Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II; Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung; Nachholung der unterlassenen Anhörung während des Gerichtsverfahrens; Aussetzung
des Berufungsverfahrens zur Heilung eines Anhörungsfehlers
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die teilweise Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 29. Februar 2012 bis zum 30. Juni 2012 streitig.
Die 1955 in C. (Polen) geborene Klägerin deutscher Staatsangehörigkeit beantragte am 19. Januar 2012 bei dem Beklagten aufstockend
zu dem ihr für die Zeit vom 1. September 2011 bis zum 28. Februar 2013 bewilligten Arbeitslosengeld mit einem täglichen Leistungsbetrag
von 20,85 €, mithin monatlich 625,50 € (Bescheid der Agentur für Arbeit R. vom 22. August 2011), Arbeitslosengeld II (Alg
II). Zur Begründung ihres Antrages gab sie an, dass das Arbeitslosengeld nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts ausreiche.
Sie teilte in ihrem Antrag die Höhe des bewilligten Arbeitslosengeldes sowie den Bewilligungszeitraum mit und legte den Bewilligungsbescheid
der Agentur für Arbeit Reutlingen vom 22. August 2011 vor.
Mit Bescheid vom 9. Februar 2012 bewilligte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 30. Juli 2012
Alg II in Höhe von monatlich 388,50 € (Januar 2012) 430,20 € (Februar 2012) und 1.014,00 € (März bis Juni 2012) und berücksichtigte
dabei neben dem Regelbedarf für Alleinstehende in Höhe von 374,00 € die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung in
Höhe von 640,00 € (Kaltmiete 500,00 € + Neben- und Heizkosten-Vorauszahlung 100,00 € + Stellplatz-Miete 40,00 €). Während
der Beklagte im Januar 2012 Arbeitslosengeld in Höhe von 625,50 € und im Februar 2012 in Höhe von 583,80 € (anstatt 625,50
€) als Einkommen absetzte, rechnete er in der Zeit von März bis Juli 2012 das Arbeitslosengeld nicht als Einkommen an.
Durch die Vorlage der Kontoauszüge durch die Klägerin im Rahmen ihres Weiterbewilligungsantrages vom 6. Juni 2012 fiel dem
Beklagten sein Fehler auf. Mit Schreiben vom 9. Juli 2012 teilte der Beklagte der Klägerin u.a. mit, dass sie Einkommen erzielt
habe, das zum Wegfall oder zur Minderung ihres Anspruchs geführt habe (§ 48 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <SGB X>), kündigte für die Zeit vom 29. Februar 2012 bis zum 30. Juni 2012 eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung über
den Betrag von insgesamt 2.393,70 € an und gab ihr bis zum 26. Juli 2012 Gelegenheit zur Stellungnahme. Am letzten Tag der
gesetzten Stellungnahmefrist hob der Beklagte mit Bescheid vom 26. Juli 2012 den Bescheid vom 9. Februar 2012 für die Zeit
vom 29. Februar 2012 bis zum 30. Juli 2012 teilweise in Höhe von insgesamt 2.393,70 € auf und machte die Erstattung dieses
Betrages geltend (Februar 11,70 €, März bis Juli 2012 jeweils monatlich 595,50 €). Er berücksichtigte nun das um eine Versicherungspauschale
bereinigte, tatsächlich zugeflossene Arbeitslosengeld in Höhe von 595,50 € (625,50 € - 30,00 €). Zur Begründung führte er
aus, dass die Klägerin während des gesamten Zeitraums Einkommen aus Arbeitslosengeld erzielt habe, das zum Wegfall oder zur
Minderung des Anspruches geführt habe (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X).
Am 27. Juli 2012 ging bei dem Beklagten die Stellungnahme der Klägerin zum Anhörungsschreiben vom 9. Juli 2012 ein, in der
sie mitteilte, dass sie sich keiner Schuld bewusst sei. In ihrem Antrag auf Alg II habe sie den Bezug von Arbeitslosengeld
angegeben und diesem auch den Bewilligungsbescheid beigelegt. Im Bewilligungsbescheid betreffend das Alg II sei auch das Arbeitslosengeld
angerechnet worden. Da sie zum ersten Mal Leistungen nach dem SGB II beziehe, hätte sie gar nicht ahnen können, dass ihr das Geld nicht zustehe.
Gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26. Juli 2012 legte die Klägerin Widerspruch mit der Begründung ein, dass
die Überzahlung allein im Verschulden des Beklagten liege (Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 6. August 2012).
Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2012 änderte der Beklagte den Bescheid vom 26. Juli 2012 dahingehend ab, dass der
Aufhebungs- und Erstattungsbetrag für den 29. Februar 2012 auf 11,17 € und für die Zeit vom 1. März 2012 bis zum 30. Juni
2012 auf monatlich jeweils 579,46 €, insgesamt 2.329,01 €, reduziert wurde, und wies den Widerspruch im Übrigen als unbegründet
zurück. Rechtsgrundlage für die Entscheidung stelle § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X i.V.m. §§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und 330 Abs.
2 Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) - Arbeitsförderung - (
SGB III) dar. Da es sich um eine gebundene Entscheidung handle, könne die Ermächtigungsgrundlage ausgetauscht werden. Das Arbeitslosengeld
sei im streitgegenständlichen Zeitraum in Höhe von 625,50 € monatlich anzurechnen. Hiervon seien die monatlichen Kfz-Haftpflichtversicherungsbeträge
in Höhe von 16,04 € und die Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 € monatlich in Abzug zu bringen, so dass sich ein bereinigtes
Einkommen von monatlich 579,46 € ergebe. Hierdurch sei im streitgegenständlichen Zeitraum eine Überzahlung am 29. Februar
2012 in Höhe von 11,17 € und in den Monaten März bis Juni 2012 in Höhe von monatlich jeweils 579,46 € entstanden. Die Klägerin
genieße nicht bereits deshalb Vertrauensschutz, weil das Verschulden aus der Sphäre der Behörde stamme. Aus der Stellungnahme
der Klägerin vom 27. Juli 2012 ergebe sich, dass diese den Bewilligungsbescheid nach Erhalt inhaltlich überprüft habe. Dann
hätte sie auch Kenntnis davon nehmen müssen, dass im Vergleich zu den Monaten Januar und Februar 2012 ab dem Monat März 2012
Alg II um ca. 600,00 € höher bewilligt worden sei. Sie hätte zumindest erkennen können und müssen, dass hier eine erhebliche
Differenz zwischen den einzelnen Monaten bestehe. Aus den Berechnungsbögen hätte sie entnehmen können, dass ab März 2012 überhaupt
kein Einkommen mehr angerechnet worden sei.
Dagegen hat die Klägerin am 21. November 2012 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Ihr sei nicht klar gewesen, weshalb sich die Änderung im Bewilligungsbescheid ab dem Monat März 2012 ergeben habe,
da sie keinerlei Kenntnisse über Verrechnungsmodalitäten zwischen dem Beklagten und der Agentur für Arbeit habe und auch nicht
haben könne. Der Bewilligungsbescheid bestehe aus 8 Seiten und sei höchst kompliziert gestaltet. Einem objektiven Betrachter
werde die Berechnungsmethodik nicht klar. Da die Klägerin alle Umstände für die Leistungsgewährung dem Beklagten mitgeteilt
habe, habe sie davon ausgehen können, dass dieser die Berechnung richtig durchführen werde. Die überzahlten Leistungen seien
nicht mehr vorhanden.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. September 2013 abgewiesen. Gemäß § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Satz 3 Nr. 3 SGB X i.V.m. §§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, 330 Abs.
