GdB-Feststellung im Schwerbehindertenrecht bei Gebärmutterkrebs; Rechtmäßigkeit einer Herabsetzung nach Ablauf der Heilungsbewährung
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) nach Ablauf der Heilungsbewährung.
Auf Antrag der am ... 1950 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 11. Januar 2005 für die Funktionsbeeinträchtigung:
"Operierte Erkrankung der Gebärmutter mit Lungenbeteiligung in Heilungsbewährung" ab 29. Oktober 2004 einen GdB von 90 fest.
Nach dem Bericht der Lungenklinik L. vom 21. September 2004 lagen beidseits pulmonale Metastasen eines endometrialen Stromasarkoms
des Uterus bei einem Zustand nach Hysterektomie und Adnexektomie 1997 sowie Re-Operation mit en bloc - Tumorresektion im kleinen
Becken und Ureterneuimplantation am 24. Juni 2004 vor. Am 18. August und 1. September 2004 erfolgten die axillären Thorakotomien
zur Entfernung der Lungenmetastasen.
Im September 2009 veranlasste der Beklagte ein Überprüfungsverfahren (Nachuntersuchung von Amts wegen), indem er Befundscheine
der behandelnden Ärzte der Klägerin einholte. Die Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe Dipl.-Med. W. berichtete am
7. September 2009, zurzeit lägen keine Hinweise auf ein Rezidiv oder Metastasen vor. Es seien keine Chemotherapie und keine
Bestrahlungen erfolgt. Die Klägerin habe zeitweise Beschwerden im Schulter-Nackenbereich und eine chronische Bronchitis. Psychische
Auffälligkeiten bestünden nicht. Der Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie/Allergologie Dr. W. teilte am 4. September 2009
mit, es lägen eine mäßige Belastungsdyspnoe und eine Bronchialobstruktion leichten Grades vor. In Anlage übersandte er die
Lungenfunktionsprüfung vom 8. Januar 2009 mit folgenden Werten: VCin-B 113%, FEV1 85%, FEV1/VCin 78%, PEF 71% und RAWtot 116%.
In Auswertung dieser Befunde schlug Dr. B. vom Ärztlichen Dienst des Beklagten nach Ablauf der Heilungsbewährung für die Lungenfunktionseinschränkung
bei chronischer Atemwegserkrankung und Teilverlust des rechten Lungenober- und unterlappens einen GdB von 20 vor. Für den
Verlust der Gebärmutter könne nach Ablauf der Heilungsbewährung ohne Rezidiv kein GdB mehr festgesetzt werden. Mit Schreiben
vom 21. Januar 2010 hörte der Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Herabsetzung des Behinderungsgrades auf 20 für die
Zukunft an.
Mit Stellungnahme vom 12. Februar 2010 teilte die Klägerin mit, zwar sei sie rezidivfrei, doch seien ihr Allgemeinbefinden
und die Lebensqualität beeinträchtigt. Nach der Reha-Maßnahme im Februar/März 2005 sei eine stufenweise Wiedereingliederung
in den Arbeitsprozess erfolgt und ab Juni habe sie wieder mit Vollbeschäftigung begonnen. Trotz der häufigen Narben- und Rückenschmerzen
und der Schmerzen im Bauch- und Unterleibsraum (lange vertikale und horizontale Narben im Bauchbereich, beidseitig von den
Achselhöhlen bis zum Brustkorb verlaufende Narben, Metallklammern im Bauchraum) habe sie dies ohne nennenswerte Krankheitstage,
aber unter Zuhilfenahme von tariflichen Vereinbarungen (mögliche Krankentage) ohne Krankenschein bis heute eingehalten. Da
ihr aber klar geworden sei, diese Belastungen nicht bis zum 65. Lebensjahr durchhalten zu können, habe sie im Jahr 2006 einen
bis Juni 2013 (63. Geburtstag) angelegten Altersteilzeitvertrag abgeschlossen.
Mit Bescheid vom 2. März 2010 hob der Beklagte den Bescheid vom 11. Januar 2005 auf und stellte ab 1. April 2010 einen GdB
von 20 fest. Dagegen erhob die Klägerin am 24. März 2010 Widerspruch, weil die vielen Narbenschmerzen aufgrund der durchgeführten
Operationen, die häufigen Rückenschmerzen, die Einschränkungen der Lungenfunktion und das damit insgesamt herabgesetzte Gesamtbefinden
nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Da die Rückenschmerzen durch die Lungenoperationen entstanden seien, habe sie
keinen Orthopäden aufgesucht.
