Rentenantrag nach dem Sozialversicherungsabkommen mit Kanada
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Versicherten auf Regelaltersrente (RAR) auch für die Zeit vom 1. April bis
31. Dezember 1995.
Der am 23. März 1930 geborene und am 25. April 2005 verstorbene Versicherte lebte seit Oktober 1951 in Kanada und besaß die
kanadische Staatsangehörigkeit. Aufgrund seines im März 2000 gestellten Rentenantrags bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid
vom 30. August 2001 RAR zunächst ab Beginn des Antragsmonats März 2000. Nach Beiziehung einer Auskunft des kanadischen Rentenversicherungsträgers
von November 2001, in dem dieser mitteilte, der Kläger habe bei Rentenantragstellung im Februar 1995 "no intent shown", bewilligte
die Beklagte dem Versicherten die RAR durch Bescheid vom 25. Februar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.
Juli 2002 bereits ab 1. Januar 1996. Sie stellte darauf ab, dass gemäß Art 19 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Kanada über Soziale Sicherheit (Abk Kanada SozSich) in der hier noch anzuwendenden Fassung (alte Fassung - aF) vom 14.
November 1985 (BGBl II, 1988, 28, 625) das Datum des kanadischen Rentenantrags auch als Tag der Antragstellung für die deutsche RAR herangezogen werden könne,
Leistungen für Zeiträume, die weiter als vier Kalenderjahre vor Beantragung der deutschen Leistungen zurücklägen, aber verjährt
seien. Ausgehend von einem Zeitraum von neun Monaten, in denen die RAR nicht in Anspruch genommen worden sei, werde jedoch
ein um 4,5 % erhöhter Zugangsfaktor gewährt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Änderung der vorgenannten Bescheide verurteilt, dem Versicherten RAR auch für die Zeit vom 1. April
bis 31. Dezember 1995 zu gewähren (Urteil vom 16. Juli 2003). Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen von der Beklagten
eingelegte Berufung durch Urteil vom 24. Februar 2005 zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der im
Februar 1995 in Kanada gestellte Rentenantrag des Versicherten gelte gemäß Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich aF auch
als Antrag nach den Vorschriften der deutschen Rentenversicherung. Diese Wirkung werde nach dem Wortlaut des Abkommens nicht
an weitere Voraussetzungen - zB die Angabe von deutschen Versicherungszeiten - geknüpft. Das "Kenntlich-Machen" einer weiteren
Rentenberechtigung im anderen Vertragsstaat (hier: Deutschland) werde nach dem Abkommen nicht gefordert; eines insoweit "vollständigen"
Antrags bedürfe es nicht (Hinweis auf Senatsurteil vom 12. Februar 2004 - B 13 RJ 58/03 R - BSGE 92, 159 = SozR 4-6580 Art 19 Nr 1). Solle der Antrag nach dem Wunsch des Antragstellers nicht zugleich als im anderen Vertragsstaat
gestellter Antrag behandelt werden, müsse dies gemäß Art 19 Abs 3 Satz 2 des Abkommens ausdrücklich erklärt werden. Die Antragsfiktion
des Abs 3 Satz 1 dieser Vorschrift gelte lediglich dann nicht, wenn der Antragsteller ausdrücklich beantrage, dass die Feststellung
der nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaats erworbenen Ansprüche in den Fällen aufgeschoben werde, in denen
er nach den Rechtsvorschriften dieses Vertragsstaats den Zeitpunkt bestimmen könne, der für die Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen
maßgeblich sein solle. Eine solche einschränkende Erklärung habe der Versicherte nicht abgegeben. Sowohl der Kommentar des
kanadischen Versicherungsträgers im Verbindungsstellenformular als auch seine während des Berufungsverfahrens eingeholte ergänzende
Auskunft vom 29. März 2004 belegten, dass der Versicherte die Frage nach der Zugehörigkeit zu einem anderen "Sozialversicherungsplan"
zwar verneint habe; damit habe er jedoch lediglich sein Wissen bzw Nichtwissen bekundet, nicht aber ein Wollen, schon gar
nicht ein rechtlich erhebliches Wollen. Daher sei der Sachverhalt - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht anders zu
beurteilen, als der vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 12. Februar 2004 behandelte. Eine Verjährung sei nicht eingetreten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich aF sowie
des §
45 Abs 2 und
3 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (
SGB I) aF und des §
211 Abs
2 Satz 1 Alternative 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (
BGB) aF, ferner die Verkennung der Voraussetzungen einer Verwirkung. Zur Begründung führt sie aus: Wie der kanadische Rentenversicherungsträger
auf Anfrage der Beklagten am 29. März 2004 mitgeteilt habe, bedeute die Anmerkung "no intent shown", dass der Versicherte
auf die Frage nach einer Vorversicherung bei einem ausländischen Versicherungsträger ausdrücklich mit "Nein" geantwortet habe.
