergebnisse der psychiatrischen Abteilung des A. Klinikums im Aufmerksamkeits-Belastungs-Test
d2 seien im Normbereich gewesen, steht dies dieser Beurteilung nicht entgegen. Denn aufgrund der von PD Dr. G. dargelegten
Persönlichkeitsstörungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger über einen Zeitraum von sechs Stunden eine gleichbleibende
Aufmerksamkeit beibehalten kann. Soweit ferner darauf abgestellt wird, dass er seit 2014 regelmäßig dreimal wöchentlich an
einer Schulungsmaßnahme teilnimmt und hieraus die Zuverlässigkeit des Klägers abzuleiten sei, überzeugt dies in Bezug auf
das obige Ergebnis ebenfalls nicht. Vielmehr zeigt die regelmäßige Teilnahme den - von allen Gutachtern festgestellten - Willen
des Klägers, in das Erwerbsleben eingegliedert zu werden. Ferner belegt der Umstand, dass der Kläger auch nach drei Jahren
Weiterbildungsmaßnahme noch über mangelhafte Rechtschreibkenntnisse verfügt, dass er aufgrund der Lese- und Rechtschreibstörung
sowie der frühkindlichen Hirnschädigung mit nachfolgender Volumenminderung des Gehirns nicht in der Lage ist, neue Sachverhalte
zu erlernen. Dementsprechend hat der Kläger trotz des Verlustes des rechten Auges und der nicht mehr gegebenen Einsatzfähigkeit
als Berufskraftfahrer sich weiterhin bemüht, als Auslieferungsfahrer für Großküchen - wenn auch nur in geringem zeitlichen
Umfang - tätig zu seien. Denn in seinem vorangegangen Berufsleben war er langjährig als Baumaschinen- und Kraftfahrer versicherungspflichtig
tätig. Eine berufliche Umorientierung nach dem Verlust des rechten Auges war ihm offenkundig nicht möglich.
Auf der sich anschließenden zweiten Prüfstufe, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere
spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, ist zur Überzeugung des Senats aufgrund der vorherigen Ausführungen zum einen vom
Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen auszugehen. Zum anderen dürften die Voraussetzungen des
Katalogfalls Nr. 1 vorliegen (vgl. BSG, Urteil vom 20. Oktober 2004 - B 5 RJ 48/03 R -, juris). Danach ist bei Versicherten, obwohl sie noch eine Vollzeittätigkeit ausüben bzw. nach der ab 2001 geltenden
Rechtslage noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten können (vgl. BSG, Urteil vom 09. Mai 2012 - B 5 R 68/11 R - juris) von einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auszugehen, wenn die Tätigkeit nicht unter den in den Betrieben
üblichen Bedingungen ausgeübt werden kann. Dies ist hier aufgrund des Erfordernisses, regelmäßig das Kunstauge zu entfernen,
dies in einem sauberen Waschbecken zu reinigen und die Augenhöhle mit Salbe zu versorgen, gegeben. Denn der Kläger muss das
Waschbecken ohne die gleichzeitige Nutzung durch andere Arbeitnehmer für ca. eine viertel Stunde mit einem Handtuch auslegen
können, um Beschädigungen des Kunstauges und Infektionen der Augenhöhle zu verhindern.
Auf das hieraus resultierende Erfordernis der Benennung mindestens einer konkreten Verweisungstätigkeit hat die Beklagte "auf
Produktionshelfertätigkeiten als Warenaufmacher, Verpacker, Sortierer" verwiesen und auf eine Tätigkeitsbeschreibung des Verpackers
von Kleinteilen sowie die Gutachten des Diplom-Verwaltungswirts (FH) M. L. vom 13. September 2009 und vom 5. Mai 2010 sowie
dessen Stellungnahme vom 13. Februar 2016 in dem Verfahren beim LSG Sachsen-Anhalt L 1 R 91/14 Bezug genommen. Danach ergeben sich für leistungsgeminderte Arbeitnehmer seit ca. August/September 2014 noch drei Aufgabenbereiche,
in denen für diese bundesweit jeweils über 300 bis 400 Arbeitsplätze vorhanden sind. Diese Bereiche sind die Endkontrolle
von hergestellten Lampen und Leuchtmitteln, das Einpacken von teuren Gütern oder Artikeln, z.B. von hochwertigen Schreibgeräten
und -utensilien sowie Artikel der "oberen Preissegmente" in der Süßwarenindustrie. Die vorgenannten Tätigkeiten kann der Kläger
aus gesundheitlichen Gründen nicht verrichten. Die Endkontrolle von Lampen und Leuchtmitteln ist aufgrund des ständigen Ein-
und Ausschaltens mit den Gesundheitsstörungen an den Augen nicht zu vereinbaren. Denn der Kläger darf nur in normal ausgeleuchteten
Arbeitsräumen, ohne starke Sonneneinstrahlung etc. arbeiten. Das Einpacken von hochwertigen Artikeln, z.B. hochwertigen Schreibgeräten
und -utensilien, Schmuck und Uhren sowie hochwertigen Süßwaren, kommt aufgrund der rezidivierenden Entzündungen mit Schleimabgang
aus dem rechten Auge nicht in Betracht. Schließlich ist sämtlichen der vorgenannten Arbeiten immanent, dass sie eine durchschnittliche
Konzentration und Ausdauer erfordern. Dies ist bei dem Kläger - wie oben dargelegt - nicht gegeben.
Die Gewährung einer Rente über den 31. Oktober 2010 hinaus auf Dauer kam jedoch nicht in Betracht. Denn der Nachweis dafür,
dass eine Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers durch das Hinzutreten von Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche
und psychosomatischen Beschwerden eingetreten ist, die in Kombination mit der fortbestehenden Entzündung der rechten Augenhöhle
zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes geführt hat, ist erst durch die Untersuchung bei PD Dr. G. erbracht. Damit
kam die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung erst ab dem 1. November 2017 und nur auf Zeit in Betracht. Denn
Renten u.a. wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nur auf Zeit geleistet. Dies ergibt sich aus §
102 Abs.
2 Satz 1
SGB VI.
Nach §
101 Abs.
1 SGB VI werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt
der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Hier ist - wie oben dargelegt - der Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit
mit der Untersuchung bei PD Dr. G. am 19. April 2017 nachgewiesen.
Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen lagen zu diesem Zeitpunkt ebenfalls vor. Zwar hat der Kläger im Fünf-Jahreszeitraum
vom 19. April 2012 bis zum 18. April 2017 keinen Monat mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit
belegt. Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich jedoch gemäß §
43 Abs.
4 Nr.
1 SGB VI um Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, soweit die Zeiträume nicht mit
Pflichtbeiträgen belegt sind. Insoweit ist hier der Verlängerungstatbestand des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vom 1. August 2008 bis zum 31. Oktober 2010 erfüllt und es liegen Anrechnungszeiten nach §
58 Abs.
1 Nr.
3 SGB VI vom 1. Januar 2011 bis zum 18. April 2017 vor. In dem um diese Zeiten verlängerten Zeitraum liegen von Oktober 2005 bis Juli
2008 und November bis Dezember 2010 insgesamt 36 Monate mit Pflichtbeitragszeiten vor.
Die Befristung der Rente erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 2). Hier endet die Rente aufgrund
der dreijährigen Verlängerung am 31. Oktober 2020.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von
einer Entscheidung der in §
160 Abs.
2 Nr.
2 SGG genannten Gerichte abweicht.