Vollstreckung eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides nach dem SGB II
Wirksamkeit der Bekanntgabe mit förmlicher Zustellung durch die Post mittels Zustellungsurkunde bei einem für jedermann zugänglichen
Briefkasten in einem Mehrfamilienhaus
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Vollstreckung eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides durch den Beklagten.
Mit Bescheid vom 16.04.2007 hob der Beklagte unter anderem die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2005 bis 31.12.2005 in Höhe von 3.916,74 EUR auf (Nr. 1), machte die Erstattung dieses Betrags
geltend (Nr. 2), verfügte weiterhin die Aufrechnung der entstandenen Überzahlung mit den ab 01.05.2007 bestehenden Ansprüchen
auf Arbeitslosengeld II (Nr. 3) und ordnete die sofortige Vollziehung der verfügten Aufhebung und Erstattung an (Nr. 5). Die
Zustellung des Bescheides erfolgte durch Postzustellungsurkunde. In der in den Akten des Beklagten befindlichen Zustellungsurkunde
beurkundete die Zustellerin T. die Einlegung des Bescheides in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten für den 19.04.2007.
Erst am 03.05.2016 erfolgte die behördeninterne Mitteilung an die Kreiskasse des Beklagten als der zuständigen Einzugsstelle
über den nach Tilgung von 80,00 EUR noch offenen Betrag in Höhe von insgesamt 3.836,74 EUR zum Zwecke der Sollstellung. Am
25.08.2018 erfolgte eine Mahnung über den noch offenen Betrag zuzüglich Mahngebühren von 5,00 EUR, insgesamt 3.841,74 EUR,
unter Nennung des Bescheides vom 16.04.2007. Mit Schreiben vom 21.09.2016 kündigte der Beklagte die Zwangsvollstreckung aufgrund
dieser Forderung an. Mit Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom 20.10.2016 unternahm der Beklagte einen Pfändungsversuch
bei der B.-Bank. Diese teilte dem Beklagten unter dem 28.10.2016 mit, das einzig vom Kläger bei ihr geführte Girokonto weise
kein pfändbares Guthaben auf. Es sei ein Pfändungsschutzkonto im Sinne von § 850k Abs. 7
Zivilprozessordnung (
ZPO). Mit einer an den Polizeiposten S. gerichteten Strafanzeige vom 05.11.2016 gegen den Beklagten wegen "Verdachts der versuchten
Nötigung, der Vollstreckung gegen Unschuldige, der Falschbeurkundung im Amt sowie Gebührenüberhebung" legte der Kläger zugleich
"Beschwerde" gegen den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom 20.10.2016 ein und führte zur Begründung unter anderem aus,
einen Bescheid aus dem Jahre 2007 gebe es nicht.
Nachdem der Beklagte erstmals im Mai 2017 von einem Beschäftigungsverhältnis des Klägers bei D. (künftig: Arbeitgeber) Kenntnis
erlangt hatte, erließ er am 22.05.2017 einen weiteren Pfändungs- und Überweisungsbeschluss über 3.849,08 EUR (laut beigefügter
Forderungsaufstellung 3.836,74 EUR Hauptforderung, 5,00 EUR Mahngebühr, zweimal 3,67 EUR Postzustellungsgebühren), mit dem
er die gegenwärtigen und künftigen Ansprüche des Klägers gegen seinen Arbeitgeber "insoweit, als die Forderung der Pfändung
unterworfen ist", pfändete. Mit Schreiben vom 12.07.2017, Eingang beim Beklagten am 14.07.2017, teilte der Kläger diesem mit,
es würden keinerlei Ansprüche des Beklagten ihm gegenüber bestehen. Die beigefügte weitere, von ihm am 21.06.2017 beim Polizeiposten
S. erstattete Strafanzeige leite er als "fristwahrende Beschwerde" zu. In der Strafanzeige führte der Kläger aus, ein Bescheid
vom 16.04.2007 existiere nicht. Weder sei ihm ein solcher Bescheid jemals zugestellt worden, noch bis ins Jahr 2016 jemals
hierauf gestützt eine Forderung ihm gegenüber geltend gemacht worden.