Damit unterscheide sich der Fall von dem im Verfahren B 13 RJ 58/03 R vom BSG entschiedenen in einem wichtigen Punkt; in dem dort entschiedenen Fall sei die Beantwortung der Frage nach einem
ausländischen Versicherungsverhältnis unbeantwortet gelassen worden. Ein schriftlicher Antrag auf deutsche Leistungen, der
die Verjährung iS des §
45 Abs
1 SGB I aF unterbreche, liege damit nicht vor. Weder der kanadische Träger noch die Beklagte hätten der Antragstellung im Jahre 1995
einen Anspruch auf deutsche Rente entnehmen können. Selbst wenn aber dem in Kanada gestellten Rentenantrag verjährungsunterbrechende
Wirkung zukommen sollte, hätte die ausdrückliche Verneinung außerkanadischer Versicherungszeiten keinen Anlass zur Aufnahme
von Sachverhaltsermittlungen bezüglich eines deutschen Rentenversicherungsanspruchs des Versicherten geboten. Trotz des grundsätzlich
geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes sei in diesem Ausnahmefall die sinngemäße Anwendung des §
211 Abs
2 Satz 1 Alternative 2
BGB aF dringend geboten; denn die Erwartung, dass weltweit Rentenanträge unter Geltung von Sozialversicherungsabkommen weitergeleitet
würden, obwohl der Versicherte durch die ausdrückliche Verneinung ausländischer Versicherungszeiten zum Ausdruck bringe, Rente
nur bei dem Träger des Versicherungsträgers seines Heimatlandes beantragen zu wollen, überschreite die Grenzen des Amtsermittlungsgrundsatzes.
Schließlich werde die Antragsfiktion des Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich aF durch die vierjährige Verjährung gemäß
§
45 Abs
1 SGB I eingeschränkt. Der aus § 44 Abs 4 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) ersichtliche Wille des Gesetzgebers beschränke Nachzahlungsmöglichkeiten grundsätzlich auf vier Jahre. Dieser Gedanke sei
vorliegend zumindest entsprechend anwendbar. Aus dem Gesichtspunkt treuwidrigen Handelns sei der Anspruch des Versicherten
für die streitige Zeit überdies verwirkt. Der Kläger selbst habe irreführende falsche Angaben gemacht; ihn treffe daher aus
dem Gesichtspunkt der Ingerenz auch die Pflicht, seine Angaben binnen angemessener Frist gegenüber dem Rentenversicherungsträger
wieder zu berichtigen. Da er dies über fünf Jahre lang pflichtwidrig unterlassen habe, führe sein treuwidriges Verhalten zur
Verwirkung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. Februar 2005 sowie das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Juli
2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Klägerin konnte den Rechtsstreit nach dem Tod des Versicherten als dessen Ehefrau fortsetzen; sie ist gemäß §
56 Abs
1 Nr
1 SGB I Sonderrechtsnachfolgerin in Bezug auf die ab April 1995 beanspruchte RAR. Trotz ihres Ausbleibens im Termin am 8. Dezember
2005 konnte der Senat in der Sache entscheiden, weil die Klägerin in der Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen
worden ist.
Die zulässige Revision ist nicht begründet. SG und LSG haben die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger RAR bereits ab April 1995 zu gewähren. Dieser hatte im März 1995
das 65. Lebensjahr vollendet und bereits im Februar 1995 die Rentenleistung beantragt, so dass er gemäß §
99 Abs
1 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (
SGB VI) vom Beginn des Folgemonats an Anspruch auf die monatlichen Rentenzahlungen hatte. Den entgegenstehenden Bescheid vom 25.
