Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Ausschluss eines Beteiligten von der mündlichen Verhandlung nur durch das Gericht
Übertragung eines Berufungsverfahrens auf den Berichterstatter
Gründe
I
In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit geht das LSG davon aus, dass die Beteiligten um Beitragsforderungen
nebst Säumniszuschlägen und Mahngebühren streiten, welche die Beklagte für die Zeiträume vom 1.5.2010 bis zum 31.7.2011, vom
1.12.2011 bis zum 10.5.2012 und vom 25.8.2012 bis zum 31.1.2013 von der Klägerin fordert.
Das SG Hamburg hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 23.8.2018). In dem nach §
153 Abs
5 SGG dem Berichterstatter übertragenen Berufungsverfahren hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung erklärt, ausschließlich
die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG wegen Verfahrensfehlern zu begehren. In einem weiteren Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Berichterstatter sie vor
einer Antragstellung des Saales verwiesen, weil sie ihm mehrfach ins Wort gefallen sei.
Mit dem angegriffenen Urteil hat das LSG Hamburg die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es hat das Begehren der Klägerin
unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes darin gesehen, dass sich die Klägerin gegen die Zahlung der für die
streitgegenständlichen Zeiträume festgestellten rückständigen Beiträge nebst Säumniszuschlägen und Mahngebühren wende. Dem
entspreche der Antrag, den Gerichtsbescheid des SG und die im einzelnen aufgeführten Bescheide der Beklagten aufzuheben. Die so gefasste Berufung sei unbegründet, weil die
Rückstände zutreffend festgestellt und ein über den bereits erfolgten Teilerlass hinausgehender weiterer Erlass zu Recht abgelehnt
worden sei. Weil über die Berufung entschieden werden könne, sei die begehrte Zurückverweisung nicht sachgerecht (Urteil vom 7.6.2021).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat die Klägerin ua die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt, weil
sie unrechtmäßig von der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen worden sei.
II
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig. Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des §
160a Abs
2 Satz 3
SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art
103 Abs
1 GG, §
62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält hinreichende Darlegungen zum Verfahrensablauf anhand des Sitzungsprotokolls sowie
zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch einen unrechtmäßigen Ausschluss der Klägerin aus der mündlichen Verhandlung.
Weitergehender Ausführungen zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler bedarf es nicht, wenn - wie
hier - ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf Teilnahme an der mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl BSG Beschluss vom 10.12.2019 - B 12 KR 69/19 B - juris RdNr 8 mwN). Ob das Mandatsverhältnis zwischen der Klägerin und ihrem Prozessbevollmächtigten nach der zulässig durch ihn erhobenen Beschwerde
beendet wurde, ist unerheblich.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet, weil der insoweit von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler vorliegt
und das Urteil des LSG darauf beruhen kann.
a) Die Klägerin beanstandet zu Recht, dass die Entscheidung über den Ausschluss eines Beteiligten von der mündlichen Verhandlung
nur durch das Gericht, nicht durch den Berichterstatter ergehen kann. Durch die Übertragung der Berufung auf den Berichterstatter
nach §
153 Abs
5 SGG wird dieser zwar zum Vorsitzenden (vgl Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
153 RdNr
25d mwN); nach §
61 Abs
1 SGG iVm §
177 Satz 2
GVG ist allerdings der Vorsitzende nur gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, befugt, zur Aufrechterhaltung
der Ordnung über Maßnahmen wie die Entfernung aus dem Sitzungszimmer zu entscheiden. Gegenüber den Beteiligten selbst entscheidet
hingegen das Gericht.
Nach der Übertragung eines Berufungsverfahrens auf den Berichterstatter entscheidet dieser gemäß §
153 Abs
5 iVm §
33 Abs
1 Satz 1
SGG zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern. Über die Entfernung der Klägerin aus dem Sitzungszimmer hätte daher der Spruchkörper
unter Mitwirkung des vorsitzenden Berichterstatters und zwei ehrenamtlicher Richter entscheiden müssen. Dem hatte eine entsprechende
Beratung und Abstimmung vorauszugehen (§
61 Abs
2 SGG iVm §§
192 ff
GVG; vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 2.6.2010 - 1 BvR 448/06 - juris RdNr 18 f mwN). Die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter ist ein tragender Grundsatz des sozialgerichtlichen Verfahrens. Die Frage, ob
der Vorsitzende allein oder zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet, berührt die Bestimmung des gesetzlichen
Richters iS von Art
101 Abs
1 Satz 2
GG in der Person der im Einzelfall nach den allgemeinen Gesetzen zur Mitwirkung berufenen Richter unter Einschluss der ehrenamtlichen
Richter (BVerfG aaO RdNr 17 mwN).
b) Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es die Klägerin mittels
einer rechtswidrig allein durch den Berichterstatter getroffenen Entscheidung aus dem Sitzungssaal verwiesen und das angegriffene
Urteil aufgrund einer mündlicher Verhandlung verkündet hat, an der die ohne Vertreter erschienene Klägerin in wesentlichen
Teilen nicht teilnehmen konnte. Der Mündlichkeitsgrundsatz gemäß §
124 Abs
1 SGG räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden.
Bei einem Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen
Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage
in der mündlichen Verhandlung selbst zu äußern (vgl BSG Beschluss vom 10.12.2019 - B 12 KR 69/19 B - juris RdNr 10 mwN). Wird dieses Äußerungsrecht in rechtswidriger Weise verkürzt, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs
an einem wesentlichen Mangel.
c) Die angefochtene Entscheidung kann auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen
Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens reicht es aus, dass - wie hier - eine andere Entscheidung nicht
auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (BSG Beschluss vom 9.4.2019 - B 1 KR 81/18 B - juris RdNr 7 mwN). Dies gilt in besonderem Maße, wenn - wie hier - eine mündliche Verhandlung in der ersten Instanz nicht stattgefunden hat
(vgl Art 6 Abs 1 EMRK).
3. Der Senat macht von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl §
160a Abs
5 SGG). Der Zurückverweisung steht nicht der - auch in einem Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision grundsätzlich
anwendbare (vgl hierzu BSG Beschluss vom 24.11.2020 - B 12 KR 37/20 B - juris RdNr
16 mwN) - Rechtsgedanke des §
170 Abs
1 Satz 2
SGG entgegen, nach dem eine Revision bei einer Gesetzesverletzung auch dann zurückzuweisen ist, wenn sich die Entscheidung aus
anderen Gründen als richtig darstellt. Sogar bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes kann eine Entscheidung des BSG in der Sache ausnahmsweise zulässig sein, wenn die Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann (so für den absoluten Revisionsgrund der verspäteten Urteilsabsetzung BSG Urteil vom 20.11.2003 - B 13 RJ 41/03 R - BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1 RdNr, 11). Eine abschließende Prüfung, ob nach Zurückverweisung keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann, ist dem Senat
hier aber nicht möglich. Hierfür fehlt es bereits an einem hinreichend klar erkennbaren Begehren der Klägerin.
4. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
5. Damit hat sich der Antrag der Klägerin vom 13.7.2022, ihr einen zusätzlichen Anwalt beizuordnen, erledigt.