Der Beklagte holte nochmals einen Befundschein der Dipl.-Med. W. vom 14. Juni 2010 ein, wonach die Klägerin zeitweise Beschwerden
im Schulter-Nackenbereich habe und unter einer chronischen Bronchitis leide. Ein Hinweis auf ein Rezidiv oder eine Metastasierung
liege nicht vor. Im Juli 2009 habe die Klägerin vereinzelte Unterbauchbeschwerden angegeben, die durchgeführte Sonographie
sei unauffällig gewesen. Aufgrund einer erneuten Angabe von Unterbauchbeschwerden im Januar 2010 (bei gynäkologisch unauffälligem
Befund) sei sie zur Koloskopie überwiesen worden. In Anlage übersandte Dipl.-Med. W. den Befund des Internisten Dr. U. vom
10. März 2010, der über eine unauffällige Koloskopie berichtet hatte. Mit Stellungnahme vom 26. Juli 2010 führte die Ärztliche
Gutachterin des Beklagten Dr. V. aus: Nach den Lungenoperationen sei die Lungenfunktion gering eingeschränkt. Die Bewertung
mit einem GdB von 20 sei dafür maximal ausreichend und leidensgerecht. Für die zeitweiligen Unterbauch- und Halswirbelsäulenschmerzen
sei kein GdB festzustellen. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück
und führte aus: Es sei eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen insofern eingetreten, als die Zeit
der Heilungsbewährung für die Tumorbehandlung erfolgreich abgelaufen sei. Die Lungenfunktionseinschränkung bei chronischer
Atemwegserkrankung und Lungenteilverlust bedinge einen GdB von 20. Für den Verlust der weiblichen Unterleibsorgane sei ein
GdB von 10 festzustellen, der den Gesamt-GdB aber nicht erhöhe.
Dagegen hat die Klägerin am 22. November 2010 Klage beim Sozialgericht (SG) Magdeburg erhoben und auf ihre bestehenden körperlichen und psychischen Beschwerden hingewiesen. Das SG hat weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Dipl.-Med. W. hat am 2. April 2012 eine eingeschränkte psychische
und physische Belastbarkeit mitgeteilt. Neben Beschwerden im Schulter-Nackenbereich und rezidivierenden Unterbauchbeschwerden
liege seit einem Jahr eine Hyperhidrosis (Steigerung der Schweißbildung im Klimakterium) vor. Die Fachärzte für Allgemeinmedizin,
Chirotherapie/Sportmedizin/Naturheilverfahren D. S. haben am 24. Juli 2012 folgende Diagnosen gestellt: Allergisches Exanthem
(11/2011), Oesophagitis/Gastritis (4/2011), Haemorrhoidalleiden (3/2010), rezidivierende Infekte der oberen Atemwege (mehrmals
jährlich), Hypercholesterinämie, Hyperurikämie, rezidivierende Bronchitiden. In den letzten Jahren seien keine großen Veränderungen,
aber sukzessive eine leichte Verschlechterung der Symptome eingetreten. Die Klägerin habe darüber berichtet, dass sie nicht
voll belastbar sei und oft an einem Schwächegefühl leide. Die häufig auftretenden Infekte seien gleich mit sehr starken Schmerzen
verbunden. Sie leide an einer Grübelneigung sowie Angstzuständen (Angst vor Rezidiv des Tumorleidens bzw. Metastasen). Damit
verbunden seien Schlafstörungen und Unruhezustände. In Anlage zum Befundbericht haben sich weitere Arztbriefe befunden. Dr.
W. hat am 27. September 2007 über einen unveränderten Befund im Vergleich zu März 2007 bei leichter belastungs- und witterungsabhängiger
Dyspnoe (kein Husten) und einer Therapie mit Salbuhexal berichtet. Am 18. April 2008 hat er mitgeteilt, die Bodyplethysmographie
habe eine leichte Obstruktion und Überblähung gezeigt. Die wechselnde, leichte Dyspnoe werde auf die leichte Bronchialobstruktion
zurückgeführt. Eine Bedarfsmedikation sei vorhanden. Dr. U. hat am 17. November 2011 über eine erneute Endoskopie berichtet
und dabei eine Refluxkrankheit ohne Entzündung der Speiseröhre festgestellt. Die Fachärztin für Orthopädie Dr. B. hat am 9.
