Anwendbarkeit des deutschen Sozialversicherungsrechts auf einen in der Schweiz tätigen Arbeitnehmer
Prinzipien der Einstrahlung und Ausstrahlung im Sozialversicherungsrecht
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Beitragsbescheides.
Bei der Klägerin handelt es sich um eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) nach Schweizer Recht, deren alleiniger
Gesellschafter Herr E. ist. Der Beigeladene zu 1. war auf der Grundlage des Vertrages vom 9./17. April 2001 seit dem 1. Mai
2001 bei der unselbständigen Zweigniederlassung der Klägerin in Deutschland beschäftigt und war dabei bis zu dem Ende der
Tätigkeit, abgesehen von einem Projekt in Ö., für die Klägerin in Deutschland tätig, wobei er hier auch sein Büro und seinen
Wohnsitz hatte. Vereinbart war ein Bruttogehalt von 6300,- DM = ca. 3221,- Euro. Gezahlt wurde offensichtlich ein Gehalt von
knapp 2130,- Euro (vgl. z.B. Kontoauszug Bl. 4 VA mit Gehaltszahlung für Dezember 2001). Für die Zeit bis 31. Dezember 2001
war der Beigeladene zu 1. sozialversicherungsrechtlich in Deutschland gemeldet und es wurden an die Beklagte Sozialversicherungsbeiträge
abgeführt.
Zum 5. Januar 2002 wurde dem Beigeladenen zu 1. ein neuer Vertrag direkt mit der Beklagten für die Zeit ab 1. Januar 2002
vorgelegt, da die unselbständige Zweigniederlassung in Deutschland zum 31. Dezember 2001 geschlossen wurde. In diesem Vertrag
wurde ausdrücklich ausgeführt, dass der Vertrag von der Zweigniederlassung übernommen werde. Es wurde ein Bruttogehalt von
3220,- (vom Beigeladenen zu 1. zur Verwaltungsakte gereichte Version) bzw. 3300,- (von der Klägerin zur Verwaltungsakte gereichte
Version) in kundenprojektfreien Zeiten und von 4085,- Euro während Kundenprojekten vereinbart. Des Weiteren findet sich dort
die Formulierung: "Die Arbeitsvergütung wird Brutto gleich Netto ausbezahlt. Der Mitarbeiter unterliegt den steuerlichen und
sozialrechtlichen Bestimmungen des Landes seines Wohnortes und führt die für ihn sinnvollen und notwendigen Abgaben eigenständig
ab."
Dieser neue Vertrag wurde von dem Beigeladenen zu 1. nie unterschrieben. Vielmehr wurde das Arbeitsverhältnis weitergelebt
wie zuvor. D.h., der Beigeladene zu 1. erhielt weiterhin knapp 2130,- Euro überwiesen. Allerdings war der Beigeladene zu 1.
nicht mehr sozialversicherungsrechtlich gemeldet und es wurden keine Sozialversicherungsbeiträge mehr an die Beklagte abgeführt.
Das Beschäftigungsverhältnis endete zum 31. Oktober 2002. Mit Beitragsbescheid vom 20. September 2002 setzte die Beklagte
die von der Klägerin für den Beigeladenen zu 1. für die Zeit vom 1. Januar 2002 bis 31. August 2002 zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge
unter Zugrundelegung eines Nettomonatsentgelts von 1761,65 EUR für den Januar 2002 und von 1758,95 EUR für die Zeit vom 1.
Februar 2002 bis 31. August 2002 in Höhe von 5883,06 EUR zzgl. 252,- EUR Säumniszuschläge fest.
Nach dem Widerspruch der Klägerin erließ die Beklagte mehrere Änderungsbescheide (Bescheide vom 6. November 2002, 27. November
2002 und 19. September 2003). Zuletzt setzte sie mit Bescheid vom 5. März 2004 die von der Klägerin für den Beigeladenen zu
1. zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge auf 7353,54 EUR zuzüglich bis zum 15. Februar 2004 errechneter Säumniszuschläge
in Höhe von 1435,- EUR und Mahngebühren in Höhe von 40,- EUR fest.
