Vergütung von Sachverständigen im sozialgerichtlichen Verfahren; Abgrenzung der Honorargruppen M 2 und M 3
Gründe:
I.
In dem Berufungsverfahren U. L .../. Deutsche Rentenversicherung. (L 12 R 18/13) beauftragte der Berichterstatter des 12. Senats des Thüringer Landessozialgerichts mit Beweisanordnung vom 24. März 2013
den Erinnerungsführer, Facharzt für Orthopädie, Physikalische und Rehabilitative Medizin, Sportmedizin mit der Erstellung
eines Sachverständigengutachtens aufgrund ambulanter Untersuchung. Übersandt wurden ihm die Gerichtsakte (178 Blatt) und zwei
Bände Verwaltungsakten (einschließlich häufiger Doppelheftungen Verwaltungsakte 239 Blatt, medizinische Beiakte- teilweise
unblattiert - 259 Blatt). Der Erinnerungsführer zog weitere Unterlagen bei (10 Blatt medizinische Unterlagen) und fertigte
unter dem 30. Mai 2013 sein Gutachten aufgrund einer ambulanten Untersuchung auf insgesamt 38 Blatt. In seiner am 11. Juni
2013 eingegangenen Honorarabrechnung machte er insgesamt 3.064,29 Euro geltend (26 Stunden Zeitaufwand x 85,00 Euro, besondere
Leistungen, 282,86 Euro, Schreibauslagen 72,17 Euro, Porto 10,00 Euro). Bezüglich der Einzelheiten wird auf Blatt 11 bis 12
des Kostenhefts verwiesen. Mit Verfügung vom 26. Juni 2013 kürzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (UdG) die Vergütung
auf 2.216,87 Euro und berücksichtigte u.a. einen notwendigen Zeitaufwand von 25 Stunden und einen Stundensatz von 60,00 Euro
(M2).
Am 16. Juli 2013 hat sich der Erinnerungsführer gegen die Festsetzung gewandt und einen Stundensatz von 85 Euro (M3) beantragt.
Dies begründe sich aus der Auseinandersetzung mit den vielen Vorgutachten, den 11 Entlassungsberichten, der Anforderung zusätzlicher
Befunde bei der behandelnden Psychiaterin und des letzten MRT-Befundes, der literaturgestützten Auseinandersetzung mit einem
psychiatrischen Gutachten, seiner doppelten Facharztanerkennung und seinen ständigen Fortbildungen. Tatsächlich hätte er für
das Aktenstudium 10 Stunden ansetzen können.
Der Erinnerungsführer beantragt sinngemäß,
die Vergütung für das Gutachten vom 30. Mai 2013 auf 3.064,29 Euro festzusetzen.
Der Erinnerungsgegner hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
Die UdG hat der Erinnerung nicht abgeholfen (Verfügung vom 26. September 2013) und sie dem erkennenden Senat vorgelegt.
II.
Nach § 4 Abs. 1 S. 1 JVEG erfolgt die Festsetzung der Vergütung durch gerichtlichen Beschluss, wenn - wie hier - der Berechtigte oder die Staatskasse
die gerichtliche Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen erachtet. Zuständig ist das Gericht, von dem der
Berechtigte herangezogen worden ist (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 JVEG). Der Erinnerungsführer ist Berechtigter im Sinne dieser Vorschrift. Bei der Erinnerungsentscheidung sind alle für die Bemessung
der Vergütung maßgeblichen Umstände zu überprüfen, unabhängig davon, ob sie angegriffen werden (ständige Senatsrechtsprechung,
vgl. u.a. Beschlüsse vom 1. Dezember 2011 - L 6 SF 1617/11 E, 8. September 2009 - L 6 SF 49/08, 4. April 2005 - L 6 SF 83/05 in MedSach 2005, 137 ff., Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (VGH), Beschluss vom 10. Oktober 2005 - 1 B 97.1352, nach juris). Der Senat ist nicht an die Höhe der Einzelansätze, Stundenansätze
oder die Gesamthöhe der Vergütung oder die Anträge der Beteiligten gebunden; er kann die Vergütung nur nicht höher festsetzen
als vom Erinnerungsführer beantragt. Nachdem die Erinnerung kein Rechtsbehelf ist, gilt das Verschlechterungsverbot (sog.
