Anspruch auf häusliche Krankenpflege der gesetzlichen Krankenversicherung bei Übernahme der Behandlungspflege zur Beatmung
einer querschnittsgelähmten Versicherten
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung weiterer Kosten häuslicher Krankenpflege streitig.
Der Kläger ist Erbe der während des Sozialgerichtsverfahrens am 22.07.2007 verstorbenen Versicherten. Diese litt an Abszessen
in der Halswirbelsäule und war daher seit Februar 2005 vollständig gelähmt. Im Vorfeld der Entlassung aus der stationären
Versorgung und nach Prüfung durch den Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) auf Grundlage eines Kostenvoranschlags
des Pflegedienstes traf die beklagte Krankenkasse am 07.10.2005 eine vorläufige Regelung über die Leistungen der häuslichen
Krankenpflege. Hiernach erklärte sich die Beklagte bereit, diese Kosten im Umfang von täglich 20 Stunden zu übernehmen. Daneben
bestehe ein Anspruch nach Pflegestufe III für den grundpflegerischen Bedarf, wobei diese Leistung der Pflegeversicherung gedeckelt
sei und daher nicht ausgeschlossen werden könne, dass eine Eigenbeteiligung - ggfs. unter Einbeziehung der Sozialhilfe - verbleibe.
Gegen die Begrenzung der Behandlungspflege auf 20 Stunden erhob die Versicherte am 18.10.2005 Widerspruch und beantragte am
14.11.2005 beim Sozialgericht Bayreuth (SG) einstweiligen Rechtsschutz. Hierbei wurde vorgetragen, dass nach der von der Beklagten durchgeführten Berechnung eine Eigenbeteiligung
von täglich 126,00 Euro, also monatlich 3.780,00 Euro, für die vier nicht übernommenen Pflegestunden verbliebe. Am 17.11.2005
erfolgte die Entlassung aus der stationären in die häusliche Versorgung.
Nachdem das SG zunächst mit Beschluss vom 02.12.2005 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen hatte, verpflichtete
der erkennende Senat mit Beschluss vom 16.02.2006 die Kasse zur Übernahme der Kosten häuslicher Krankenpflege im Umfang von
täglich 24 Stunden ab dem 01.01.2006 (AZ: L 4 B 48/06 KR ER).
Bereits am 23.12.2005 hatte der MDK endgültig die Pflegestufe III bei der Versicherten festgestellt und die Pflegezeiten wie
folgt verteilt: 20 Stunden Behandlungspflege, 1,5 Stunden Pflegeversicherung für den Maximalbetrag der Pflegestufe III (1.432,00
Euro). Der Rest der Pflege werde von Sohn und Pflegedienst auf Grundlage privater Abrechnung übernommen werden. Eine Beteiligung
des Ehemanns an der Versorgung scheide aus, da dieser selbst schwerstpflegebedürftig sei (Pflegestufe III). Die Beklagte setzte
daraufhin am 17.01.2006 endgültig den Anteil der Behandlungspflege mit 20 Stunden fest. Hiergegen wurde am 14.02.2006 wiederum
Widerspruch erhoben, der mit Widerspruchsbescheid vom 04.05.2006 zurückgewiesen wurde.
Am 19.05.2006 erhob der Bevollmächtigte der Klägerin Klage zum SG und beantragte, die Klägerin von den Rechnungen des Pflegedienstes für die Monate Dezember 2005 (1.214,00 Euro) und Januar
2006 (1.340,00 Euro) freizustellen. Ab dem Monat Februar habe die Beklagte ihre Leistungspflicht aufgrund der einstweiligen
Anordnung erfüllt. Das SG beauftragte darauf Herrn Dr. H. mit der Begutachtung der Versicherten. In seinem Gutachten vom 08.01.2007 nach persönlicher
Untersuchung der Klägerin ermittelte der Sachverständige die Voraussetzungen der Pflegestufe III mit einem Grundpflegebedarf
von insgesamt 248 Minuten. Weiter führte er aus, dass seit dem 17.11.2005 Krankenbeobachtung im Umfang von 24 Stunden täglich
erforderlich sei, da es jederzeit zu einer lebensbedrohlichen Situation kommen könne. Die Beatmung werde durchgehend 24 Stunden
über ein Tracheostoma, das ca. 15-mal täglich abgesaugt werden müsse, sichergestellt; Blasenentleerung erfolge über einen
Katheter, die Medikamentenversorgung mittels einer PEG-Sonde. Die hauswirtschaftliche Versorgung werde überwiegend von der Familie der Versicherten übernommen. Am 22.07.2007 verstarb
die Versicherte. Sie wurde laut Erbvertrag vom 29.07.1975 von ihrem Ehemann beerbt, der das Verfahren als Rechtsnachfolger
fortführte.
