Tatbestand:
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger (Kl.) einen höheren Grad der Behinderung (GdB) als 60 und das Merkzeichen G hat.
Der 1965 geborene Kl. beantragte am 13.09.2006 die Feststellung einer Behinderung und deren Grades nach dem
Sozialgesetzbuch IX (
SGB IX). Mit Bescheid vom 16.03.2007 stellte der Beklagte (Bekl.) einen GdB von 40 fest. Es liege nur eine einzige Gesundheitsstörung
vor, nämlich eine Funktionsbehinderung des Schultergelenkes rechts verbunden mit einem chronischen Schmerzsyndrom.
Dem dagegen am 26.03.2007 eingelegten Widerspruch des Kl. half der Bekl. am 21.05.2007 teilweise ab, indem er einen GdB von
50 anerkannte und diesen mit folgenden Gesundheitsstörungen begründete:
1. Seelische Störung mit chronifiziertem Schmerzsyndrom, psychotherapeutisch behandelt, Einzel-GdB: 40
2. Funktionsbehinderung des Schultergelenks rechts, Einzel-GdB: 30
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G lägen nicht vor.
Im Übrigen wies der Bekl. den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.10.2007 zurück. In der Begründung wurde der Einzel-GdB
für die seelische Störung - einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 01.06.2007 folgend - von 40 auf 30 korrigiert.
Am 23.10.2007 erhob der Kl. dagegen bei dem Beklagten "Einspruch" und teilte am 02.11.2007 mit, dass er wünsche, dass dieses
Schreiben als Klageschrift an das Sozialgericht weitergeleitet werden.
Das Sozialgericht München (SG) hat den Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. D. zum Sachverständigen ernannt, der in seinem Gutachten vom 22.01.2008 eine beginnende
Schwerhörigkeit links diagnostizierte, die mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sei, der sich auf den Gesamt-GdB nicht
auswirke. Eine Gleichgewichtsstörung habe nicht objektiviert werden können.
Weiter hat das SG ein Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr. F. eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 16.07.2008 festgestellt,
dass die Funktionsbehinderung der rechten Schulter mit einem Einzel-GdB von 30 so hoch eingestuft sei, wie wenn die Schulter
vollständig versteift wäre. Ein darüber hinausgehender GdB sei mit den Anhaltspunkten 2008 nicht zu vereinbaren, da trotz
heftigster Schmerzäußerungen und Gegenspannungen noch Bewegungen im rechten Schultergelenk ausgeführt werden könnten, immerhin
aktiv eine Armhebung zur Seite bis 100°. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB komme deshalb nicht in Betracht.
Schließlich hat das Gericht den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. zum Sachverständigen bestimmt, der in seinem Gutachten
vom 04.03.2009 zu dem Schluss gekommen ist, dass die Einstufung mit einem Gesamt-GdB von 50 bereits hoch erscheine, wobei
folgende Gesundheitsstörungen vorlägen:
1. Persönlichkeitsstörung, Einzel-GdB: 30
Dazu führt der Sachverständige aus, in diagnostischer Hinsicht stehe die Persönlichkeitsstörung des Klägers im Vordergrund,
die geprägt sei durch eine gewisse emotionale Instabilität, zum Teil anankastisch querulatorische Züge sowie eine verminderte
Impulskontrolle. Es handle sich dabei nicht um eine psychische Erkrankung im engeren Sinne, sondern um einen wohl primärpersönlich
angelegten Wesenszug, der allerdings aufgrund seiner Ausprägung einen gewissen Krankheitswert habe. Eine wesentliche Minderung
der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit gehe davon nicht aus. Der Kl. sei nach seinen eigenen Angaben viel unterwegs, verbringe
die Vormittage üblicherweise in der M. Innenstadt, wo er spazieren gehe. Er lese viel, höre Musik, schaue TV, fahre in seiner
Freizeit mitunter mit dem Rad oder mache Dauerläufe. Der Kl. lebe nach eigenen Angaben in einer sehr harmonischen Partnerbeziehung,
so dass weder von einer wesentlichen Minderung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit auszugehen sei, noch von einer sozialen
Desintegration. Von nervenärztlicher Seite erscheine deshalb der versorgungsamtlicherseits bereits bekannte Einzel-GdB von
30 als bereits relativ hoch bemessen.
2. LWS-Syndrom, Einzel-GdB: 20
3. chronifizierte Spannungskopfschmerzen, kein messbarer Einzel-GdB
Alle drei Gutachter haben feststellt, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens G nicht vorlägen.
Der Kläger hat vor dem SG die Feststellung eines höheren GdB sowie die Zuerkennung des Merkzeichens G beantragt.