Dezember 2011 im Schulterbereich links eine Bursitis und eine PHS (Periarthritis humero-scapularis) sowie eine chirotherapeutisch
zu behandelnde Blockierung bei einem Zustand nach Morbus Scheuermann diagnostiziert. Nach dem Bericht des Facharztes für Innere
Medizin/Pneumologie/Allergologie Dr. G. vom 27. März 2012 seien intrapulmonal keine frischen entzündlichen Infiltrate und
keine Herdsetzungen vorhanden. Röntgenologisch und klinisch habe kein Anhalt für eine Tumormanifestation bestanden. Am 5.
Juni 2012 hat Dr. G. über eine normale Lungenfunktion nach der Bodyplethysmographie berichtet (periphere Sauerstoffsättigung:
99% - normal). Wegen der thorakalen Schmerzsymptomatik sei eine kardiologische Überweisung erfolgt. Der Facharzt für Innere
Medizin/Kardiologie Dr. K. hat am 25. Juni 2012 mitgeteilt, die Klägerin habe vor Monaten bei körperlicher Belastung einen
thorakalen Druck ohne begleitende Luftnot empfunden. Die Symptomatik habe sich nach der bronchiospasmolytischen Therapie gebessert.
Eine inhalative Therapie der Atemwegsobstruktion werde laufend durchgeführt. Die durchgeführte Ergometrie habe weder in Ruhe
noch unter Belastung Zeichen der aktuellen koronaren Ischämie gezeigt.
Mit Urteil vom 21. September 2012 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Nach Ablauf der Heilungsbewährung seien nur noch die tatsächlichen Funktionseinschränkungen
festzustellen. Für die Lungenfunktionseinschränkung könne kein höherer Einzel-GdB als 20 vergeben werden. Krankheiten der
Atmungsorgane mit einer dauernden Einschränkung der Lungenfunktion geringen Grades seien mit einem GdB von 20 bis 40 zu bewerten.
Im Befundbericht des Pulmologen vom September 2009 werde lediglich eine leichte Obstruktion mitgeteilt. Bei einem Lungenfunktionstest
im Januar 2009 habe der FEV1-Wert bei 85% vom Soll gelegen. Für den Verlust der Eierstöcke und der Gebärmutter könne bei der
1950 geborenen Klägerin kein höherer Einzel-GdB als 10 festgestellt werden. Da leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen
GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führten, verbleibe es zum
maßgeblichen Zeitpunkt (2010) beim höchsten Einzel-GdB von 20 für die Lungenfunktionseinschränkung.
Gegen das ihr am 26. Oktober 2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19. November 2012 Berufung eingelegt und um eine
erneute umfangreiche medizinische Sachaufklärung mit erneuter Bewertung des GdB gebeten.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 21. September 2012 sowie den Bescheid des Beklagten vom 2. März 2010 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2010 aufzuheben, soweit damit der GdB auf weniger als 50 herabgesetzt worden ist.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf die aus seiner Sicht zutreffenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil des SG. Ergänzend hat er unter Hinweis auf die prüfärztliche Stellungnahme seiner Gutachterin Dr. W. vom 11. Juni 2013 vorgetragen:
Die von der Frauenärztin mitgeteilten vereinzelten Unterbauch- und Verwachsungsbeschwerden bedingten höchstens einen GdB von
10. Weitere Funktionsstörungen lägen in diesem vormaligen Operationsgebiet nicht vor. Eine maßgebliche Lungenfunktionseinschränkung
bestehe nach den Befunden von Dr. W. und Dr. G. nicht. Es liege allenfalls zeitweise eine diskrete Einschränkung vor, wobei
eine Abweichung um 20% von den Sollwerten klinisch nicht relevant sei. Unter der inhalativen Therapie seien die Lungenfunktionswerte
sogar durchweg normal. Die Schulterbeschwerden infolge des operativen Zugangsweges bzw. der Narben sowie das zeitweilige Druckgefühl
im Brustkorb bei körperlicher Belastung rechtfertigten aber den GdB von 20. Da die nahezu unauffälligen Brustkorb- und Lungenbefunde
die subjektiven Beschwerden nicht erklärten, sei eine koronare Herzkrankheit vermutet worden, die sich nach dem Befund von
Dr. K. aber nicht bestätigt habe. Die Befindlichkeitsstörungen und Behandlungsleiden, die im hausärztlichen Befundbericht
aufgeführt seien, bedingten keinen zusätzlichen GdB. Insgesamt sei daher für die Lungenfunktionsstörung bei chronischer Atemwegserkrankung
und den Teilverlust des rechten Lungenober- und unterlappens ein GdB von 20, für die Verwachsungsbeschwerden nach den Unterleibsoperationen
ein GdB von 10 sowie ein Gesamt-GdB von 20 ab September 2009 festzustellen.