Mit Gerichtsbescheid vom 17.12.2007 wies das SG die Klage auf Kostenerstattung ab. Der Anspruch der Versicherten auf Behandlungspflege sei auf 20 Stunden täglich begrenzt,
da nach der Rechtsprechung des BSG davon auszugehen sei, dass - soweit Zeiten der Krankenbeobachtung und Grundpflege bzw.
hauswirtschaftliche Versorgung zusammenträfen - die Behandlungspflege in den Hintergrund trete. Der vom Sachverständigen ermittelte
Grundpflegebedarf von 248 Minuten sei daher vom Gesamtzeitbedarf (24 Stunden) abzuziehen.
Mit der Berufung vom 21.01.2008 führt der Bevollmächtigte des Klägers sein Begehren für den Kläger fort. Unter Bezugnahme
auf das SG-Verfahren wird vorgetragen, dass die Versicherte Anspruch auf häusliche Krankenpflege im Umfang der ärztlichen Verordnung
gehabt habe. Gemäß §
13 Abs.
2 SGB XI blieben die Leistungen der Krankenpflege nach §
37 SGB V beim Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung unberührt. Es sei damit der volle Anspruch der Klägerin nach §
37 SGB V von der Beklagten zu erfüllen. Auf einen etwaigen Anspruch gegenüber der Pflegeversicherung käme es nicht an.
In der mündlichen Verhandlung vom 14.01.2010 beantragt der Klägervertreter, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth
vom 17.12.2007 aufzuheben und die zugrunde liegenden Bescheide der Beklagten vom 07.10.2005 und 17.01.2006 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 04.05.2006 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, in den Nachlass der Versicherten A. A.
1.214,00 Euro (Behandlungskosten für Dezember 2005) zu zahlen und festzustellen, dass die von der Beklagten aufgrund des Beschlusses
des 4. Senats BayLSG vom 16.02.2006 geleistete Zahlung an den Pflegedienst zu Recht erfolgte.
Die Vertreterin der Beklagten beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verweist auf ihr Vorbringen in der Vorinstanz sowie die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des SG Bayreuth
vom 17.12.2005.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen Akten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§
151,
153 SGG) ist zulässig und begründet, da die Beklagte die pflegerische Versorgung in vollem Umfang, d.h. ohne eine finanzielle Eigenbeteiligung
der Versicherten, sicherzustellen hatte.
Der Erstattungsantrag ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, 4
SGB V statthaft. Die Zulässigkeit des Feststellungsantrags ergibt sich aus §
55 Abs.
1 Ziffer 1
SGB V, da die Leistungspflicht der Beklagten ein zwischen den Beteiligten bestehendes Rechtsverhältnis betrifft. Das Feststellungsinteresse
folgt aus den möglichen Ansprüchen der Beklagten auf Rückerstattung der im Rahmen des Eilverfahrens gewährten Leistungen.
Da die Beklagte auf Grundlage einer einstweiligen Anordndung ab Januar 2006 die Kosten in voller Höhe nur vorläufig getragen
hatte, wäre der Kläger ggfs. verpflichtet, diese Leistung an die Beklagte zurückzuzahlen.