Durch Gerichtsbescheid vom 06.04.2009 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen und zur Begründung auf die eingeholten Sachverständigengutachten verwiesen.
Gegen den ihm am 15.04.2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kl. am 15.04.2009 beim Bayerischen Landessozialgericht Berufung
eingelegt.
Nachdem sich der Kl. zwei Bandscheibenoperationen unterzogen und deshalb am 18.07.2009 bei dem Bekl. einen Neufeststellungsantrag
gestellt hatte, hat der Bekl. mit Bescheid vom 10.11.2009 rückwirkend zum 18.07.2009 einen GdB von 60 festgestellt bei folgenden
Gesundheitsstörungen:
1. Seelische Störung mit chronifiziertem Schmerzsyndrom, psychotherapeutisch behandelt, Einzel-GdB: 40
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule, muskuläre Verspannungen,
Bandscheibenschäden, operierte Lendenbandscheibe, Nervenwurzelreizerscheinungen, Einzel-GdB: 30
3. Funktionsbehinderung beider Schultergelenke bei Schulter-Armsyndrom, Periarthritis, Einzel-GdB: 30
Ferner hat der Bekl. in dem Bescheid festgestellt, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht vorlägen.
Im Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kl. das Attest seines behandelnden Psychiaters und Neurologen Dr. E.
vom 02.02.2010 vorgelegt, in dem dieser bescheinigt, dass sich der Kläger seit Juli 2008 in seiner regelmäßigen ambulanten
psychiatrischen Behandlung befinde. Diagnostisch lägen eine schwere chronische psychische Erkrankung mit Persönlichkeitsstörung,
rezidivierender ängstlich-depressiver Symptomatik sowie ein chronisches Schmerzsyndrom vor. Krankheitsbedingt sei dem Kl.
die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich.
Der Senat hat ein Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr. G. vom 18.06.2010 eingeholt, in dem dieser die bisherige Einstufung
durch die Verwaltung bestätigte. Aus orthopädischer Sicht seien folgende Gesundheitsstörungen festzustellen:
1. Schultereckgelenksarthrose rechts und Impingement-Syndrom posttraumatisch - Einzel-GdB 30
2. degeneratives Wirbelsäulensyndrom mit lumbal betonten Bandscheibenschäden. Zustand nach Bandscheibenoperation L 4/5 am
14.04.2008. Residuelle schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule. - Einzel-GdB 30
3. Ausschluss leistungsmindernder Hüft- und Kniegelenksarthrosen beiderseits - Einzel-GdB weniger als 10
Die Voraussetzungen des Merkzeichens G hat der Sachverständige verneint. Der Kl. gebe an, seit ca. 10 Monaten unter rezidivierenden
Bewusstlosigkeiten zu leiden, deshalb nicht mehr Auto fahren und öffentliche Verkehrsmittel nur in Begleitung benutzen zu
können; insoweit werde eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung in das Ermessen des Gerichts gestellt.
Auf die Aufforderung des Senats vom 01.07.2010 hin, der Kl. möge mitteilen, in welcher Häufigkeit und welcher Intensität die
Bewusstlosigkeiten auftreten und wie sie behandelt werden (z. B. Notarzteinsatz), hat er mit Schreiben vom 05.07.2010 lediglich
geantwortet: "Ich habe Ihnen gesagt, dass ich gar kein öffentliches Verkehrsmittel fahren darf laut Attest meines Neurologen
Dr. E ..."
Das Gericht hat den behandelnden Psychiater und Neurologen des Kl. Dr. E., zu den angeblichen Bewusstseinsstörungen befragt.
Dr. E. hat darauf am 27.07.2010 geantwortet, der Kl. habe die plötzlichen Bewusstseinsstörungen mehrfach geschildert, mit
nicht genau angegebener Häufigkeit. Die Ursache dieser Bewusstseinsstörungen sei noch nicht geklärt, die neurologische Diagnostik
mit klinisch-neurologischer Untersuchung und EEG habe keine pathologischen Befunde erbracht. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihm aus psychiatrischen Gründen
nicht möglich, bei erheblicher Phobie und wiederholten Erregungszuständen in der S-Bahn. Die Teilnahme am Straßenverkehr (Steuerung
von Kfz) sei sowohl aus psychiatrischen Gründen als auch wegen der Bewusstseinsverluste bis auf Weiteres nicht möglich.
Als psychiatrische Diagnosen seien festzustellen: Kombinierte Persönlichkeitsstörung (ICD 10: F 61), rezidivierende depressive
Störung mit somatischem Syndrom (ICD 10: F 33.11), somatoforme Störung, insbesondere Schmerzstörung (ICD 10: F 45.1).