"reformatio in peius") bei der erstmaligen richterlichen Festsetzung nicht (vgl. Senatsbeschlüsse vom 8. September 2009 -
L 6 SF 49/08, 13. April 2005 - L 6 SF 2/05, 16. September 2002 - L 6 B 51/01 SF; Meyer/Höver/Bach, Die Vergütung und Entschädigung von Sachverständigen, Zeugen, Dritten und von ehrenamtlichen Richtern
nach dem JVEG, 26. Auflage 2014, § 4 Rdnr. 3).
Nach § 8 Abs. 1 JVEG erhalten Sachverständige als Vergütung 1. ein Honorar für ihre Leistungen (§§ 9 bis 11 JVEG), 2. Fahrtkostenersatz (§ 5 JVEG), 3. Entschädigung für Aufwand (§ 6 JVEG) sowie 4. Ersatz für sonstige und besondere Aufwendungen (§§ 7 und 12 JVEG). Soweit das Honorar nach Stundensätzen zu bemessen ist, wird es nach § 8 Abs. 2 JVEG für jede Stunde der erforderlichen Zeit einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten gewährt (Satz 1); die letzte bereits
begonnene Stunde wird voll gerechnet, wenn mehr als 30 Minuten für die Erbringung der Leistung erforderlich war (Satz 2 Halbs.
1).
Das Honorar eines Sachverständigen errechnet sich entsprechend den §§ 9 Abs. 1 S. 1, 8 Abs. 2 JVEG nach der erforderlichen Zeit. Sie wird nach einem abstrakten Maßstab ermittelt, der sich an dem erforderlichen Zeitaufwand
eines Sachverständigen mit durchschnittlicher Befähigung und Erfahrung bei sachgemäßer Auftragserledigung mit durchschnittlicher
Arbeitsintensität orientiert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2007 - 1 BvR 55/07; BGH; Beschluss vom 16. Dezember 2003 - X ZR 206/98, beide nach juris; Senatsbeschlüsse vom 5. März 2012 - L 6 SF 1854/11 B und 21. Dezember 2006 - L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.; Hartmann in Kostengesetze, 43. Auflage 2013, § 8 JVEG Rdnr. 35). Zu berücksichtigen sind dabei die Schwierigkeiten der zu beantworteten Fragen unter Berücksichtigung der Sachkunde
auf dem betreffenden Gebiet, der Umfang des Gutachtens und die Bedeutung der Streitsache (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember
2003 - X ZR 206/98; Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Auflage 2007, Rdnr. 841). Die herrschenden Meinung geht grundsätzlich davon
aus, dass die Angaben des Sachverständigen über die tatsächlich benötigte Zeit richtig sind (vgl. Senatsbeschluss vom 21.
Dezember 2006 - L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.; Hessisches LSG, Beschluss vom 11. April 2005 - L 2/9 SF 82/04, nach juris; LSG Baden-Württemberg
vom 22. September 2004 - L 12 RJ 3686/04 KO-A, nach juris); werden die üblichen Erfahrungswerte allerdings um mehr als 15 v.H. überschritten (vgl. u.a. Senatsbeschluss
vom 21. Dezember 2006 - L 6 B 22/06 SF in MedSach 2007, 180 f.), ist eine Plausibilitätsprüfung anhand der Kostenrechnung und der Angaben des Sachverständigen
erforderlich.
Die Aufteilung der Sachverständigenleistung erfolgt in Thüringen grundsätzlich in fünf Bereichen: a) Aktenstudium und vorbereitende
Arbeiten, b) Erhebung der Vorgeschichte, c) notwendige Untersuchungen, d) Abfassung der Beurteilung, e) Diktat sowie Durchsicht
des Gutachtens.
Für das Gutachten vom 30. Mai 2013 war angesichts der übersandten Unterlagen und unter Berücksichtigung der üblichen Erfahrungswerte
ein Zeitaufwand von 26 Stunden - wie beantragt - erforderlich.
- Für das Aktenstudium wird ein Zeitansatz von 7,6 Stunden akzeptiert. Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus,
dass ein Sachverständiger für das Aktenstudium und vorbereitende Maßnahmen einschließlich der Fertigung von Notizen und Exzerpten
einen Zeitaufwand von etwa einer Stunde für etwa 80 Blatt mit ca. ¼ medizinischem Inhalt benötigt (vgl. u.a. Beschluss vom
19. Dezember 2007 - L 6 B 172/07 SF). Von den insgesamt 686 Blatt Akten (einschließlich der vom Erinnerungsführer beigezogenen Unterlagen) waren allerdings
die Doppelheftungen (192 Blatt) abzuziehen. Für die verbleibenden 494 Blatt errechnet sich ein Ansatz von knapp 6,2 Stunden.