2 SGB III sei der Beklagte verpflichtet gewesen, die Leistungsgewährung rückwirkend teilweise zurückzunehmen, denn die Klägerin könne
sich nicht auf Vertrauen berufen. Diese hätte bei Durchsicht des Bewilligungsbescheides vom 9. Februar 2012 und im Hinblick
auf die tatsächlich erfolgten Zahlungen erkennen müssen, dass ab 29. Februar 2012 irrtümlich der Arbeitslosengeldbezug nicht
berücksichtigt worden sei. Dies habe für die Klägerin angesichts der erheblichen Differenz des monatlichen Zahlbetrages im
Februar 2012 und März 2012 auf der Hand liegen müssen. Diese habe gewusst, dass sich ihre Einkommens- und Bedarfssituation
von Februar auf März 2012 nicht geändert habe. Es habe somit keine Erklärung dafür gegeben, dass ihr ab März ca. 600,00 €
mehr an Alg II bewilligt und ausbezahlt worden seien.
Gegen den ihren Bevollmächtigten am 1. Oktober 2013 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Klägerin mit ihrer am 4.
Oktober 2013 zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung, mit der sie weiterhin die Aufhebung des
Bescheids vom 26. Juli 2012 begehrt. Ergänzend hat sie vorgebracht, dass sie kaum der deutschen Sprache mächtig und zudem
psychisch stark beeinträchtigt sei. Sie - die Klägerin - habe darauf vertrauen können und müssen, dass alle ihre Angaben korrekt
berücksichtigt worden seien. Ob sich Änderungen ergeben hätten oder nicht, habe sie gar nicht einschätzen oder absehen können.
Ihr seien die Regelungen bezüglich Zuschlägen oder Abzügen und Anrechnungen nicht bekannt und nicht geläufig gewesen. Wegen
ihrer psychischen Erkrankung sei sie nicht in der Lage gewesen, die komplexen und unübersichtlichen Darstellungen nachzuvollziehen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. September 2013 und den Bescheid des Beklagten vom 26. Juli 2012
in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Oktober 2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern nach §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG auszusetzen.
Der Beklagte verweist zur Begründung auf den angefochtenen Gerichtsbescheid.
Der Berichterstatter hat mit Verfügung vom 13. März 2015 die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Klägerin vor Erlass
des Bescheides vom 26. Juli 2012 lediglich zu einer Aufhebungsentscheidung auf Grundlage des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X angehört worden ist, während der Beklagte im Widerspruchsbescheid die Aufhebungsentscheidung auf § 45 SGB X gestützt hat, und deshalb das Vorliegen der gem. § 24 SGB X erforderlichen Anhörung insbesondere zu den subjektiven Voraussetzungen des § 45 SGB X problematisch erscheine.
Der Beklagte hat am 18. März 2015 ein an die Klägerin adressiertes Anhörungsschreiben betreffend die teilweise Rücknahme der
Bewilligung von Alg II für die Zeit vom 1. Februar 2012 bis zum 30. Juni 2012 in Höhe von insgesamt 2.329,01 € und dessen
Erstattung mit einer Frist zur Stellungnahme bis zum 25. März 2015 erstellt und an die Klägerin versandt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten
des Beklagten und die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat Erfolg.
1. Die Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Sie ist gem. §
151 Abs.
1 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden.
2. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist der Bescheid vom 26. Juli 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.
Oktober 2012 (§
95 SGG), mit dem der Beklagte den Bescheid über die Bewilligung von Alg II vom 9. Februar 2012 teilweise für den 29. Februar 2012
in Höhe von 11,17 € und für die Zeit vom 1. März 2012 bis zum 30. Juni 2012 in Höhe von monatlich 579,46 € zurückgenommen
und die Erstattung eines Betrages von insgesamt 2.329,01 € geltend gemacht hat. Dagegen wendet sich die Klägerin statthaft
mit einer isolierten Anfechtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1
SGG).