Am 17.07.2017 hat der Kläger beim Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt (AG) "Vollstreckungsabwehrklage" gegen die "sogenannte
Pfändung" durch den Beklagten erhoben, welche das AG nach vorheriger Anhörung mit Beschluss vom 28.09.2017 an das Sozialgericht
Stuttgart (SG) verwiesen hat. Zur Begründung der Klage hat der Kläger sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Der Beklagte
ist der Klage entgegengetreten und hat geltend gemacht, dem titulierten Anspruch des Beklagten würden keine materiell-rechtlichen
Einwendungen entgegenstehen. Der Bescheid vom 16.04.2007 gelte aufgrund der Postzustellungsurkunde, welche die Zustellung
dokumentiere, als bekanntgegeben. Ein Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid sei beim Beklagten nicht eingegangen.
Auch sei spätestens bei Erhalt der Mahnung vom 25.08.2016 bzw. der Androhung der Zwangsvollstreckung vom 21.09.2016 eine entsprechende
zeitnahe Reaktion des Klägers zu erwarten gewesen, wenn er von der Existenz des maßgeblichen Bescheides tatsächlich keine
Kenntnis gehabt haben sollte.
Mit Gerichtsbescheid vom 11.09.2019 hat das SG nach vorheriger Anhörung die Klage abgewiesen. Die erhobene Vollstreckungsabwehrklage sei zulässig, aber nicht begründet.
Ausweislich der Verwaltungsakte des Beklagten sei der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16.04.2007 dem Kläger formgerecht
zugestellt worden und damit wirksam. Der Kläger könne die Bekanntgabe des Bescheides nicht widerlegen. Denn die Zustellung
begründe als öffentliche Urkunde im Sinne des §
418 ZPO den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Ein möglicher Beweis für deren Unrichtigkeit verlange deshalb den vollen
Nachweis eines anderen Geschehensablaufs, welchen der Kläger nicht erbracht habe.
Gegen den ihm am 14.09.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 25.09.2019 Berufung beim SG eingelegt. Der streitgegenständliche Bescheid, der die Forderungen begründen solle, sei ihm entgegen der unbewiesenen Behauptung
des Beklagten nicht zugestellt worden, da er hiergegen zweifelsfrei sofort Rechtsmittel ergriffen hätte. Zu beachten sei,
dass er zu dieser Zeit in einem Mehrfamilienhaus in Z. gewohnt habe, dessen Eingangstüre regelmäßig offen gestanden habe.
Die direkt neben der Eingangstüre befindlichen Briefkästen seien für jedermann zugänglich gewesen. Hinzu komme, dass durch
den Einwurf von umfangreichem Werbematerial die Briefkästen regelmäßig übergequollen seien und die dazwischen gequetschte
Briefpost von jedermann habe entnommen werden können. Es sei daher nicht auszuschließen bzw. sogar wahrscheinlich, dass die
Postzustellungsurkunde im Briefkasten zurückgelassen, aber durch unbekannte Täter entwendet worden sei. So habe sich sein
Wohnhaus in einem durch Kleinkriminalität geprägten Milieu befunden. Hinzu komme, dass er im fraglichen Zeitraum aufgrund
der schweren Traumatisierung und Schädigung durch den fortlaufenden Kindesentzug, den Justizbehörden in W. zu verantworten
hätten, sich öfter über Tage nicht unter seiner Wohnadresse aufgehalten habe und deshalb auch nicht die Post geleert habe.