Die Klägerin hat sich mit Schreiben vom 9. August 2013 und der Beklagte mit Schreiben vom 24. Juni 2013 (offensichtlich Schreibfehler,
Eingang bei Gericht am 20. August 2013) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte nach §§
124 Abs.
2,
153 Abs.
1 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben.
Die form- und fristgemäß eingelegte und gemäß §
143 SGG auch statthafte Berufung der Klägerin ist unbegründet. Der Beklagte hat zu Recht den Bescheid vom 29. Oktober 2004 aufgehoben
und ab 1. April 2010 einen GdB von 20 festgestellt. Die angefochtenen Bescheide und das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg
sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§
54 Abs.
2 SGG).
Gegenstand des Rechtsstreits ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß §
54 Abs.
1 SGG gegen einen belastenden Verwaltungsakt. Dabei ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen
Bescheide der Erlass des Widerspruchsbescheids am 28. Oktober 2010 und damit die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt
(vgl. BSG, Urteil vom 18. September 2003, B 9 SB 6/02 R -, juris).
Die angefochtenen Bescheide sind formell rechtmäßig. Insbesondere ist die nach § 24 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) erforderliche Anhörung zu einer beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 20 für die Zukunft mit Schreiben vom 21. Januar
2010 erfolgt.
Seine materielle Ermächtigungsgrundlage finden die von der Klägerin angefochtenen Bescheide in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Als wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes
gilt, wobei dies sowohl hinsichtlich der Besserung als auch Verschlechterung anzunehmen ist, jedenfalls eine Veränderung,
die es erforderlich macht, den Gesamtgrad der Behinderung um mindestens 10 anzuheben oder abzusenken.
Auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat der Beklagte wirksam den Bescheid vom 29. Oktober 2004 aufgehoben und den Behinderungsgrad der Klägerin neu festgestellt.
Es ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen durch den Ablauf der Heilungsbewährung nach der Krebserkrankung
eingetreten, die nicht mehr den mit Bescheid vom 29. Oktober 2004 festgestellten GdB von 90, sondern ab 1. April 2010 eine
Bewertung mit 20 rechtfertigt. Die Operationen aufgrund der Gebärmuttererkrankung mit Lungenbeteiligung lagen zum Zeitpunkt
des Aufhebungsbescheides bereits über fünf Jahre zurück (die Tumoroperationen erfolgten im Juni, August, September 2004) und
ein Rezidiv ist nach den Berichten der Dipl.-Med. W., des Dr. W. und des Dr. G. unter Hinweis auf die röntgenologischen und
klinischen Untersuchungen nicht wieder aufgetreten. Dieser Ablauf der Heilungsbewährung stellt eine tatsächliche Veränderung
im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X dar. Die Zeitdauer der Heilungsbewährung bei malignen Erkrankungen basiert auf Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft
über die Gefahr des Auftretens einer Rezidiverkrankung in den ersten fünf Jahren nach der Erstbehandlung sowie der regelmäßig
vorhandenen subjektiven Befürchtung vor einem Rezidiv. Die Heilungsbewährung erfasst darüber hinaus auch die vielfältigen
Auswirkungen, die mit der Feststellung, der Beseitigung und der Nachbehandlung eines Tumors in allen Lebensbereichen verbunden
sind. Dies rechtfertigt es nach der sozialmedizinischen Erfahrung, bei Krebserkrankungen zunächst nicht nur den Organverlust
zu bewerten. Vielmehr ist hier zunächst für einen gewissen Zeitraum unterschiedslos der Schwerbehindertenstatus zu gewähren.
Die pauschale, umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung kann jedoch nicht auf Dauer
Bestand haben. Da nach der medizinischen Erfahrung nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit
die Krebserkrankung überwunden ist und außerdem neben der unmittelbaren Lebensbedrohung auch die vielfältigen Auswirkungen
der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind, ist der GdB dann nur noch anhand der noch verbliebenen Funktionseinschränkungen
zu bewerten (BSG, Urteil vom 9. August 1995, 9 RVs 14/94, juris).