3. Die Berufung hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid vom 26. Juli 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Oktober
2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Der angefochtene Rücknahmebescheid ist wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X rechtswidrig. Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich
zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Abs. 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier
jedoch nicht einschlägigen - Ausnahmen abgesehen werden. Der Beklagte hat die Klägerin vor der Erlass der Rücknahmeentscheidung
nicht ordnungsgemäß angehört und die fehlende Anhörung auch nicht nachgeholt (§ 41 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 SGB X).
a. Die Vorschrift des § 24 SGB X dient der Wahrung des rechtlichen Gehörs und soll das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung stärken
und den Bürger vor Überraschungsentscheidungen schützen (bspw. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 15. August 2002 - B 7 AL 38/01 R - [...] Rdnr. 19). Die Behörde hat vor Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes (vorliegend des Rücknahme- und Erstattungsbescheides)
den Beteiligten (hier die Klägerin als Adressatin) zu den entscheidungserheblichen Tatsachen anzuhören. Entscheidungserheblich
sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, d.h. die Tatsachen, auf die sich die
Verwaltung im maßgeblichen Fall tatsächlich auch gestützt hat bzw. stützen will (vgl. bspw. Schmidt-de Caluwe in Eichenhofer/Wenner,
SGB I, IV, X, 2012, § 24 SGB X Rdnr. 14 ff.; Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 24 Rdnr. 13). Dabei kommt es auf die Rechtsansicht der Behörde an, was sie als entscheidungserheblich ansieht, auch wenn ihre Ansicht ggf. materiell-rechtlich unzutreffend ist (z.B. BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 - [...] Rdnr. 21; Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - [...] Rdnr. 12; Urteil vom 10. August 2010 - B 13 R 140/10 B - [...] Rdnr. 8; Urteil vom 26. September 1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247 - [...] Rdnr. 28 ff.). Das Gericht ist in jedem Stand des Verfahrens verpflichtet zu prüfen, ob die anhörungspflichtige Behörde
dem Anhörungsgebot entsprochen hat (vgl. bspw. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - [...] Rdnr. 24). Der Aufhebungsanspruch wegen einer unterbliebenen Anhörung steht einem sachlich-rechtlichen Fehler gleich
(vgl. nur Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 2. Aufl. 1991 Rdnr. 499 ff.; Schmidt-de Caluwe, a.a.O. Rdnr. 29; Siefert,
a.a.O. Rdnr. 38; Weber in Beck'scher Online-Kommentar Sozialrecht, § 24 SGB X Rdnr. 29) und begründet damit eine uneingeschränkte Pflicht zur Aufhebung (vgl. § 42 Satz 2 SGB X). Die Darlegungs- und objektive Beweislast für die erfolgte Anhörung trägt der Beklagte (z.B. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - [...] Rdnr. 33).
b. Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben hat der Beklagte die Klägerin vor Erlass des streitigen Rücknahmebescheids nicht
ordnungsgemäß angehört. Zwar hat er ihr mit Schreiben vom 9. Juli 2012 Gelegenheit gegeben, zu einer auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützten Aufhebungsentscheidung Stellung zu nehmen, und seinen Ausgangsbescheid vom 26. Juli 2012, im Übrigen am letzten
Tag und damit vor Ablauf der bis zum 26. Juli 2012 gesetzten Stellungnahmefrist (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. §
188 Abs.
1 Bürgerliches Gesetzbuch), unter Bezug auf die Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X erlassen. Jedoch hat der Beklagte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zutreffend erkannt, dass der unanfechtbar gewordene
Bewilligungsbescheid vom 9. Februar 2012 von Anfang an rechtswidrig gewesen ist und Rechtsgrundlage für eine Korrekturentscheidung
nur § 45 SGB X bilden kann, nicht jedoch § 48 SGB X (vgl. zur Abgrenzung nur BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 196/11 R - [...] Rdnr. 14 m.w.N.). Erstmals im - insoweit maßgeblichen (§
95 SGG) - Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2012 hat er die Ermächtigungsgrundlage des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X i.V.m. §§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und 330 Abs.
2 SGB III herangezogen und darauf gestützt, dass die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 9. Februar 2012 betreffend
die Zeit vom 29. Februar 2012 bis zum 30. Juni 2012 infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Der Beklagte hat der
Klägerin im Verwaltungsverfahren zu der erstmals im Widerspruchsbescheid angeführten inneren Tatsache der grob fahrlässigen
Unkenntnis keine Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme eingeräumt. Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Halbs. 2 SGB X liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn ein Begünstigter die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt hat.