Denn sein Lebensmittelpunkt habe sich auch zu diesem Zeitraum im Großraum S. befunden. Im Übrigen betrage der ihm zustehende
Pfändungsfreibetrag aufgrund dessen, dass er Unterhalt gewähre, 1.622,16 EUR. Sein Arbeitseinkommen liege aber netto regelmäßig
unter 1.000 EUR.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass die Zwangsvollstreckung aus dem Bescheid vom 16.04.2007 unzulässig ist,
hilfsweise,
festzustellen, dass die Pfändung unzulässig ist, soweit sie sich auch auf den pfändungsfreien Sockelbetrag von monatlich 1.622,16
EUR erstreckt.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte bezieht sich zur Begründung seines Antrags auf den angefochtenen Gerichtsbescheid, der fehlerfrei sei. Nachdem
der Arbeitgeber im November 2018 284,34 EUR, am 15.01.2019 21,00 EUR und am 15.11.2019 weitere 350,99 EUR an den Beklagten
überwiesen habe, sei noch ein Betrag in Höhe von 3.192,75 EUR offen. Die Höhe des pfändbaren Betrags richte sich nach dem
Nettolohn des Klägers, wobei die Berechnung und die Prüfung der pfändbaren Beträge dem Arbeitgeber als Drittschuldner selbst
obliege und der Beklagte keine Einsicht in die Zusammensetzung und die Rechtmäßigkeit der Zahlungen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§
143 und
144 SGG statthafte, nach §
151 Abs.
1 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.
Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, finden für die Vollstreckung gemäß § 40 Abs. 8 2. Halbsatz SGB II in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 SGB X die landesrechtlichen Vorschriften über das Verwaltungsvollstreckungsverfahren, vorliegend also die Regelungen des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG), Anwendung. Während sich gemäß Art. 26 Abs. 6 Satz 2 VwZVG die Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen Maßnahmen der Vollstreckungsgerichte und Gerichtsvollzieher
nach der
ZPO regelt, unterliegen gemäß Art. 26 Abs. 6 Satz 3 VwZVG Rechtsbehelfe gegen Vollstreckungsmaßnahmen der Gemeinden, Landkreise, Bezirke und Zweckverbände sowie der für
die Bezirke handelnden Regierungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, womit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist
(hierzu ausführlich Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 03.02.2012, 6 C 12.221, juris). Dies gilt auch, soweit
der Kläger Einwendungen gegen den zu vollstreckenden (Grund-)Verwaltungsakt erhebt (Bayerischer VGH, a.a.O.). Folge der rechtsfehlerhaften, gleichwohl wirksamen Verweisung (vergleiche hierzu im Einzelnen die zutreffenden
Ausführungen des SG in der angefochtenen Entscheidung, §
153 Abs.
2 SGG) des Rechtsstreits durch das AG an das SG - welche bereits aufgrund von §
17a Abs.
5 Gerichtsverfassungsgesetz (
GVG) den Senat bindet - ist, dass die aufgrund dessen zur Entscheidung berufenen Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit die volle
Rechtsschutzfunktion wie das originär zuständige Gericht zu übernehmen und deshalb das einschlägige materielle Recht anzuwenden
haben (Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.10.2018, L 7 SF 1/18 B (KG), juris). In prozessualer Hinsicht haben die aufgrund fehlerhafter, aber bindender Verweisung nunmehr zuständigen Gerichte
das Verfahren nach ihrer Prozessordnung fortzusetzen (Kissel/Mayer,
GVG, 9. Aufl. 2018, §
17 Rn. 48, m.w.N., a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O., wonach in derjenigen Verfahrensart zu entscheiden sein soll, die am
meisten dem Rechtsschutzbegehren des Klägers entspricht). Hier ist somit das
SGG zugrunde zu legen.
Soweit sich der Kläger gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt als solchen mit der Begründung wehrt, er habe diesen Bescheid
nie erhalten, ist folgendes zu beachten:
Zu Unrecht ist das SG insoweit von der Statthaftigkeit einer Vollstreckungsabwehrklage nach §
167 Abs.
1 Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO) - richtigerweise nach dem Vorgesagten nach §