Für die Feststellung des GdB aufgrund der nach der Überwindung der Krebserkrankung noch verbliebenen Funktionseinschränkungen
zum Zeitpunkt der letzen Behördenentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2010) ist das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs
(
SGB IX) maßgebend. Nach §
69 Abs.
1 Satz 1
SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Diese Regelung
knüpft materiellrechtlich an den in §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit
oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe
am Leben der Gesellschaft (bzw. Funktionsbeeinträchtigungen) vorliegen, wird nach §
69 Abs.
3 Satz 1
SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung
festgestellt.
Nach §
69 Abs.
1 Satz 5
SGB IX gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Nach § 30 Abs. 1 BVG richtet sich die Beurteilung des Schweregrades - dort des "Grades der Schädigungsfolgen" (GdS) - nach den allgemeinen Auswirkungen
der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 1. Januar 2009
in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) aufgestellt worden, zu deren Erlass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch § 30 Abs. 16 BVG ermächtigt ist. Nach § 2 VersMedV sind die auch für die Beurteilung des Schweregrades nach § 30 Abs. 1 BVG maßgebenden Grundsätze in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15. Dezember
2008, G 5702) als deren Bestandteil festgelegt und damit der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte mit der
rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen.
Für die hier streitige Bemessung des GdB ist die GdS-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze anzuwenden. Nach den
allgemeinen Hinweisen zu der GdS-Tabelle sind die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte (Teil B, Nr. 1 a). In jedem Einzelfall
sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel
innerhalb der in Teil A, Nr. 2 e genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf;
Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf)
zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1
a).
Nach diesem Maßstab kann für die Funktionseinschränkungen der Klägerin ab 1. April 2010 ein GdB von 20 festgestellt werden.
Die bei der Klägerin nach Ablauf der Heilungsbewährung von fünf Jahren vorliegenden Funktionseinschränkungen rechtfertigen
nach den eingeholten Befundberichten nebst Anlagen unter Berücksichtigung der versorgungsärztlichen Stellungnahmen keinen
höheren GdB.
a)
Die Gesundheitsstörungen infolge der Lungenoperationen sind dem Funktionssystem Atmung zuzuordnen und bedingen einen GdB von
20.
Bei Krankheiten der Atmungsorgane mit einer dauernden Einschränkung der Lungenfunktion geringen Grades (das gewöhnliche Maß
übersteigende Atemnot bei mittelschwerer Belastung (zum Beispiel forsches Gehen, mittelschwere körperliche Arbeit), statische
und dynamische Werte der Lungenfunktionsprüfung bis zu 1/3 niedriger als die Sollwerte, Blutgaswerte im Normbereich) ist nach
den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil B, Nr. 8.3) ein Bewertungsrahmen von 20 bis 40 vorgegeben. Nach diesem Maßstab
kann unter Berücksichtigung der Befundberichte von Dr. W. und Dr. G. ein GdB von 20 festgestellt werden. Insoweit folgt der
Senat den versorgungsärztlichen Stellungnahmen, in denen zu Recht darauf hingewiesen worden ist, dass lediglich eine chronische
Bronchitis mit einer zeitweisen diskreten Einschränkung der Lungenfunktion vorliege, die mit einer inhalativen Therapie behandelt
werde. Dafür kann lediglich eine Bewertung am unteren Bewertungsrahmen, also mit 20 erfolgen. So hat Dr. W. am 27. September
2007 über einen unveränderten Befund im Vergleich zu März 2007 bei leichter belastungs- und witterungsabhängiger Dyspnoe (kein
Husten) und eine Bedarfsmedikation mit Salbuhexal berichtet. Am 18. April 2008 hat er mitgeteilt, die Bodyplethysmographie
habe eine leichte Obstruktion und Überblähung gezeigt. Außerdem hat er wiederum über eine wechselnde, leichte Dyspnoe berichtet,
die er auf die leichte Bronchialobstruktion zurückgeführt hatte. Am 4. September 2009 hat Dr. W. zwar eine mäßige Belastungsdyspnoe
und eine Bronchialobstruktion leichten Grades mitgeteilt. Die in Anlage übersandte Lungenfunktionsprüfung vom 8. Januar 2009
(VCin-B 113%, FEV1 85%, FEV1/VCin 78%, PEF 71% und RAWtot 116%) lässt aber keinen Rückschluss auf eine höhere Bewertung als
mit 20 zu, denn die übermittelten Werte haben keine auf 1/3 reduzierten Sollwerte zeigt. Wie Dr. W. in ihrer prüfärztlichen
Stellungnahme vom 11. Juni 2013 zutreffend ausgeführt hat, ist eine Abweichung um 20 % von den Sollwerten klinisch nicht relevant.