Der Zahlungs- bzw. Leistungsanspruch ergibt sich §
13 Abs.
3 iVm §
37 Abs.
2 SGB V.
Die Versicherte erhielt aufgrund ihrer schweren Erkrankung sowohl Sachleistungen der Pflegeversicherung für Grundpflege und
hauswirtschaftliche Versorgung (Pflegestufe III) als auch häusliche Krankenpflege in Form der sog. Behandlungssicherungspflege
(§
37 Abs.
2 Satz 1
SGB V). Da letztere durchgehend 24 Stunden lang erfolgen musste, ist das Verhältnis und die anteilige Zuordnung beider Leistungen
zu klären. Die einschlägigen gesetzlichen Regelungen sehen hierzu vor, dass Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen
Versorgung durch die Krankenkasse nach dem Eintritt der Pflegebedürftigkeit nicht mehr stattfinden (§
37 Abs.
2 Satz 4
SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 26.05.1994, BGBl. I S. 1014, jetzt: §
37 Abs.
2 Satz 6
SGB V). Soweit solche Maßnahmen vorher durch die Krankenkasse übernommen worden sind, wechselt die Zuständigkeit dann auf die Pflegeversicherung
über. Für den Anspruch auf Leistungen der häuslichen Krankenpflege regelt §
13 Abs.
2 SGB XI, dass diese durch die Leistungen der Pflegeversicherung unberührt bleiben.
Im vorliegenden Fall war Behandlungssicherungspflege in Umfang von 24 Stunden in Form der Bedienung und Überwachung des Beatmungsgeräts,
der speziellen Krankenbeobachtung, des Absaugens der oberen Luftwege sowie der Pflege und des Wechselns der Trachealkanüle
vertragsärztlich verordnet worden. Diese Verordnungen werden auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen, da unstrittig
ist, dass bei der Versicherten jederzeit mit einer lebensbedrohlichen Situation gerechnet werden musste und daher auch eine
Beobachtung der Vitalfunktionen rund um die Uhr zu erfolgen hatte. Damit wird auch deutlich, dass sämtliche Leistungen der
Grundpflege, wie etwa die Körperpflege oder Ernährung der Versicherten, nur unter gleichzeitiger Kontrolle der Beatmung durchgeführt
werden konnten und sogar abgebrochen werden mussten, wenn etwa wegen Aussetzens der Atmung unverzüglich Notfallmaßnahmen zu
ergreifen waren. Hieraus folgt, dass die über 24 Stunden verordnete Behandlungspflege als Leistung der Krankenversicherung
nicht durch die von der Pflegekasse erbrachte Grundpflege beschränkt werden kann (§
13 Abs.
2 SGB XI).
Eine solche Beschränkung ergibt sich nach Ansicht des Senats auch nicht aus den weiteren gesetzlichen Regelungen bzw. der
von der Beklagten angeführten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Es trifft zwar zu, dass das BSG in ständiger
Rechtsprechung entschieden hat, dass Maßnahmen der Behandlungspflege regelmäßig hinter die Grundpflege zurücktreten (vgl.
Urteil des BSG vom 28.01.1999, SozR 3-2500 § 37 Nr. 1). Daraus wurde für Maßnahmen der Behandlungspflege, die entweder untrennbarer
Bestandteil einer Katalogverrichtung des
SGB XI sind oder die mit einer solchen Verrichtung in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehen, geschlossen,
dass diese insoweit nicht in die Leistungspflicht der Krankenkasse fallen. Es erfolgte - wie im vorliegenden Fall - eine Kürzung
des Anteils der Behandlungspflege.
Für den hier streitgegenständlichen Sachverhalt ist dies aber (nicht mehr) gerechtfertigt. Die hier verordnete speziellen
Krankenbeobachtung (Ziffer 24 des Leistungsverzeichnisses der Richtlinie zur Häuslichen Krankenpflege gemäß §
92 Abs. I Satz 2 Nr. 6, Abs. VII
SGB V) stellt keine verrichtungsbezogene Maßnahme dar, da eine solche Leistung zur Aufrechterhaltung der Beatmung und des Körperkreislaufs
im Rahmen der Grundpflege des §
14 SGB XI nicht vorgesehen ist. Auch sah sich der Gesetzgeber vor dem Hintergrund der o.g. genannten Rechtsprechung des BSG veranlasst,
die gesetzlichen Regelungen für die verrichtungsbezogenen Maßnahmen mehrmals anzupassen. Für den hier zu behandelnden Zeitraum
Dezember 2005 bis Juli 2007 liegen daher unterschiedliche gesetzliche Regelungen des §