202 Satz 1
SGG - in Verbindung mit §
767 ZPO ausgegangen. Denn die Vollstreckungsabwehrklage ist nur bei der Vollstreckung aus den in §
199 Abs.
1 SGG aufgeführten Vollstreckungstiteln statthaft, nicht aber bei der Vollstreckung von Forderungen aus Verwaltungsakten (so Hamburgisches
Oberverwaltungsgericht (OVG), Beschluss vom 17.12.2015, 1 So 70/14, juris, zum weitgehend gleichlautenden §
168 Satz 1
VwGO, auch zum Nachfolgenden). Das vom Kläger erkennbar verfolgte Ziel, nämlich die Einstellung der Vollstreckung mangels vollstreckbaren
Anspruchs, kann dieser aber mit einer nach dem
SGG statthaften Klage, nämlich einer Feststellungsklage erreichen. Dem Kläger geht es nicht darum, die zwischenzeitlich ergangenen
Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse und damit lediglich einzelne Vollstreckungsverwaltungsakte anzugreifen. Vielmehr wendet
er sich gegen die (derzeitige) Vollstreckung schlechthin. Statthafter Rechtsbehelf für ein solches Begehren ist die (vorbeugende)
Feststellungsklage gemäß §
55 SGG (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.05.2011, OVG 10 B 7.10; OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 03.04.2007, 2 M 53/07; beide in juris; offengelassen Hamburgisches OVG, a.a.O.). Das Rechtsschutzbegehren des Klägers lässt sich auch ohne weiteres
als Feststellungsantrag auslegen, weil er deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass er eine gerichtliche Entscheidung über
die Zulässigkeit der vom Beklagten betriebenen Zwangsvollstreckung erreichen möchte.
Für die Feststellungsklage mit dem Ziel, die Vollstreckung des Bescheides vom 16.04.2007 für unzulässig zu erklären, liegen
auch im Übrigen die Sachentscheidungsvoraussetzungen vor. Insbesondere besteht ein Rechtsschutzinteresse des Klägers. Denn
der Beklagte berühmt sich des Rechts zur Beitreibung und hat mit den beiden Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen die Vollstreckung
bereits in die Wege geleitet. Dem Kläger ist es nicht zuzumuten, die Zwangsvollstreckung zunächst zu dulden und sich auf eine
nachträgliche Rechtmäßigkeitsprüfung und einen etwaigen Rückzahlungsanspruch verweisen zu lassen, weshalb er vorbeugenden
Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann (OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Es bestehen deshalb keine durchgreifenden Bedenken
wegen des vorbeugenden Charakters, welcher der Feststellungsklage hier zukommt, (so auch Verwaltungsgerichtshof [VGH] Baden-Württemberg,
Urteil vom 24.02.1992, 5 S 2520/91, juris). Letztlich ist auch der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt, weil davon auszugehen ist, dass der Beklagte auch einem
nicht vollstreckbaren Feststellungsurteil Folge leisten wird.
Die danach statthafte (vorbeugende) Feststellungsklage ist indes unbegründet. Es liegt entgegen der Auffassung des Klägers
eine wirksame Bekanntgabe des Bescheides vom 16.04.2007 im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufgrund der erfolgten Zustellung gem. Art. 1 Abs. 1 VwZVG in Verbindung mit den Art. 2 und 3 VwZVG vor. Wie das SG bereits zutreffend ausgeführt hat, begründet die förmliche Zustellung durch die Post mittels Zustellungsurkunde gemäß §
182 Abs.
1 Satz 2
ZPO als öffentliche Urkunde im Sinne des §
418 ZPO den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, soweit diese auf eigenen Handlungen oder eigenen Wahrnehmungen beruhen.
Die Beweiskraft reicht soweit, wie gewährleistet ist, dass die zur Beurkundung berufene Amtsperson die Tatsachen selbst verwirklicht
oder aufgrund eigener Wahrnehmungen zutreffend festgestellt hat (BGH, Beschluss vom 11.07.2018, XII ZB 138/18, juris). Demnach erstreckt sich vorliegend die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde der Zustellerin T. auch auf die von
ihr bewirkte Einlegung des zugehörigen Schriftstücks in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten sowie auf das Datum