Februar 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2002 haben die Vorinstanzen zutreffend geändert.
Nach Art 19 Abs 3 Satz 1 des hier noch anzuwendenden Abk Kanada SozSich aF - dh ohne die Rechtsänderungen im Zusatzabkommen
vom 27. August 2002 (BGBl II, 2003, 666) - gilt ein Antrag auf eine Leistung nach den Rechtsvorschriften des einen Vertragsstaats auch als Antrag auf eine entsprechende
Leistung nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaats. Danach wird durch den im Februar 1995 in Kanada gestellten
Rentenantrag des Klägers zugleich die Antragstellung in der deutschen Rentenversicherung fingiert. Wie das LSG zutreffend
ausgeführt hat, ist diese Wirkung des Rentenantrags nach dem Wortlaut des Abkommens aF nicht an weitere Voraussetzungen -
zB die Angabe von deutschen Versicherungszeiten - geknüpft (vgl insoweit Senatsurteil vom 12. Februar 2004 - B 13 RJ 58/03 R - BSGE 92, 159 = SozR 4-6580 Art 19 Nr 1).
Wie der Senat in der vorzitierten Entscheidung bereits ausgeführt hat, wird insbesondere ein "Kenntlich-Machen" einer weiteren
Rentenberechtigung in einem anderen Vertragsstaat nach dem Abk Kanada SozSich aF nicht gefordert; eines insoweit "vollständigen"
Antrags bedurfte es nicht. Vielmehr musste - sollte der Antrag nicht zugleich als im anderen Vertragsstaat gestellter Antrag
anzusehen sein - dies ausdrücklich erklärt werden. Erst mit Wirkung zum 1. Dezember 2003 ist durch das Zusatzabkommen vom
27. August 2002 Art 19 Abs 3 des Abkommens vom 14. November 1985 dahingehend geändert worden, dass der bisherige Satz 1 gestrichen
und durch eine Regelung ersetzt worden ist, wonach die ausdrückliche Beantragung auch der Leistungen aus dem Herkunftsgebiet
und die Bereitstellung weiterer Informationen zu dort zurückgelegten Versicherungszeiten Voraussetzung dafür ist, dass der
Rentenantrag in dem einen Vertragsstaat auch als solcher im anderen Vertragsstaat gilt.
An einer ausdrücklichen Erklärung des verstorbenen Klägers, der in Kanada gestellte Rentenantrag solle nicht als solcher in
Deutschland gelten, mangelt es im vorliegenden Fall. Nach den Feststellungen des LSG, die nicht mit Revisionsrügen angegriffen
worden sind und den Senat daher binden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes >SGG<), hat der Versicherte die sinngemäße Frage
nach dem Bestehen einer Vorversicherung aus einem ausländischen Versicherungsverhältnis zwar ausdrücklich verneint. Damit
hat er jedoch lediglich zum Ausdruck gebracht, dass er sich der Zugehörigkeit zu einem ausländischen Sozialversicherungssystem
nicht bewusst war; ein voluntatives Element im Sinne eines rechtlich erheblichen Wollens - die Nichtbeabsichtigung einer Antragstellung
- kommt in einer solchen Äußerung jedenfalls nicht zum Ausdruck.
Zutreffend hat das LSG daher im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass aus einer solchen Verneinung der Frage nach anderen
als kanadischen Versicherungszeiten die Absicht, Rentenansprüche im Herkunftsland - iS des Art 19 Abs 3 Satz 1 des Abk Kanada
SozSich aF, also in Deutschland - nicht abgeleitet werden könne. Denn mit einer solchen Antwort verneint ein Antragsteller
lediglich sein Wissen um die Existenz eines Anspruchs auf Inanspruchnahme von Leistungen nach einem anderen Sozialversicherungssystem.
Weiter zutreffend verweist daher das Urteil des LSG auch auf die bisherige Rechtsprechung des erkennenden Senats im Urteil
vom 12. Februar 2004 (B 13 RJ 58/03 R - BSGE 92, 159 = SozR 4-6580 Art 19 Nr 1). Der vorliegende Sachverhalt kann - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht anders beurteilt
werden als in dem im Februar 2004 entschiedenen Fall. Denn beiden Fällen ist gemein, dass der Beklagten ein in Kanada gestellter
Rentenantrag entgegen der in Art 19 Abs 2 Abk Kanada SozSich geregelten Verpflichtung des kanadischen Rentenversicherungsträgers
nicht zugeleitet wurde, so dass sie von der Rentenantragstellung keine Kenntnis erhielt.