37 Abs.
2 SGB V vor: In der bis zum 31.03.2007 geltenden Fassung des §
37 Abs.
2 SGB V (Gesetz vom 14.11.2003, BGBl I S. 2190) wurde bestimmt, dass das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse II auch als Maßnahme der Behandlungspflege
zu werten ist, obwohl bereits eine Berücksichtigung der Verrichtung "An- und Auskleiden" bei der Feststellung des Grundpflegebedarfs
(vgl. §
14 Abs.
4 Ziffer 3
SGB XI) erfolgt war. Mit Urteil vom 17.03.2005 (Az.: B 3 KR 9/04 R, SozR 4-2500 § 37 Nr. 3) entschied das BSG allerdings, dass die Beschränkung auf das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen
rechtlichen Bedenken begegnet und eine verfassungskonforme Auslegung erfordert. Danach erscheine diese Regelung unter dem
Aspekt des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art.
3 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) bedenklich, weil sie für den zwar relativ häufig auftretenden, in seiner Bedeutung für den Pflegebedürftigen aber als vergleichsweise
weniger gravierend einzuschätzenden Fall des Tragens von Kompressionsstrümpfen eine Sonderregelung geschaffen habe, nicht
aber für die wesentlich schwerwiegenderen Fälle der Behandlungspflege zur Aufrechterhaltung von Grund- bzw. Vitalfunktionen
(Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel). Vom Gesetzgeber wurde sodann mit Wirkung von 01.07.2007 (Gesetz vom 26.03.2007, BGBl. I,
S. 378) die Vorschrift des §
37 Abs.
2 Satz 1 und
2 SGB V neu gefasst. Versicherte erhalten danach in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere
in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen
als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Zieles der ärztlichen Behandlung erforderlich
ist; der Anspruch umfasst verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf
bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§
14 und
15 SGB XI zu berücksichtigen ist. Entsprechend wurde §
15 SGB XI ergänzt um die Regelung, dass bei der Feststellung des Grundpflegebedarfs ein Zeitaufwand für verrichtungsbezogene Pflegemaßnahmen
zu berücksichtigen ist. Dies gilt auch dann, wenn der Hilfebedarf zu Leistungen nach dem
SGB V führt (Abs. 3). Seitdem besteht für diese besonderen Leistungen grundsätzlich also ein doppelter Anspruch gegenüber der Kranken-
und Pflegeversicherung. Anderes gilt aber im vorliegenden Fall, bei dem es - wie oben geschildert- keine Überschneidung gibt.
Daraus folgt, dass die notwendigen Behandlungsmaßnahmen keinen pflegerischen Inhalt haben und daher nicht auf die Grundpflege
abgewälzt werden können.
Vor dem Hintergrund dieser Rechtsentwicklung und des besonderen Sachverhaltes besteht im Ergebnis kein Grund, beim Anspruch
des Klägers gegenüber der Beklagten auf häusliche Krankenpflege einen Zeitabzug für Maßnahmen der Grundpflege vorzunehmen.
Auch scheidet, wie von der Beklagten richtig erkannt, eine Eigenbeteiligung der Angehörigen gemäß §
37 Abs.
3 SGB V aus, weil der im Haushalt lebende Ehemann der Versicherten selbst schwerstpflegebedürftig war und seine Ehefrau nicht betreuen
konnte.
Die Beklagte hat dem Kläger daher die geltend gemachten Kosten für Dezember 2005 (1.214 Euro) zu erstatten. Im Übrigen war
die Beklagte auch verpflichtet, bis zum Tod der Versicherten die Behandlungspflege in vollem Umfang sicherzustellen. Ein Rückforderungsanspruch
gegenüber dem Kläger für die vorläufig gezahlten Kosten besteht nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.