der Zustellung mit Uhrzeit. Zwar ist der Beweis der Unrichtigkeit zulässig (§
418 Abs.
2 ZPO), soweit er nicht, was vorliegend nicht der Fall ist, ausgeschlossen oder beschränkt ist. Erforderlich ist aber der Beweis
der Unrichtigkeit; bloße Zweifel an der Richtigkeit der urkundlichen Feststellungen genügen nicht (Bundesverfassungsgericht
[BVerfG], Nichtannahmebeschluss vom 20.02.2002, 2 BvR 2017/01, juris). Der im Klageverfahren erhobene, unsubstantiierte Vortrag des Klägers, er habe den Bescheid nicht erhalten, erfüllt
diese Voraussetzungen nicht. Zwischenzeitlich bestreitet der Kläger (wohl) auch nicht mehr die Richtigkeit der Postzustellungsurkunde,
sondern macht geltend, man habe das niedergelegte Schreiben aus dem Briefkasten entfernt, bevor er es zur Kenntnis habe nehmen
können. Mit der - im Berufungsverfahren somit nicht mehr in Zweifel gezogenen - Einlegung gilt das Schriftstück indes als
zugestellt (Zustellungsfiktion, §
180 Satz 2
ZPO).
Zur Wohnung oder zu den Geschäftsräumen gehört ein Briefkasten zwar dann nicht, wenn er zugeklebt ist oder sich sonst nicht
in einem ordnungsgemäßen Zustand befindet, insbesondere, wenn er überfüllt ist ("überquillt") und damit erkennbar ist, dass
er von dem Wohnungsinhaber nicht benutzt wird (Schultzky in: Zöller,
Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, §
180 Rn. 5). Dies vermag vorliegend indes nicht die Zustellungsfiktion in Zweifel zu ziehen. Der Kläger hat geltend gemacht, es
sei häufig umfangreiches Werbematerial in seinen Briefkasten eingeworfen worden und die Briefpost deshalb häufig dazwischen
gequetscht worden, so dass sie jedermann habe entnehmen können. Auch habe er sich im fraglichen Zeitraum oftmals über Tage
nicht an der Wohnadresse aufgehalten und deshalb auch nicht den Briefkasten geleert. Damit zeigt der Kläger indes lediglich
einen für möglich erachteten Geschehensablauf auf, ohne dass damit der Beweis erbracht wäre, dass der Briefkasten am Tage
der Zustellung, dem 19.04.2007, tatsächlich überfüllt gewesen wäre, und deshalb entgegen der Angaben der Zustellerin in der
Postzustellungsurkunde - denen, wie dargelegt, Beweiskraft zukommt - das Schriftstück nicht in den Briefkasten eingelegt,
sondern nur, für jedermann zugänglich, zwischen Werbematerial etc. "gestopft" worden wäre. Es steht aufgrund des klägerischen
Vorbringens weder fest, dass er sich zum Zeitpunkt des Einlegens des Schriftstücks am 19.04.2007 tatsächlich nicht unter seiner
Wohnadresse aufgehalten hat, noch, dass an diesem Tage sein Briefkasten tatsächlich überfüllt war.
Ohne dass es nach dem Vorstehenden noch hierauf ankäme, vermag sich der Senat auch nicht von der Richtigkeit des weiteren
Vortrags des insofern beweisbelasteten Klägers zu überzeugen. Der Kläger selbst hält es lediglich für möglich, dass das ihm
in seinen Briefkasten eingelegte Schreiben durch unbekannte Täter entwendet worden ist. Die Möglichkeit eines Diebstahls begründet
er damit, das Wohnhaus habe sich in einem entsprechenden Milieu befunden, in welchem sozial schwache Menschen und solche,
die der Kleinkriminalitätszene zuzuordnen seien, gewohnt hätten. Damit zeigt der Kläger indes auch insoweit nur einen für
möglich erachteten Geschehensablauf auf, ohne damit den Beweis zu erbringen, dass das im Briefkasten eingelegte Schreiben,
noch bevor er davon Kenntnis nehmen konnte, entfernt worden ist. Weder ist damit, wie bereits dargelegt, nachgewiesen, dass
er sich zum Zeitpunkt des Einlegens des Schriftstücks am 19.04.2007 tatsächlich nicht unter seiner Wohnadresse aufgehalten
hat und/oder an diesem Tage sein Briefkasten tatsächlich überfüllt war, noch, dass aufgrund dieser Situation das Schriftstück
entwendet worden ist.