Den Widerspruch wies die Beklagte sodann im Übrigen mit Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 2004 zurück.
Die hiergegen am 3. August 2004 erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 30. November 2010 abgewiesen. Die streitigen
Beitragsbescheide seien zu Recht ergangen. Entgegen der Ansicht der Klägerin finde das deutsche Sozialversicherungsrecht Anwendung.
Dies ergebe sich aus §
3 Nr. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IV). Danach würden die deutschen Vorschriften über die Versicherungspflicht, die eine Beschäftigung voraussetzten, für alle
Personen gelten, die in Deutschland beschäftigt seien. Dies sei vorliegend der Fall, da der Beigeladene zu 1. während der
streitigen Zeit im Rahmen des mit der Klägerin bestehenden Beschäftigungsverhältnisses überwiegend in Deutschland gearbeitet
habe. Regelungen des über- bzw. zwischenstaatlichen Rechts, die der Regelung des §
3 Nr. 1
SGB IV vorgehen könnten, seien nicht ersichtlich. Sowohl das bis zum 31. Mai 2002 anzuwendende Abkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der schweizerischen Eidgenossenschaft über Soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 (Abkommen von 1964) als
auch die aufgrund des Abkommens zwischen der europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der schweizerischen
Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (Freizügigkeitsabkommen) seit dem 1. Juni 2002 geltende
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 würden regeln, dass bei einer abhängig beschäftigten Person für die Sozialversicherungspflicht
die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsortes maßgebend seien. Die Vorschrift des Art. 109 Satz 1 VO (EWG) Nr. 574/72, nach
der Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung der Sozialversicherungsabgaben
vereinbaren können, finde mangels einer solchen Vereinbarung vorliegend keine Anwendung. Schließlich sei weder vorgetragen
noch ersichtlich, dass die festgesetzten Beträge unzutreffend seien.
Mit der am 16. März 2011 eingelegten Berufung macht die Klägerin folgendes geltend: Die geschlossene unselbstständige Zweigstelle
in Deutschland habe keine eigene Rechtspersönlichkeit gehabt. Alle Verträge, auch der Arbeitsvertrag mit dem Beigeladenen
seien daher mit der Klägerin als Inhaberin der unselbstständigen Zweigstelle geschlossen worden. Nach dem Schließen der Zweigstelle
hätten daher alle Verträge mit der Klägerin weiterbestanden. Gemäß dem bestehenden bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz
und Deutschland gelte das Wohnort- und Arbeitsort-Prinzip. Sozialversicherungsmäßig bedeute dies, dass der Arbeitnehmer in
Deutschland wie ein Freiberufler behandelt werde. Er unterliege nicht der Rentenversicherungspflicht und der Arbeitslosenversicherung,
sondern nur der freiwilligen Krankenversicherung. Es bestehe eine uneinheitliche Abwicklungspraxis bei den Krankenkassen bei
deutschen Arbeitnehmern, immer sei es jedoch so, dass nicht der ausländische Arbeitgeber, sondern der Arbeitnehmer die Sozialversicherungsbeiträge
abzuführen habe. Unter Berücksichtigung der Regelungen der VO EWG 1408/71 und 574/72 ergebe sich, dass der Arbeitnehmer als
Arbeitgeber im Inland fungiere. Er erhalte eine Betriebsnummer durch die Krankenkasse, über die er eigenständig die Beiträge
zu den einzelnen Sozialversicherungssparten an die Krankenkasse abzuführen habe.
Der Kläger beantragt nach Aktenlage sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts vom 30. November 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. September 2002, geändert durch
die Bescheide vom 6. November 2002, 27. November 2002, 19. September 2003 und 5. März 2004, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 5. Mai 2004 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26. März
2015, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die streitgegenständlichen
Beitragsbescheide sind nicht zu beanstanden. Zu Recht sind die Sozialversicherungsbeiträge für den Beigeladenen zu 1. für
die Zeit vom 1. Januar 2002 bis zum Ende des Beschäftigungsverhältnisses zum 31. Oktober 2002 gegenüber der Klägerin festgesetzt
worden.