Bei dem danach maßgeblichen subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff sind sowohl die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des
Begünstigten als auch seine Einsichtsfähigkeit zu berücksichtigen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 - B 12 KR 21/11 R - [...] Rdnr. 30; Urteil vom 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R - [...] Rdnr. 23). Angaben zum subjektiven Rücknahmetatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X sind weder dem Anhörungsschreiben vom 9. Juli 2012 noch dem Aufhebungsbescheid vom 26. Juli 2012 zu entnehmen, so dass die
Klägerin sich nicht sachgerecht und vollständig zur erforderlichen grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit im Zeitpunkt
des Erlasses des aufzuhebenden Bescheids äußern konnte. So hat sie sich in ihrer Stellungnahme zum Anhörungsschreiben vom
9. Juli 2012 aus ihrer Sicht zum "Verschulden" geäußert, jedoch erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids, in dem der Beklagte
seine Entscheidung auf die Rechtsgrundlage des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X gestützt hatte, im gerichtlichen Verfahren umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit und zu ihrer Urteils-, Kritik-
und Einsichtsfähigkeit Stellung genommen. Somit ist ihr die gesetzlich garantierte Äußerungsmöglichkeit versagt geblieben.
Der Beklagte hätte mithin die Klägerin vor Erlass des Widerspruchsbescheids ordnungsgemäß anhören müssen (vgl. BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - [...] Rdnr. 13; Urteil vom 21. Juni 2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 - [...] Rdnr. 35; Urteil vom 21. Juni 2011 - B 4 AS 22/10 R - [...] Rdnr. 27; Urteil vom 15. August 2002 - B 7 AL 38/01 R - [...] Rdnr. 22; vgl. ferner LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Februar 2012 - L 3 AS 1807/11 - [...] Rdnr. 27 f.; Sächsisches LSG, Urteil vom 27. Februar 2014 - L 3 AS 579/11 - [...] Rdnr. 39 ff.; Thüringer LSG, Urteil vom 27. September 2012 - L 9 AS 1935/11 - [...] Rdnr. 21 f.), was er unterlassen hat. Damit hat er § 24 SGB X verletzt.
c. Die fehlende Anhörung ist auch nicht nach § 41 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 SGB X nachgeholt worden. Nach der Rechtsprechung des BSG setzt eine Nachholung der Anhörung im Gerichtsverfahren jedenfalls ein entsprechendes "mehr oder minder" förmliches Verwaltungsverfahren
- ggf. unter Aussetzung des Gerichtsverfahrens (vgl. §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG) - voraus (bspw. BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - [...] Rdnr. 14; Urteil vom 7. Juli 2011 - B 14 AS 144/10 R - [...] Rdnr. 21; Urteil vom 20. Dezember 2012 - B 10 LW 2/11 R - [...] Rdnr. 39; Urteil vom 6. April 2006 - B 7a AL 64/05 R - [...] Rdnr. 15). Die Nachholung der fehlenden Anhörung außerhalb des Verwaltungsverfahrens setzt voraus, dass die Handlungen, die an sich
nach § 24 Abs. 1 SGB X bereits vor Erlass des belastenden Verwaltungsaktes hätten vorgenommen werden müssen, von der Verwaltung bis zum Abschluss
der gerichtlichen Tatsacheninstanz vollzogen werden (BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - [...] Rdnr. 15). Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches Verwaltungsverfahren
liegt vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen
Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen
Verwaltungsakt festhält. Dies setzt regelmäßig voraus, dass die Behörde den Kläger in einem gesonderten "Anhörungsschreiben"
alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur
Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend
zum Ergebnis der Überprüfung äußert. Befindet sich die Verwaltungsentscheidung - wie vorliegend - nicht mehr im Verantwortungsbereich
der Verwaltung, so kann eine jedenfalls teilweise Verwirklichung der mit den Anhörungshandlungen verfolgten Zwecke nur noch
erreicht werden, wenn durch die genannten verfahrensrechtlichen Vorkehrungen sichergestellt wird, dass die Nachholung der
Verfahrenshandlung sich in einer dem Anhörungsverfahren möglichst vergleichbaren Situation vollzieht (BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - [...] Rdnr. 17).