Umgekehrt erscheint es fraglich, weshalb ein Dritter ein im Briefkasten des Klägers niedergelegtes Schriftstück gestohlen
haben soll. Zu Recht verweist der Beklagte auch auf den Umstand, dass der Kläger weder auf die Mahnung vom 25.08.2016 noch
auf die ihm unter dem 21.09.2016 übersandte Kontoübersicht, in der Verbindlichkeiten in Höhe von 3.841,74 EUR aufgeführt waren,
noch auf die Ankündigung der Zwangsvollstreckung wegen dieser Verbindlichkeiten vom selben Tage reagiert hat. Die Mahnung
wie auch die Ankündigung hat der Kläger aber erhalten, wie sich aus seinem Schreiben vom 05.11.2016 ergibt, in welchem er
beklagt, er habe mehrfach vom Beklagten "nötigende Schreiben mit fiktiven Geldforderungen" erhalten. Erstmalig mit diesem
Schreiben vom 05.11.2016 hat der Kläger dann in Reaktion auf den ihm zugeleiteten Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vom
20.10.2016 geltend gemacht, es bestehe keine Forderung des Beklagten ihm gegenüber. Angesichts dessen ist der Senat nicht
nur nicht davon überzeugt, dass dem Kläger das Schriftstück tatsächlich aus dem Briefkasten entwendet worden ist. Der Senat
hält es vielmehr für wahrscheinlicher, dass der Kläger dem Bescheid vom 16.04.2007 in gleicher Weise wie den Mahnungen und
Vollstreckungsankündigungen, möglicherweise beeinflusst von seiner grundsätzlichen und sehr ausgeprägten ablehnenden Haltung
gegenüber dem Beklagten und den weiteren Einrichtungen und Behörden des Freistaates Bayern, keine Beachtung geschenkt hat.
Sonstige Bedenken hinsichtlich des Vorliegens der Vollstreckungsvoraussetzungen für den nicht innerhalb der Klagefrist des
§
87 Abs.
1 Satz 1
SGG angefochtenen und daher gemäß §
77 SGG bestandskräftigen Bescheid vom 16.04.2007 (vergleiche hierzu insbesondere Art. 19 Abs. 1 Nr. 1 VwZVG) bestehen nicht. Insbesondere ist der Anspruch nicht gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X verjährt, weshalb offenbleiben kann, ob der Kläger die Einrede der Verjährung (wirksam) erhoben hat. Nach dieser Vorschrift
verjähren Erstattungsansprüche innerhalb von 4 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem der Verwaltungsakt, mit welchem
gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X die zu erstattende Leistung festgesetzt worden ist, unanfechtbar geworden ist. Gemäß § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X bleibt § 52 SGB X unberührt. Nach letzterer Vorschrift beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre, wenn ein Verwaltungsakt im Sinne des § 52 Abs. 1 SGB X, d.h. ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers
erlassen worden ist, unanfechtbar geworden ist (§ 52 Abs. 2 SGB X). § 50 Abs. 4 SGB X und § 52 Abs. 2 SGB X und die dort geregelten unterschiedlichen Verjährungsfristen stehen, da ein Erstattungsbescheid im Sinne des § 50 Satz 4 SGB X den Anspruch des Hoheitsträgers gegen einen Leistungsempfänger festsetzt und damit zugleich auch die Voraussetzung des §
52 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfüllt, in einem bislang höchstrichterlich nicht geklärten Spannungsverhältnis. Inwieweit § 50 Abs. 4 SGB X eine vorrangige Sonderregelung für die Feststellung eines Erstattungsanspruchs durch Verwaltungsakt darstellt, wovon wohl
mehrheitlich die Literatur ausgeht (vergleiche hierzu Baumeister, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 50 Rn. 126, m.w.N.), kann hier indes dahinstehen. Denn nach allgemeiner Auffassung folgt aus dem Verweis in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X auf § 52 SGB X jedenfalls, dass Verwaltungsakte, die - zugleich mit der Festsetzung der Erstattungsforderung nach § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X - zur Durchsetzung des festgestellten Erstattungsanspruchs ergehen, nach § 52 Abs. 2 SGB X eine Verjährungsfrist von 30 Jahren, gerechnet ab Rechtskraft des Durchsetzungsbescheides, in Gang setzen; denn mit dem Versuch,
die festgestellte Forderung durchzusetzen, hat der Hoheitsträger das ihm zur Realisierung des Anspruchs Obliegende getan,
weshalb dieser Anspruch ihm bei Nichterfüllung ohne weiteres 30 Jahre lang erhalten bleiben soll (Schütze, in von Wulffen/Schütze,
SGB X, 8. Aufl. 2014, § 50 Rn. 32; Heße, in BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 54. Edition, Stand: 01.09.2019, SGB X, § 50 Rn. 42; Lang, in Diering/Timme/Stähler, SGB X, 5. Aufl. 2019, § 50 Rn. 61). Da die vorliegend in Nr. 3 des Bescheides vom 16.04.2007 zugleich mit dem Erstattungsbescheid erklärte Aufrechnung
eine solche Regelung zur Durchsetzung des Anspruchs darstellt, greift vorliegend die 30-jährige Verjährungsfrist gemäß § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X in Verbindung mit § 52 Abs. 2 SGB X (Schütze, a.a.O.; Heße, a.a.O; Lang, a.a.O.).
