Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
bei einer Überraschungsentscheidung
Gründe:
I
Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten für eine selbstbeschaffte Sehhilfe. Das SG Leipzig hat die Klage abgewiesen
(Urteil vom 29.7.2009). Das Sächsische LSG hat die Beklagte verurteilt, einen Betrag von 150,11 € zu zahlen und im Übrigen
die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18.8.2010).
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Beklagte ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe
sich auf ein Einverständnis zur Kostenerstattung in analoger Anwendung des §
13 Abs
3 SGB V gestützt und damit eine Überraschungsentscheidung getroffen. Es sei weder über einen Anspruch nach §
13 Abs
3 SGB V gestritten noch ein Einverständnis abgegeben worden.
II
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des §
160a Abs
2 Satz 3
SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art
103 Abs
1 GG, §
62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem
Verfahrensfehler beruhen kann.
Das Berufungsgericht hat den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und das angegriffene Urteil des LSG vom 18.8.2010 kann
auf diesem Verfahrensmangel iS des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG beruhen.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf
Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 §
153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Er soll sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Art
103 Abs
1 GG gebietet zwar nicht, dass das Gericht vor seiner Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist (BVerfG vom 27.11.2008
- 2 BvR 1012/08 - Juris RdNr 6; BVerfGE 86, 133, 145, jeweils mwN). Auch aus §
62 SGG ergibt sich keine Pflicht des Prozessgerichts, vor einer Entscheidung die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise
leitenden Gesichtspunkte mit den Beteiligten zu erörtern, soweit sie bereits aus dem Verfahrensstand ersichtlich sind (vgl
BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2). Eine Überraschungsentscheidung liegt dann vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen
bislang nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit
der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl
vertretbarer Rechtsauffassungen nicht rechnen musste (BSG SozR 4-2500 § 103 Nr 6 RdNr 17). Das ist hier der Fall.
Das LSG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils festgestellt, dass sich die Beklagte in analoger Anwendung
des §
13 Abs
3 SGB V mit der Kostenerstattung einverstanden erklärt habe und sich daher nicht nachträglich auf Höchstbeträge berufen könne. Die
Beklagte musste zwar davon ausgehen, dass das LSG die rechtlichen Grundlagen des geltend gemachten Erstattungsanspruchs umfassend
prüft. Sie konnte aber ohne vorherigen Hinweis nicht damit rechnen, dass sich das LSG zur Begründung seiner Entscheidung auf
ein Einverständnis zur Kostenerstattung stützt und dies rechtlich wie ein Anerkenntnis behandelt. Die Abgabe eines solches
Einverständnisses ist weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils festgestellt. Auch ist
nicht zu erkennen, dass ein ausdrücklich oder konkludent erklärtes Einverständnis während des Rechtsstreits erörtert worden
wäre.
Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG ohne den Gehörsverstoß
zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung gelangt wäre.
Angesichts dieses Verfahrensmangels können die von der Beklagten außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.
Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vor, kann das Bundessozialgericht auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers
aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§
160a Abs
5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.