Ein solches förmliches Anhörungsverfahren hat weder vor dem SG noch vor dem Senat stattgefunden. Vielmehr haben die Beteiligten zunächst ihre Argumente lediglich im Rahmen der gerichtlichen
Verfahren mittels Klage- bzw. Berufungsschrift und Klage- bzw. Berufungserwiderung ausgetauscht. Erst auf den Hinweis des
Berichterstatters vom 13. März 2015, mithin weit mehr als 2 Jahre nach Erlass seiner wegen des Anhörungsmangels von Anfang
an rechtswidrigen Rücknahmeentscheidung, hat sich der Beklagte veranlasst gesehen, das gesetzlich vorgeschriebene Anhörungsverfahren
einzuleiten. Zwar mag der Beklagte der Klägerin mit dem Schreiben vom 18. März 2015 alle Haupttatsachen mitteilt haben, auf
die er die belastende Entscheidung (wobei der Beklagte nun eine Rücknahmeentscheidung für die Zeit vom 1. Februar 2012 bis
zum 30. Juni 2012 angekündigt hat, während er mit der angefochtenen Entscheidung eine Rücknahmeentscheidung vom 29. Februar
2012 bis zum 30. Juni 2012 getroffen hatte) stützen will, jedoch hat er ihr keine angemessene Frist zur Äußerung gesetzt.
Der Beklagte hat das Anhörungsschreiben am 18. März 2015 erstellt. Wann er es zur Post aufgegeben hat, hat er nicht mitgeteilt.
Dies ist auch aus dem in der mündlichen Verhandlung durch den Beklagten zu den Gerichtsakten gereichten Schreiben nicht ersichtlich.
In dem dort vorgesehenen Feld "abgesandt am:" ist kein Eintrag enthalten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Beklagte
dieses Schreiben am 18. März 2015 zur Post aufgegeben hat, ist die bis zum 25. März 2015 gesetzte Frist zu kurz und damit
nicht angemessen. Denn unter Berücksichtigung der regelmäßigen Brieflaufzeit von einem Tag nach der Einlieferung (vgl. dazu
www.deutschepost.de/de/qualitaet_gelb.htlm#laufzeiten: Postleitzahlzustellbezirk 72 "E+1=92 %"; vgl. ferner § 37 Abs. 2 SGB X) hat die Klägerin das an sie adressierte Schreiben (vgl. zu der Frage, an wen das Schreiben zu adressieren ist § 13 Abs. 3 SGB X) frühestens am Donnerstag, den 19. März 2015 erhalten. Ihr wären dann noch 4 Tage (einschließlich Samstag und Sonntag) verblieben,
um ggf. nach Rücksprache mit ihrem Bevollmächtigten, der nicht am Wohnsitz der Klägerin, sondern in Reutlingen seinen Sitz
hat, eine Stellungnahme zu verfassen. Diese hätte sie am Dienstag, den 24. März 2015 mit der Post versenden müssen, um einen
Posteingang bei dem Beklagten vor Ablauf der bis zum 25. März 2015 gesetzten Frist sicherzustellen. Auch unter Beachtung des
Umstandes, dass der Klägerin aus dem Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2012 und aus dem gerichtlichen Verfahren bekannt
gewesen ist, dass und aus welchen Gründen der Beklagte von ihrer grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheids
vom 9. Februar 2012 ausgeht, ist die bis zum 25. März 2015 gesetzte Frist unangemessen kurz. Die Klägerin hatte unter den
dargestellten Umständen keine hinreichende Zeit, um - ggf. nach Rücksprache mit ihrem Bevollmächtigten - zu entscheiden, ob
und ggf. mit welchem Inhalt sie auf das Anhörungsschreiben des Beklagten reagiert. Schließlich hat sich die Fristsetzung durch
den Beklagten nicht daran orientiert, der Klägerin rechtliches Gehör zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu gewähren,
sondern allein an dem auf den 26. März 2015 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat.
d. Damit ist der Rücknahmebescheid des Beklagten vom 26. Juli 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Oktober 2012
rechtswidrig und aufzuheben. Der in diesem Bescheid gleichfalls verfügten Erstattung fehlt es mangels Rücknahmeentscheidung
an einer Rechtsgrundlage (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X).