Auch liegt keine Verwirkung vor. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben,
§
242 BGB, auch für das Sozialversicherungsrecht anerkannt. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus,
dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen hat und weitere besondere Umstände
hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen
des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden
besonderen Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten)
darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) sowie der Verpflichtete
tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in
seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des
Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (ständige Rechtsprechung des BSG, zuletzt Urteil vom 31.03.2017, B 12 R 6/14 R, juris, m.w.N.).
Es fehlt danach vorliegend zum einen an einem Verwirkungsverhalten. Für die Annahme eines Verwirkungsverhaltens muss ein konkretes
Verhalten des Gläubigers vorliegen, welches beim Schuldner die berechtigte Erwartung erweckt, dass eine Forderung nicht besteht
oder nicht (mehr) geltend gemacht wird (BSG, a.a.O., auch zum Nachfolgenden). Ein bloßes Unterlassen der weiteren Durchsetzung der Erstattungsforderung durch den Beklagten
- über die Einbehaltung von ca. 80 EUR im Wege der Aufrechnung noch im Jahr 2007 hinaus - erfüllt nach den aufgezeigten Maßstäben
die Anforderungen an ein Vertrauen begründendes Verwirkungsverhalten (noch) nicht. Der Beklagte hat zu keiner Zeit (wenigstens
konkludent) zum Ausdruck gebracht, von der Geltendmachung der Erstattungsforderung absehen zu wollen. Das bloße Untätigbleiben
des Beklagten konnte der Kläger nicht als bewusst und planmäßig erachten und deshalb auch nicht darauf vertrauen, nicht (mehr)
herangezogen zu werden. Insbesondere kann aber nach dem Vortrag des Klägers in keinem Fall ein Vertrauenstatbestand vorliegen.
Der Kläger macht bis zuletzt geltend, den Bescheid vom 16.04.2007 nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Nachdem er somit nach
eigener Darstellung schon keine Kenntnis von der Erstattungsforderung hatte, konnte sich bei ihm zwangsläufig kein Vertrauen
einstellen, dass die ihm ja unbekannte Erstattungsforderung nicht mehr geltend gemacht werde.
Unstreitig hat der Kläger im Übrigen als Vollstreckungsschuldner seine Zahlungsverpflichtung nicht rechtzeitig bei Fälligkeit
erfüllt. Die vorbeugende Feststellungsklage ist damit unbegründet.
Der Senat kann dahinstehen lassen, ob der erstmalig im Berufungsverfahren gestellte Antrag auf Vollstreckungsschutz gemäß
§
765a ZPO überhaupt zulässig ist. Denn jedenfalls liegen dessen Voraussetzungen evident nicht vor. Gemäß §
765a Abs.