Ebenfalls bereits im Urteil des Senats vom 12. Februar 2004 (aaO) ist ausgeführt, dass es für die Wirksamkeit des beim kanadischen
Versicherungsträger gestellten Antrags in der deutschen Rentenversicherung nicht auf eine rechtzeitige Übersendung oder auch
nur auf die Kenntnis der Beklagten ankommt, weil eine entsprechende Einschränkung im Abk Kanada SozSich nicht enthalten ist.
Diese nahezu vollständige Antragsgleichstellung bewirkt eine automatische Erstreckung des Antrags auf Leistung in einem Vertragsstaat
auf die entsprechende Leistung in dem anderen Vertragsstaat. Damit wird ein Antragsteller der Mühe einer doppelten Antragstellung
entbunden, andererseits wird aber auch das Risiko einer Fristversäumnis durch verspäteten Eingang im anderen Vertragsstaat
ausgeschlossen (Frank in Berliner Komm, Internationales Rentenrecht Bd 2, Stand Oktober 2000, RdNr 564, S 189).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Er hat keine Veranlassung, den Sachverhalt deswegen anders zu beurteilen, weil
der verstorbene Versicherte keine Wissensbekundung hinsichtlich des Bestehens eines (möglichen) Anspruchs gegenüber dem deutschen
Rentenversicherungsträger abgegeben hat. Zur weiteren Begründung wird daher ergänzend auf die Ausführungen im Urteil vom 12.
Februar 2004 (B 13 RJ 58/03 R - BSGE 92, 159 = SozR 4-6580 Art 19 Nr 1) Bezug genommen.
Der Senat hält auch insoweit an seiner Auffassung fest, als einem Anspruch wie dem des Versicherten keine Verjährung entgegensteht.
Das ergibt sich aus §
45 Abs
1 SGB I aF, wonach die Verjährung auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung unterbrochen (gehemmt) wurde und die Unterbrechung
(Hemmung) bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag oder den Widerspruch fortdauerte. Am Amtsermittlungsgrundsatz
ändert der Umstand nichts, dass die Beklagte als zuständiger deutscher Rentenversicherungsträger von der Antragstellung des
Versicherten keine Kenntnis erhielt (vgl §
16 Abs
2 Satz 2
SGB I).
Ebenso wenig ist die Beklagte in analoger Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X oder in Anwendung der Grundsätze der Verwirkung berechtigt, ausgehend von dem bei ihr gestellten Antrag des Versicherten,
diesem die RAR lediglich rückwirkend für vier Jahre zu gewähren. Denn - wie der Senat bereits im Urteil vom 12. Februar 2004
(aaO) ausgeführt hat - fingiert der in Kanada gestellte Antrag zugleich den Antrag auf gleiche Leistungen nach deutschen Vorschriften.
Da ein weiteres Zutun des Versicherten weder nach dem Abk Kanada SozSich noch nach den deutschen Vorschriften (vgl §
16 Abs
3 SGB I) erwartet wird, kann sein Untätigbleiben bis zur ausdrücklichen Beantragung der RAR bei der Beklagten nicht als treuwidrig
angesehen werden.
Klarstellend sei schließlich darauf hingewiesen, dass die durch das LSG bestätigte Verurteilung der Beklagten im erstinstanzlichen
Urteil, dem Versicherten "RAR auch für die Zeit vom 01.04.1995 bis 31.12.1995 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu
gewähren", notwendigerweise bedeutet, dass die Nachzahlung der Rente für diesen Zeitraum mit der Überzahlung zu verrechnen
ist, die sich daraus ergibt, dass von der Beklagten für die spätere Inanspruchnahme der RAR statt des Zugangsfaktors 1,0 der
erhöhte Zugangsfaktor von 1,045 (§
77 Abs
1, Abs
2 Nr
2 Buchst b
SGB VI) berücksichtigt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs
1 SGG.