Allerdings lag im vorliegenden Fall der medizinische Anteil der Unterlagen bei ca. 57 v.H. (283 von 494 Blatt). Dann sind
nach der Senatsrechtsprechung die Akten mit allgemeinem und medizinischem Inhalt getrennt zu erfassen und unterschiedlich
zu bewerten (vgl. Beschluss vom 4. August 2003 - L 6 SF 275/03): für die Durchsicht von 100 Aktenblättern mit allgemeinem Inhalt bzw. von 50 Blatt mit medizinischen Unterlagen jeweils
ca. eine Stunde. Damit ist der Ansatz für das Aktenstudium auf 7,7 Stunden zu erhöhen.
- Keine Bedenken bestehen gegen die beantragten Ansätze für Vorgeschichte (1,3 Stunde) und Untersuchung (2 Stunden).
- Für die Beurteilung können angesichts der Schreibweise 8 Stunden angesetzt werden. Sie umfasst die Beantwortung der vom
Gericht gestellten Beweisfragen und die nähere Begründung, also den Teil des Gutachtens, den das Gericht bei seiner Entscheidung
verwerten kann, um ohne medizinischen Sachverstand seine Entscheidung begründen zu können, also die eigentlichen Ergebnisse
des Gutachtens einschließlich ihrer argumentativen Begründung. Zu berücksichtigen ist die Diagnose-, nicht aber die Literaturliste.
Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein medizinischer Sachverständiger mit durchschnittlicher Befähigung
und Erfahrung für die gedankliche Erarbeitung grundsätzlich durchschnittlich eine Stunde für ca. 1 ½ Blatt benötigt; dabei
ist die Schreibweise zu berücksichtigen (vgl. Beschlüsse vom 3. April 2012 - L 6 SF 306/12 B und 26. März 2012 - L 6 SF 132/12 E). Hier erstreckt sich die Beurteilung auf ca. 15 ½ Blatt (21 bis 38 (Mitte)). Dieser Ansatz ist allerdings nur ein Anhaltspunkt
für die angemessene Stundenzahl (vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. März 2012 - L 6 SF 224/12 B und 13. März 2012 - L 6 SF 197/12 B; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. November 2011 - L 5 P 55/10, nach juris), um den Kostenbeamten im Normalfall eine sinnvolle Bearbeitung zu ermöglichen. Maßgebend ist im Zweifelsfall
der im Einzelfall erkennbare Arbeitsaufwand des Sachverständigen, der im Gutachten zum Ausdruck kommt. Dann ist in begründeten
Sonderfällen durchaus eine Abweichung (positiv wie negativ) von dem o.g. Ansatz erforderlich. Hier war zu berücksichtigen,
dass sich auf den Seiten der Beurteilung deutliche Sachverhaltswiederholungen finden, die zeitmindern zu berücksichtigen sind.
- Gegen die beantragten 7 Stunden für Diktat und Korrektur bestehen im Ergebnis keine Bedenken. Nach der Senatsrechtsprechung
(vgl. u.a. Beschluss vom 1. Dezember 2011 - L 6 SF 1617/11 E) ist ein Zeitaufwand von ca. 1 Stunde für ca. 5 bis 6 Seiten erforderlich.