Gegen eine höhere Bewertung sprechen auch die in der Folgezeit von Dr. G. übermittelten Befunde (27. März 2012 und 5. Juni
2012). Dieser hat über eine normale Lungenfunktion nach der Bodyplethysmographie mit einer normalen peripheren Sauerstoffsättigung
von 99 % berichtet. Da die funktionellen Auswirkungen der Lungenfunktionseinschränkung durch die zeitweise diskrete Belastungsdyspnoe
insgesamt sehr gering sind, kann auch das von der Klägerin angegebene thorakale Druckgefühl im Brustkorb bei körperlicher
Belastung als Folge der Lungenoperation keinen höheren GdB als 20 rechtfertigen.
Zwar hat die Klägerin über die Lungenfunktionseinschränkung hinaus noch über weitere gesundheitliche Einschränkungen als Folge
der Operationen berichtet. Doch sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen
und in ihren Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a SB 4/07 R, juris). Denn eine Erhöhung des GdB wegen eines durch ein Primärleiden hervorgerufenen
Leidens an einem anderen Organ oder Organsystem, ohne dass dieses nennenswerte Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft hat, war und ist dem Behinderungsbegriff in §
2 Abs.
1 SGB IX sowie dem Begriff des Behinderungsgrads nach §
69 Abs.
1 SGB IX fremd (BSG, aaO.). Hat das Folgeleiden indes entsprechende Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit des betroffenen Menschen, so ist kein
Grund ersichtlich, es bei der Bewertung des GdB anders zu behandeln als eine von dem Primärleiden unabhängig entstandene weitere
Gesundheitsstörung (BSG, aaO.). Eine andere Bewertung würde dem im Schwerbehindertenrecht geltenden Finalitätsprinzip widersprechen. Folglich sind
die von der Klägerin als Operationsfolgen der Krebsbehandlung geltend gemachten weiteren Gesundheitsstörungen (Narben- und
Rückenschmerzen, Schmerzen im Bauch- und Unterleibsraum, eingeschränkte physische und psychische Belastbarkeit) auch im jeweiligen
Funktionssystem zu bewerten.
b)
Die von der Klägerin angegebenen Unterleibsschmerzen bzw. Verwachsungsbeschwerden als Folge der Operationen sind dem Funktionssystem
Geschlechtsapparat zuzuordnen und können mit einem GdB von 10 bewertet werden. Für eine höhere Bewertung besteht keine Grundlage,
weil kein über die Narbenschmerzen hinaus bestehendes organisches Korrelat vorliegt (unauffällige Sonographie, unauffällige
Koloskopie) und keine schmerztherapeutische Behandlung erfolgt. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich eine gesonderte
Bewertung von Schmerzen ohne schmerztherapeutische Behandlung nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil A 2 j) nicht
erfolgt. Vielmehr sind die Schmerzen, auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände, im jeweiligen GdB mit berücksichtigt.
Für den Verlust der Eierstöcke und der Gebärmutter kann im Funktionssystem Geschlechtsapparat nach den Versorgungsmedizinischen
Grundsätzen (Teil B, Nr. 14.3) jeweils lediglich ein GdB von 10 festgestellt werden. Die Klägerin war zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides
nicht mehr im jüngeren Lebensalter (50 Jahre) mit einem noch bestehenden Kinderwunsch. Auch lag kein unzureichender Ausgleich
des Hormonausfalls durch Substitution vor. Aufgrund der jeweiligen Einzelbehinderungsgrade von 10 ist auch insgesamt kein
höherer Gesamt-GdB als 10 festzustellen. Denn von einem hier nicht vorliegenden Ausnahmefall abgesehen führen zusätzliche
leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes des Gesamtbeeinträchtigung
(Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil A 4, Nr. 3 ee).