Das Sozialgericht hat in seiner Entscheidung alle rechtlich wesentlichen Gesichtspunkte angesprochen und zutreffend beurteilt.
Hierauf wird nach §
153 Abs.
2 SGG Bezug genommen.
Zentrale Frage des Rechtstreits ist, ob auf die Tätigkeit des Beigeladenen zu 1. für die Beklagte das deutsche Sozialversicherungsrecht
Anwendung findet. Dies ist zu bejahen.
Grundsätzlich gelten nach §
3 Nr. 1
SGB IV die deutschen Rechtsvorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung für alle Personen, die im
Geltungsbereich des Gesetzes beschäftigt sind (Territorialitätsprinzip). Bei einem Vollzug des Beschäftigungsverhältnisses
im Inland gilt grundsätzlich deutsches Sozialversicherungsrecht. Dies ist hier der Fall, weil der Beigeladene ganz überwiegend
in Deutschland seine Tätigkeit ausgeübt hat.
Eine Ausnahme vom Territorialitätsprinzip gemäß §§
4,
5 SGB IV greift hier nicht ein. Gemäß §
5 SGB IV gelten die deutschen Vorschriften nicht für Personen, die im Rahmen eines außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzbuchs
bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in diesen Geltungsbereich entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart
der Beschäftigung oder des Vertrags voraussichtlich zeitlich begrenzt ist (Einstrahlung). Umgekehrt gilt Entsprechendes für
die in §
4 SGB IV geregelten Fälle der Entsendung in das Ausland (Ausstrahlung). Im Falle des Beigeladenen lag weder eine Ausstrahlung noch
eine Einstrahlung vor. Der Beigeladene wurde nicht nach Deutschland entsandt, sondern wohnte hier und hat hier auch gearbeitet.
Erst Recht wurde er daher auch nicht in ein anderes Land, z.B. die Schweiz, entsandt. Hierauf hat die Beklagte zutreffend
bereits in ihrem Schreiben vom 29. Oktober 2002 hingewiesen.
Die Anwendung deutschen Sozialversicherungsrechts ergibt sich - worauf das Sozialgericht zu Recht hingewiesen hat - auch aus
internationalem Recht, das gemäß §
6 SGB IV dem deutschen Recht vorgeht.
Insoweit hat das Sozialgericht völlig zutreffend für die Zeit bis 31. Mai 2002 auf Art. 5 des Deutsch-Schweizer Abkommens
vom 25. Februar 1964 und für die Zeit ab 1. Juni 2002 auf Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a) der VO (EWG) Nr. 1408/71 abgestellt,
der über Art. 8 i.V.m. dem Anhang II des Freizügigkeitsabkommens vom 21. Juni 1999 Anwendung findet. Diese Regelungen haben
zur Konsequenz, dass ein von einer Schweizer Gesellschaft beschäftigter deutscher Arbeitnehmer, welcher seinen Wohnsitz in
Deutschland beibehält und regelmäßig hier arbeitet, der deutschen Sozialversicherung unterliegt. Die Schweizer Gesellschaft
muss sich dann bei der zuständigen deutschen Sozialversicherungsbehörde registrieren und nach den deutschen Rechtsvorschriften
Sozialversicherungsbeiträge einbehalten und abführen (vgl. Nordin/Fünfschilling, Der Schweizer Treuhänder, Heft 5/2011, S.
421 (422)).
So hat es die Klägerin bis zum 31. Dezember 2001 gehandhabt. Wie sie selber angibt, handelte es sich bei der Zweigniederlassung
in Deutschland um eine unselbständige Niederlassung ohne eigene Rechtspersönlichkeit. Damit bestand faktisch die ganze Zeit
ein Beschäftigungsverhältnis mit der Klägerin selbst und es ist zum Jahreswechsel 2001/2002 keine wesentliche Änderung eingetreten.