Zusätzlich zu erstatten sind die besonderen Leistungen nach § 10 JVEG, die Schreibauslagen, Portokosten und Mehrwertsteuer nach § 12 Abs. 1 S. 2 JVEG. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
Nicht in Betracht kommt die beantragte Honorierung in der Honorargruppe M3 (§ 9 Abs. 1 JVEG). Die Zuordnung der Leistungen zu einer Honorargruppe bestimmt sich nach § 9 Abs. 1 JVEG nach der Anlage 1 (Satz 2). Wird die Leistung auf einem Sachgebiet erbracht, das in keiner Honorargruppe genannt wird, ist
sie nach billigem Ermessen zuzuordnen; dies gilt entsprechend, wenn ein medizinisches oder psychologisches Gutachten einen
Gegenstand betrifft, der in keiner Honorargruppe genannt wird (Satz 3). In Anlage 1 zu § 9 Abs. 1 JVEG in der Fassung bis 31. Juli 2013 (a.F.) werden die medizinischen Gutachten entsprechend ihrer Schwierigkeit in drei Honorargruppen
(M1 bis M3) eingeteilt. Die Honorargruppen M2 (60 Euro) und M3 (85,00 Euro) werden wie folgt definiert: M2: Beschreibende
(Ist-Zustands) Begutachtungen nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einer medizinischen
Verlaufsprognose und mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad, insbesondere Gutachten in Verfahren nach dem
SGB IX, M3: Gutachten mit hohem Schwierigkeitsgrad (Begutachtung spezieller Kausalzusammenhänge und/oder differenzialdiagnostischer
Probleme und/oder Beurteilung der Prognose und/oder Beurteilung strittiger Kausalitätsfragen)
In den Beispielen beider Honorargruppen werden Gutachten zur Überprüfung der Erwerbsfähigkeit nicht genannt. Um ein Gutachten
zu Berufskrankheiten und zur Minderung der Erwerbstätigkeit bei besonderen Schwierigkeiten geht es im Hauptsacheverfahren
nicht. Daher muss die Zuordnung nach dem billigen Ermessen erfolgen. Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur
ordnet Zustandsgutachten zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit in Verfahren der gesetzlichen Rentenversicherung - wie hier
- im Regelfall der Honorargruppe M2 zu (vgl. u.a. Senatsbeschlüsse vom 16. März 2012 - L 6 SF 151/12 E und 1. Juni 2011 - L 6 SF 277/11 B; Bayerisches LSG, Beschluss vom 23. September 2009 - L 15 SF 188/09; Hessisches LSG, Beschluss vom 11. April 2005 - L 2/9 SF 82/04, beide nach juris; Reyels in jurisPR-SozR 18/2010 Anm. 6;
Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Auflage 2007, Rdnr. 872), denn es handelt sich um typische Gutachten mit durchschnittlicher
Schwierigkeit. Gutachten der Honorargruppe M3 erfordern dagegen umfassende und vielseitige bzw. vielschichtige Überlegungen;
die Schwierigkeiten können mit den diagnostischen oder ätiologischen Fragen zusammenhängen. Auch andere Gründe sind denkbar,
z.B. eine Vielzahl unklarer oder widerspruchsvoller Befunde oder anamnestischer Angaben. Für diese Ausnahmefälle sind im vorliegenden
Fall keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Die in sozialgerichtlichen Verfahren übliche Auseinandersetzung mit mehreren
Vorgutachten begründet allein nicht den hohen Schwierigkeitsgrad der Honorargruppe M3 (vgl. Senatsbeschlüsse vom 16. März
2012 - L 6 151/12 E und 1. Juni 2011 - L 6 SF 277/11 B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. September 2011 - L 2 SF 254/11). Zu berücksichtigen ist hier zudem, dass es angesichts der Rentenantragstellung im Januar 2010 nur auf die Leistungsbeurteilung
ab diesem Zeitpunkt ankommt. Die von dem Erinnerungsführer in der Erinnerungsbegründung aufgeführten medizinischen Unterlagen
von 2005 bis 2009 sind insofern von nur geringer Bedeutung. Eine höhere Einstufung kann nicht mit einer zusätzlichen Anforderung
von Unterlagen der behandelnden Psychiaterin und des MRT-Befunds begründet werden. Dies führt allenfalls zu einem zusätzlichen
zeitlichen Aufwand, nicht aber zu einer höheren Schwierigkeit. Für die Schwierigkeit unerheblich sind (zusätzliche) Facharztanerkennungen
oder Titel (hier: Professorentitel). Nachdem sich ein Sachverständiger auf seinem Fachgebiet stets auf dem Laufenden zu halten
hat (vgl. Ulrich, Der gerichtliche Sachverständige, 12. Auflage 2007, Rdnr. 355), begründet der Besuch von Fortbildungen keine
höhere Honorargruppe.
Damit errechnet sich die Vergütung des Erinnerungsführers wie folgt:
26 Stunden x 60,00 Euro (Honorargruppe M2)
|
1.560,00 Euro
|
Besondere Leistungen
|
282,86 Euro
|
Schreibauslagen
|
71,65 Euro
|
Porto
|
10.00 Euro
|
Zwischensumme
|
1.924,51 Euro
|
MWSt.
|
19 v.H. 365,66 Euro
|
Gesamtbetrag
|
2.290,17 Euro
|
Das Verfahren ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 4 Abs. 8 JVEG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§ 4 Abs. 4 S. 3 JVEG).