Indes kann die von Dipl.-Med. W. seit dem Jahr 2011 (Befundbericht vom 2. April 2012) geschilderte Hyperhidrosis nicht berücksichtigt
werden, weil diese Gesundheitsstörung erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2010 diagnostiziert worden
war.
c)
Die von der Klägerin geltend gemachten Rückenschmerzen, insbesondere im Schulter- und Nackenbereich, sind dem Funktionssystem
Arme bzw. Rumpf zuzuordnen. Derartige Beschwerden wurden zwar auch von Dipl.-Med. W. angegeben. Doch da keiner der behandelnden
Ärzte eine Bewegungseinschränkungen mitgeteilt hat, kann wegen der rezidivierenden Schmerzen allenfalls von geringen Beeinträchtigungen
ausgegangen werden, die maximal einen Einzelbehinderungsgrad von 10 nach Teil B, Nr. 18.13 der Versorgungsmedizischen Grundsätze
rechtfertigen.
d)
Weitere Gesundheitsstörungen, die einem anderen Funktionssystem zuzuordnen sind und zumindest einen Einzelbehinderungsgrad
von 10 zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids gerechtfertigt haben, sind nicht erkennbar. Insbesondere liegt keine mit einem
Einzel-GdB von zumindest 10 zu berücksichtigende psychische Gesundheitsstörung vor. Dipl.-Med. W. hat noch am 7. September
2009 mitgeteilt, psychische Auffälligkeiten bestünden nicht. Erstmals am 2. April 2012 hat die Ärztin auch über eine eingeschränkte
psychische Belastbarkeit berichtet. Da maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide
der Erlass des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2010 ist, kann eine danach mitgeteilte psychische Störung hier nicht
berücksichtigt werden. Auch D. S. haben erstmals am 24. Juli 2012, also fast zwei Jahre nach Erlass des Widerspruchsbescheides,
über eine Grübelneigung und Angstzustände sowie damit verbundene Schlafstörungen und Unruhezustände berichtet.
Ebenso wenig können die erstmals im Dezember 2011 durch Dr. B. festgestellten Erkrankungen im Schulterbereich für die Bewertung
der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide herangezogen werden, da auch diese erst über ein Jahr nach Erlass des Widerspruchsbescheides
festgestellt worden sind. Gleiches gilt für die nach dem Befundbericht von D. S. erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides
aufgetretenen Erkrankungen an einem allergischen Exanthem (11/2011) und einer Oesophagitis/Gastritis (4/2011). Zwar wurde
das Haemorrhoidalleiden noch vor Erlass des Widerspruchsbescheides festgestellt (3/2010). Doch sind damit verbundene GdB-relevante
Einschränkungen nicht erkennbar. Auch die Hypercholesterinämie und die Hyperurikämie sind nach den vorliegenden Befunden als
reine Labordiagnosen nicht mit funktionellen Auswirkungen verbunden und können daher keinen GdB rechtfertigen. Schließlich
hat Dr. K. mit seinem Bericht vom 25. Juni 2012 eine Herzerkrankung ausschließen können.
e)
Da bei der Klägerin Einzelbehinderungen aus verschiedenen Funktionssystemen mit einem messbaren GdB vorliegen, ist nach §
69 Abs.
3 Satz 1
SGB IX der Gesamtbehinderungsgrad zu ermitteln. Danach ist von dem Behinderungsgrad von 20 für das Funktionssystem Atmung auszugehen.
Eine Erhöhung aufgrund der Behinderungen im Funktionssystem Geschlechtsapparat und Arme/Rumpf, die mit einem Behinderungsgrad
von jeweils 10 zu bewerten sind, kommt nicht in Betracht. Das Gesamtausmaß der Behinderung wird durch diese leichten Funktionseinschränkungen
nicht größer. Diese bestehen unabhängig von der Lungenfunktionseinschränkung und verstärken nicht das Gesamtausmaß. Zudem
führen, von einem hier nicht vorliegenden Ausnahmefall abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen
GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung (Versorgungsmedizinische Grundsätze, Teil
A 4, Nr. 3 ee).
Im Vergleich mit Gesundheitsschäden, zu denen in der GdB-Tabelle feste Werte angegeben sind, ist bei der Klägerin die Schwerbehinderteneigenschaft
auch nicht zu begründen. Die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsstörungen beeinträchtigt die Teilhabe der Klägerin
am Leben in der Gesellschaft insbesondere nicht mehr so schwer wie etwa die vollständige Versteifung großer Abschnitte der
Wirbelsäule, der Verlust eines Beins im Unterschenkel oder eine Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nach §
160 SGG nicht vor.