1 Satz 1
ZPO kann auf Antrag des Schuldners das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben,
untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen
ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Soweit der Kläger im anhängigen
Gerichtsverfahren die Bediensteten des Beklagten regelmäßig als Kriminelle bezeichnet, welche in "asozialster und abartiger
Weise" die Aufnahme der Tätigkeit des Klägers ( ) ausnutzen und missbrauchen würden, um erneut im Zusammenspiel mit den durch
"Justizkriminalität in Bayern, Prozessbetrug durch die Polizeidirektion L." begangenen Verbrechen den Kläger zu schädigen,
spiegelt dies eine ausgeprägte Verbitterung des Klägers und auch eine fehlende Bereitschaft, das Mindestmaß an Umgangsformen
im Verkehr mit Behörden zu wahren, wider. Anhaltspunkte für ganz besondere Umstände, die eine Härte bedeuten und die Zwangsvollstreckung
im vorliegenden Falle einer sittenwidrigen Schädigung gleichkommen lassen würden, sind dagegen noch nicht einmal im Ansatz
ersichtlich.
Soweit sich der Kläger erstmalig im Berufungsverfahren konkret auch gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung, nämlich
die Höhe der Zahlungen seines Arbeitgebers aufgrund des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses des Beklagten vom 22.05.2017
wendet, ist diese im Wege der grundsätzlich auch im Berufungsverfahren zulässigen Klageänderung erhobene Klage mangels instanzieller
Zuständigkeit des LSG Baden-Württemberg bereits unzulässig. Sowohl im Verwaltungsverfahren wie auch im Klageverfahren hat
sich der Kläger durchgehend und ausschließlich gegen den geltend gemachten Anspruch, die im Bescheid vom 16.04.2007 verkörperte
Forderung, gewandt und dessen Existenz bzw. wirksame Zustellung bestritten. Er hat sich dagegen nicht gegen die Art und Weise
der Zwangsvollstreckung zur Wehr gesetzt. In zutreffender Würdigung des Klägervorbringens ist das SG deshalb von einer ausschließlich gegen den geltend gemachten Anspruch "an sich" gerichteten Klage ausgegangen und hat zu
Recht auch nur hierüber entschieden.
Die Zulässigkeit der deshalb erstmals im Berufungsverfahren erfolgten Klageänderung beurteilt sich nach §
99 SGG, welcher gemäß §
153 Abs.
1 SGG auch im Berufungsverfahren Anwendung findet. Danach ist eine Änderung der Klage nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten
einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Inwieweit diese Voraussetzungen vorliegend gegeben sind,
kann dahingestellt bleiben. Denn die geänderte Klage war unzulässig. Eine wirksame Klageänderung ersetzt nicht die für die
Zulässigkeit der geänderten Klage erforderlichen, ggf. fehlenden Prozessvoraussetzungen. Diese müssen vielmehr in jeder Lage
des Verfahrens gegeben sein und stehen nicht zur Disposition der Beteiligten bzw. des Gerichts (BSG, Urteil vom 18.03.2015, B 2 U 8/13 R, juris). Zu den Sachurteilsvoraussetzungen zählt auch die funktionelle (instanzielle) Zuständigkeit des angerufenen Gerichts,
an der es hier fehlt. Für eine Entscheidung über die erstmals im Berufungsverfahren geltend gemachten Ansprüche war das LSG
Baden-Württemberg auch nicht ausnahmsweise als erstinstanzliches Gericht zuständig (vgl. §
29 SGG), sodass insoweit die Klage unzulässig ist (BSG, Urteile vom 31.07.2002, B 4 RA 20/01 R sowie vom 23.04.2015, B 5 RE 23/14 R, beide in juris).
Hierdurch wird der Kläger auch nicht in der Ausübung seiner Rechte unzumutbar beschränkt. Der Beklagte wird zu prüfen haben,
ob in dem klägerischen Schreiben vom 12.07.2017 zugleich auch ein Widerspruch gegen den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss
vom 22.05.2017 - bei dem es sich um einen Verwaltungsakt im Rahmen der Zwangsvollstreckung handelt - enthalten ist, über den
mit Widerspruchsbescheid zu entscheiden ist und gegen den wiederum die Anfechtungsklage gemäß §
42 VwGO bei den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit zulässig ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.