In der Berufungsbegründung vom 17. September 2011 führt die Klägerin auch selbst die genannten Vorschriften an. Wie sie daraus
die Schlussfolgerung ableitet, der Arbeitnehmer fungiere als Arbeitgeber im Inland mit den entsprechenden beitragsrechtlichen
Pflichten, ist nicht nachvollziehbar. Hierfür gibt es keinerlei rechtlichen Anhaltspunkt. Es besteht nur die Möglichkeit,
nach Art. 109 Satz 1 VO (EWG) Nr. 574/72 (anwendbar ebenfalls über Art. 8 i.V.m. dem Anhang II des Freizügigkeitsabkommens
vom 21. Juni 1999) eine Vereinbarung zu treffen, nach der der Arbeitnehmer die Beiträge selbst zahlt. Diesen Weg wollte die
Klägerin ganz offensichtlich mit dem neuen Vertrag vom Januar 2002 beschreiten. Dieser Vertrag wurde jedoch von dem Beigeladenen
zu 1. nie unterschrieben. Eine entsprechende Vereinbarung ist daher nicht zustande gekommen.
Es gibt auch keine sonstigen Umstände, die gegen die Rechtmäßigkeit der Beitragsfestsetzung als solcher sprechen.
Die Beklagte ist dabei letztlich - wie auch schon in den ersten Bescheiden vom 20. September 2002 und 6. November 2002 - im
Bescheid vom 5. März 2004, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 2004, von dem tatsächlich gezahlten Gehalt
in Höhe von ca. 2130,- Euro als Bruttogehalt ausgegangen. Dabei wurde verkannt, dass es sich bereits um eine Nettozahlung
handelte (vgl. Berechnung Bl. 39 VA und Hinweis auf Seite 2 3. Absatz des Widerspruchsbescheides). Die Beklagte ist damit
schon von einem deutlich zu niedrigen Einkommen ausgegangen, so dass nicht ersichtlich ist, dass die festgesetzten Beiträge
zu hoch wären. Dergleichen hat die Klägerin auch nicht vorgetragen. Gleiches gilt für die Säumniszuschläge und Mahnkosten.
Ergänzend ist dabei darauf hinzuweisen, dass auch bei Berücksichtigung des in dem abgeschlossenen Vertrag vom 9./16. April
2001 vereinbarten Bruttogehaltes von ca. 3221,- Euro nicht etwa die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung
wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze entfallen wäre. Denn die Grenze lag in 2002 bei 3375,- Euro.
Schließlich ist hinsichtlich des Vortrags der Klägerin, eine Beitragserhebung bei ihr stehe § 28m
SGB IV entgegen, darauf hinzuweisen, dass diese Norm so genannte exterritoriale Arbeitgeber betrifft. Dies sind amtliche Vertretungen
ausländischer Staaten, exterritoriale Einzelpersonen (z.B. Botschafter) und über- und zwischenstaatliche Organisationen (vgl.
§§
18-
20 GVG und Mette, in: Beck´scher Onlinekommentar Sozialrecht,
SGB IV, § 28m Rn. 4). Dazu gehört die Klägerin sicherlich nicht. Zudem betrifft § 28m
SGB IV die Frage der Durchsetzung eines Beitragsanspruches und dürfte daher der Beitragsfestsetzung nicht entgegenstehen (insoweit
nicht zutreffend: LSG B-W, Urt. v. 17.02.2012 - L 4 R 617/10).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
197a SGG i.V.m. §§
154 Abs.
2,
162 Abs.
3 Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO). Da die Beigeladenen keine Anträge gestellt haben und damit kein Kostenrisiko nach §
154 Abs.
3 VwGO eingegangen sind, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen. Gründe für die Zulassung
der Revision sind nicht ersichtlich.