Der Sachverständige Dr. F. hat dazu in der ergänzenden Stellungnahme vom 02.09.2010 mitgeteilt, die Diagnose einer rezidivierenden
depressiven Störung mit somatischem Syndrom lasse sich zumindest unter Berücksichtigung des von ihm erhobenen Befundes nicht
belegen. Hinweise auf eine höhergradige Störung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit hätten sich im Rahmen der bei ihm durchgeführten
Untersuchungen nicht ergeben. Dr. E. habe dem Kl. attestiert, dass er aus psychischen Gründen nicht dazu in der Lage sei,
öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Was mit "psychischen Gründen" gemeint sei, habe er allerdings nicht mitgeteilt. Die
von ihm erwähnte depressive Störung stelle keinen Hinderungsgrund für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel dar. Hinderlich
seien in aller Regel phobische Störungen, wie eine Klaustrophobie beziehungsweise eine Agoraphobie. Eine solche habe Dr. E.
nicht beschrieben, noch sei sie von Seiten des Kl. im Rahmen der von Dr. F. durchgeführten Untersuchung erwähnt, sondern erst
in einem Schreiben vom 09.08.2010 nachgereicht worden. Sollte eine derartige Störung bei dem Kl. vorliegen, so würde man (wie
auch bei einer depressiven Störung von Belang) eine thymoleptische oder anxiolytische Behandlung erwarten. Dass der Kläger
eine solche Behandlung - wie er bei ihm angegeben habe - nicht durchführe, werfe ein Licht auf den Ausprägungsgrad einer derartigen
Affektstörung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 06.04.2009 aufzuheben und den Beklagten unter teilweiser Aufhebung seiner Bescheide
vom 16.03.2007 und 21.05.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2007 und des weiteren Änderungsbescheides vom
10.11.2009 zu verurteilen, bei ihm einen Grad der Behinderung von mehr als 60 sowie die Voraussetzungen des Merkzeichens G
seit dem 13.09.2006 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte des Beklagten verwiesen.
Die Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen.
Der Kl. hat weder Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 60 noch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen
des Merkzeichens G.
anhaftete. Soweit sich aus den Anhaltspunkten gegenüber der Versorgungsmedizin-Verordnung keine Besonderheiten ergeben, wird
daher im Folgenden ausschließlich Letztere zitiert, auch soweit Zeitabschnitte vor dem 01.01.2009 betroffen sein sollten.
Alle drei in erster Instanz eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten haben einen GdB von 50 bestätigt. Im Hinblick
auf die während des Berufungsverfahrens durchgeführten Bandscheibenoperationen hat der Bekl. eine Erhöhung des GdB von 50
auf 60 vorgenommen. Das hierzu vom Gericht eingeholte zweite orthopädische Sachverständigengutachten von Dr. G. hat die Richtigkeit
dieser Einstufung bestätigt.
Die psychische Störung wurde vom Bekl. mit einem Einzel-GdB von 40 nicht zu gering bewertet. Nach dem Gutachten des Sachverständigen
Dr. F. vom 04.03.2009 liegt eine Persönlichkeitsstörung vor, die mit keiner wesentlichen Minderung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
verbunden ist, so dass nach Teil B 3.7 Versorgungsmedizinische Grundsätze nur ein Rahmen von 0 bis 20 für den GdB eröffnet
ist. Dass der Kl. an keiner wesentlichen Minderung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit leidet, hat der Sachverständige
im Gutachten anhand der Lebensgestaltung des Kl. geschildert. Die von Dr. E. in seinem Attest vom 02.02.2010 mitgeteilte Diagnose
einer schweren chronischen psychischen Erkrankung - die nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen einen GdB von 50 aufwärts
rechtfertigen könnte und die Dr. E. in seinem Befundbericht vom 27.07.2010 weiter präzisiert hat - hat der Sachverständige
Dr. F. in seiner Stellungnahme vom 02.09.2010 nachvollziehbar widerlegt. Dr. F. bestätigt zwar eine Persönlichkeitsstörung,
nicht aber die von Dr. E. festgestellte rezidivierende depressive Störung mit somatischem Syndrom. Er konnte bei seiner Untersuchung
keine depressive Störung im engeren Sinne feststellen. Weder den Angaben des Kl. noch den Gerichtsakten waren eindeutige Anhaltspunkte
für eine rezidivierende depressive Störung zu entnehmen. Dr. F. verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass eine höhergradige
Störung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ausgeschlossen werden konnte. Die psychischen Auffälligkeiten ergeben sich
im Wesentlichen aus der Persönlichkeitsstörung des Kl., die mit einem Einzel-GdB von 30 angemessen bewertet ist.