Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Revisionsbegründungsfrist nach § 67 Abs. 1 SGG; Verschulden des Prozessbevollmächtigten
Gründe:
I
Streitig ist die Berücksichtigung von wegen Insolvenz nicht ausgezahltem Arbeitsentgelt bzw von Insolvenzgeld bei der Berechnung
von Elterngeld.
Die 1977 geborene Klägerin übte von Mai 2004 bis März 2007 eine geringfügige Beschäftigung aus. Wegen der Insolvenz des Arbeitgebers
erhielt sie von Januar 2007 bis März 2007 kein Arbeitsentgelt, sondern bezog Insolvenzgeld. Auf Antrag der Klägerin wurde
ihr für den 1. bis 12. Lebensmonat ihrer am 10.8.2007 geborenen Tochter Elterngeld bewilligt (Bescheid vom 4.10.2007). Ihr
Begehren, das Arbeitsentgelt für die Zeit von Januar 2007 bis März 2007 - hilfsweise das Insolvenzgeld - Elterngeld erhöhend
zu berücksichtigen, ist ohne Erfolg geblieben (Widerspruchsbescheid vom 15.2.2008; Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 8.7.2009;
Urteil des Landessozialgerichts [LSG] Nordrhein-Westfalen vom 19.3.2010). Das Berufungsurteil ist der Klägerin am 31.3.2010
zugestellt worden.
Dagegen hat die Klägerin am 14.4.2010 beim Bundessozialgericht (BSG) die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Mit einem
an das LSG Nordrhein-Westfalen adressierten Schreiben vom 28.5.2010, das dort am gleichen Tage (Freitag) um 18.22 Uhr per
Telefax eingegangen ist, hat die Klägerin die Revision begründet. Das LSG hat dieses Schreiben an das BSG übersandt, wo es
am 2.6.2010 einging.
Nachdem der erkennende Senat die Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf die Fristversäumnis hingewiesen hatte, haben diese
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, die sie mit einem Computerfehler begründeten. Zur Glaubhaftmachung haben
sie eine eidesstattliche Versicherung einer Mitarbeiterin vorgelegt.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19. März 2010 und des SG Detmold vom 8. Juli 2009 aufzuheben, den Bescheid des
Beklagten vom 4. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2008 abzuändern und den Beklagten
zu verurteilen, der Berechnung des Elterngeldes zusätzlich den Anspruch auf Arbeitseinkommen für die Monate Januar bis März
2007, hilfsweise das gezahlte Insolvenzgeld, zugrunde zu legen.
Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
II
Die Revision der Klägerin ist unzulässig, denn sie ist nicht fristgerecht begründet worden.
Nach §
164 Abs
2 Satz 1
SGG ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision
zu begründen. Dies ist im vorliegenden Fall nicht rechtzeitig geschehen. Die Revisionsbegründung ist erst am 2.6.2010 - nach
Ablauf der Zweimonatsfrist - beim BSG eingegangen; diese begann nach der am 31.3.2010 erfolgten Zustellung des Berufungsurteils
gemäß §
64 Abs
1 SGG am 1.4.2010 zu laufen und endete gemäß §
64 Abs
2 und
3 SGG mit dem Ablauf des 31.5.2010 (einem Montag).
Der Eingang der Revisionsbegründung am 28.5.2010 beim LSG hatte keine fristwahrende Wirkung. Nach §
164 Abs
1 Satz 1
SGG (anders als nach §
139 Abs
1 Satz 1
VwGO für das verwaltungsgerichtliche Revisionsverfahren) muss die Revision bei dem Revisionsgericht - dem BSG - eingelegt werden.
Mangels anderweitiger Regelung ist auch hinsichtlich der Revisionsbegründung auf den Eingang beim Revisionsgericht abzustellen
(ebenso nach §
139 Abs
3 Satz 2
VwGO im verwaltungsgerichtlichen Revisionsverfahren).
Der Antrag der Klägerin, ihr wegen Versäumens der Revisionsbegründungsfrist nach §
67 Abs
1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, ist abzulehnen, denn sie war nicht ohne Verschulden verhindert, diese
gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Sie muss sich nach §
73 Abs
6 Satz 6
SGG iVm §
85 Abs
2 ZPO das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen.
Das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten liegt darin, dass sie bei der Unterzeichnung der Original-Revisionsbegründungsschrift
vom 28.5.2010 nicht bemerkt haben, dass der Schriftsatz an das unzuständige (vorinstanzliche) Berufungsgericht (LSG Nordrhein-Westfalen,
Essen) und nicht an das zuständige Revisionsgericht (BSG, Kassel) adressiert war. Zu den Pflichten eines Prozessbevollmächtigten
bei der Unterzeichnung eines fristwahrenden Schriftsatzes - wie der Revisionsbegründung - gehört es, die Adressierung zumindest
insoweit zu überprüfen, als das richtige Gericht genannt wird, denn der Prozessbevollmächtigte und nicht das - gut ausgewählte
und geschulte - Büropersonal trägt die persönliche Verantwortung dafür, dass ein fristwahrender Schriftsatz bei dem richtigen
Gericht eingeht (vgl zur Rechtsmittelschrift BGH NJW-RR 1993, 254; BGH NJW 1996, 997; BSG Beschluss vom 15.8.2002 - B 3 P 14/02 B). Das Vorbringen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin, es habe ein Computerfehler vorgelegen, ist schon deshalb unbeachtlich.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §
67 Abs
1 SGG ist auch nicht wegen eines für die Fristversäumnis kausalen pflichtwidrigen Verhaltens des LSG zu gewähren. Zwar ist anerkannt,
dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch dann gewährt werden kann, wenn eine (fristwahrende) Rechtsmittelschrift an
das unzuständige Gericht übersandt worden ist und infolge pflichtwidrigen Verhaltens dieses Gerichts erst nach Ablauf der
Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingeht (so schon BSG Beschluss des Großen Senats vom 10.12.1974 - GS 2/73 - BSGE 38, 248, 258 ff = SozR 1500 § 67 Nr 1 S 8 ff; vgl auch BVerfG Beschluss des Ersten Senats vom 20.6.1995 - 1 BvR 166/93 - BVerfGE 93, 99, 112 ff; BVerfG Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17.3.2005 - 1 BvR 950/04 - NJW 2005, 2137; BVerfG Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17.1.2006 - 1 BvR 2558/05 - NJW 2006, 1579). Dies setzt jedoch voraus, dass es das LSG pflichtwidrig unterlassen hat, den Schriftsatz rechtzeitig an das BSG weiterzuleiten.
Welche Prüfungs- und Fürsorgepflichten das angegangene (unzuständige) Gericht im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung
im Hinblick auf eine rechtzeitige Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht hat, hängt weitgehend von den
Verhältnissen des Einzelfalls ab (so schon BSGE 38, 248, 261 = SozR 1500 § 67 Nr 1 S 11). Einerseits ist der Richter zur Rücksichtnahme auf die Beteiligten verpflichtet. Für das
Gericht, das vorher mit dem Verfahren befasst war, besteht deshalb eine nachwirkende Fürsorgepflicht (vgl BVerfGE 93, 99, 115). Andererseits muss auch die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden.
Insbesondere kann einem Beteiligten und seinem Prozessbevollmächtigten nicht allgemein die Verantwortung für die Ermittlung
des richtigen Adressaten fristgebundener Schriftsätze abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden (vgl BVerfGE
93, 99, 114; BVerfG NJW 2006, 1579). In Fällen der offensichtlichen eigenen Unzuständigkeit - wie hier - belastet die Weiterleitung eines Schriftsatzes, der
unrichtig an das LSG statt an das BSG adressiert ist, die Funktionsfähigkeit des LSG nicht übermäßig (vgl BVerfGE 93, 99, 115; BVerfG NJW 2006, 1579), wenn dies im ordentlichen Geschäftsgang geschieht. Die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht der Gerichte begründet jedoch
keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang des Schriftsatzes (so schon BSGE 38, 248, 261 = SozR 1500 § 67 Nr 1 S 10 f; vgl auch BVerfG NJW 2006, 1579). Die Gerichte sind auch nicht verpflichtet, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, um den rechtzeitigen Eingang des fristwahrenden
Schriftsatzes bei dem zuständigen Gericht zu gewährleisten (so schon BSGE 38, 248, 261 = SozR 1500 § 67 Nr 1 S 11).
Wendet man diese Maßstäbe auf den vorliegenden Fall an, so hat das LSG die rechtzeitige Weiterleitung der Revisionsbegründungsschrift
nicht pflichtwidrig unterlassen. Der betreffende Schriftsatz ist erst am Freitag, dem 28.5.2010, um 18.22 Uhr per Telefax
beim LSG eingegangen. Er konnte deshalb erst am letzten Tag der Revisionsbegründungsfrist (Montag, 31.5.2010) im ordentlichen
Geschäftsgang bearbeitet werden. Die Geschäftsstelle hat an diesem Tag - wie nach der Auskunft des LSG vom 6.9.2010 auch in
erledigten Verfahren üblich - den Schriftsatz dem zuständigen Richter vorgelegt. Da der Schriftsatz keinen ausdrücklichen
Hinweis auf den Fristablauf enthielt und laut Auskunft des LSG vom 6.9.2010 weder aus den Restakten noch aus den im EDV-System
abgespeicherten Daten das Zustellungsdatum des zweitinstanzlichen Urteils ersichtlich war, ist der zuständige Richter des
LSG seiner Fürsorgepflicht dadurch hinreichend nachgekommen, dass er am 31.5.2010 die üblicherweise im ordentlichen Geschäftsgang
vorgesehene Weiterleitung des Schriftsatzes mit einfacher Post verfügt hat. Da die Begründungsfrist mit Ablauf dieses Tages
endete, kommt es nicht darauf an, dass die betreffende Sendung ausweislich des Frankieraufdrucks erst am 1.6.2010 zur Post
gegeben worden ist. Eine außergewöhnliche Maßnahme, wie eine unverzügliche (fristwahrende) Übermittlung per Telefax, musste
der zuständige Richter des LSG im Hinblick auf die vorgenannten Umstände nicht ergreifen.
Die nicht fristgerecht begründete Revision ist durch Beschluss ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu
verwerfen (§
169 Satz 2 und
3 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§
183,
193 SGG.