4. Der Senat hat in Ausübung des ihm eingeräumten Ermessens ein (vgl. BSG, Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - [...] Rdnr. 15: freigestellte Aussetzung; Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - [...] Rdnr. 50; Hintz/Lowe,
SGG, 2012, §
114 Rdnr. 21; Keller in Meyer-Ladewig,
SGG, 11. Aufl. 2014, §
114 Rdnr. 7; Leopold in Roos/Wahrendorf,
SGG, 2014, §
114 Rdnr. 69 ff.; Peters/Sautters/Wolff,
SGG [Stand 12/2012], §
114 Rdnr. 39) davon abgesehen, das Verfahren zur Heilung des Anhörungsfehlers auszusetzen. Nach §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG kann das Gericht auf Antrag die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne der
Verfahrenskonzentration sachdienlich ist. Zwar hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 26. März 2015
die Aussetzung des Berufungsverfahrens nach §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG beantragt und es liegt ein Verfahrensfehler i.S. dieser Vorschrift in Gestalt des Anhörungsmangels vor, jedoch ist eine Aussetzung
im Sinne der Verfahrenskonzentration nicht sachdienlich. §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG dient der Verfahrenskonzentration des gerichtlichen Verfahrens (BSG Urteil vom 31. Oktober 2002 - B 4 RA 15/01 R - [...] Rdnr. 50; vgl. ferner BSG, Urteil vom 7. Juli 2011- B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 - [...] Rdnr. 29 zum Ausnahmecharakter des §
114 Abs.
2 Satz 2
SGG). Eine Aussetzung kann sich in diesem Sinne als sachdienlich darstellen, wenn zu erwarten ist, dass sich das gerichtliche
Verfahren nicht in die Läge zieht (Leopold, a.a.O. Rdnr. 32).
Vorliegend kann die Aussetzung des Berufungsverfahrens zur Heilung des Anhörungsfehlers dazu führen, dass die Klägerin sich
umfassend zum Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 9. Februar 2012 im Erlasszeitpunkt
einschließlich ihrer Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit äußert und, sofern der Beklagte an seiner Entscheidung festhält,
das Berufungsverfahren fortzuführen wäre und im Hinblick auf eine Einlassung der Klägerin ggf. weitere gerichtliche Ermittlungen
anzustellen wären. Es ist mithin mit einer erheblichen Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung zu rechnen. Demgegenüber
ist der Rechtsstreit derzeit entscheidungsreif. Mit einem weiteren Rechtsstreit der Beteiligten wegen des rechtswidrigen Bewilligungsbescheids
vom 9. Februar 2012 ist nicht zu rechnen (vgl. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X). Zugunsten der Klägerin ist das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz), das auch einen Rechtsschutz in angemessener Zeit verlangt, zu beachten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Beklagte
von der Heilungsmöglichkeit des § 41 Abs. 2 SGB X erst mehr als 2 Jahre nach Klageerhebung Gebrauch gemacht und den Aussetzungsantrag erst in der mündlichen Verhandlung am
26. März 2015 gestellt hat. Der Senat hat nach Abwägung der dargestellten Umstände das ihm eingeräumte Ermessen dahingehend
ausgeübt, vorliegend die Aussetzung des Berufungsverfahrens abzulehnen.
Im Übrigen ist der Senat nicht verpflichtet gewesen, einen (früheren) Aussetzungsantrag seitens des Beklagten anzuregen und
auf die Beseitigung des Verfahrensfehlers im Verwaltungsverfahren hinzuwirken (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. Dezember
2011 - L 13 AL 4778/11 NZB - [...] Rdnr. 6; vgl. ferner Keller, a.a.O. Rdnr. 3b).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
6. Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG) liegen nicht vor.