Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung des Verfahrensmangels einer Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör; Erfordernis einer erneuten Anhörung
Gründe:
I
Die beklagte Krankenkasse stellte im Jahr 2006 auf Antrag der 1958 geborenen Beigeladenen zu 1. durch Bescheid fest, dass
Letztere seit 1.7.1983 in ihrer Erwerbstätigkeit in der - gemeinsam mit ihrem Ehemann (Beigeladener zu 2.) betriebenen - Fleischerei
nicht sozialversicherungspflichtig sei. Die klagende Rentenversicherungsträgerin ist dagegen beim SG insoweit erfolgreich vorgegangen, als der Bescheid in Bezug auf die verneinte Rentenversicherungspflicht aufgehoben wurde,
weil die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung überwögen und keine familienhafte Mithilfe vorliege: Die Beigeladene zu 1.
erhalte als Gegenwert für ihre Arbeit ein garantiertes monatliches Entgelt, das als Betriebsausgabe verbucht und als lohnsteuerpflichtig
behandelt werde. Die in den Betrieb des Beigeladenen zu 2. eingegliederte Beigeladene zu 1. trage trotz Leistung von Sicherheiten
für Verbindlichkeiten des Beigeladenen zu 2. kein Unternehmerrisiko; eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts bestehe nicht.
Die Arbeit sei nicht selbstbestimmt; das Weisungsrecht unter Ehegatten werde nahezu stets nur mit Einschränkungen ausgeübt
(Urteil vom 11.3.2008).
Die Beigeladene zu 1. hat zur Begründung ihrer dagegen eingelegten Berufung vorgetragen, das Entgelt (2180 Euro bei mindestens
70 Wochenstunden Arbeitszeit) bleibe deutlich hinter demjenigen einer Fleischereifachverkäuferin zurück. Privatentnahmen aus
dem Betrieb würden nicht getätigt. Bei Bedarf habe sie Ersparnisse in den Betrieb fließen lassen. Zwischen ihr und dem Beigeladenen
zu 2. bestehe eine getrennte eigenverantwortliche Aufgabenverteilung; sie habe bezüglich des Verkaufspersonals alleinige Personalgewalt.
Frühere Angaben seien wegen fehlender anwaltlicher Vertretung in verschiedener Hinsicht fehlerhaft bzw missdeutet worden;
so sei die Fleischerei von ihren (der Beigeladenen zu 1.) Eltern, nicht denjenigen ihres Ehemannes übernommen worden.
Nach von der Beigeladenen zu 1. verweigerter Zustimmung zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durch den
Berichterstatter hat das LSG die Beteiligten mit Verfügung vom 3.5.2010 auf die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss
nach §
153 Abs
4 SGG hingewiesen, ua weil die angefochtene Entscheidung dem "geltenden Recht entsprechen dürfte" und nicht ersichtlich sei, was
eine mündliche Verhandlung an neuen Gesichtspunkten ergeben könne. Hierzu hat die Beigeladene zu 1. mit Schriftsätzen vom
14.6.2010 (14 Seiten zzgl 16 Seiten Anlagen) und 21.6.2010 Stellung genommen und der Entscheidung durch Beschluss ua deshalb
widersprochen, weil sich das LSG durch - im Einzelnen aufgezeigte - nötige Beweiserhebungen und Anhörung der Beigeladenen
in der mündlichen Verhandlung ein eigenes Bild von den konkreten Verhältnissen machen müsse.
Das LSG hat die Berufung anschließend ohne weitere Ermittlungen und Hinweise an die Beteiligten nach §
153 Abs
4 SGG mit Beschluss vom 23.8.2010 zurückgewiesen: Bei Anwendung der Grundsätze aus der Rechtsprechung des BSG zur Abgrenzung von
abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit seien eine Beweisaufnahme und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich.
Auf die zutreffenden Darlegungen des SG werde Bezug genommen, insbesondere zum gelebten Arbeitsverhältnis, zum fehlenden Unternehmensrisiko sowie zur Anmietung des
Betriebsgrundstücks. Trotz der auch für eine abhängige Beschäftigung sprechenden Umstände sei ausschlaggebend, dass die Beigeladene
zu 1. in den Betrieb des Beigeladenen zu 2. eingegliedert sei und diesem diene; der Beigeladene zu 2. besitze die Rechtsmacht,
ihr jederzeit Weisungen zu erteilen. Es könne ohne Beweisaufnahme als wahr unterstellt werden, dass tatsächlich Weisungen
nicht erteilt worden seien, weil sich dadurch am Ergebnis nichts ändere. Die Beigeladene zu 1. habe einen sonst anzustellenden
Arbeitnehmer ersetzt; jahrelang sei auch gegenüber Arbeitsamt und Steuerbehörden von sozialversicherungs- bzw lohnsteuerpflichtiger
Beschäftigung ausgegangen worden.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich die Beigeladene zu 1. gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Beschluss
und rügt ua die Verletzung des §
153 Abs
4 SGG. Das LSG habe wegen des verweigerten Einverständnisses mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durch
den Berichterstatter und somit aus sachfremden Erwägungen sowie in grober Fehleinschätzung durch Beschluss entschieden. Im
Schriftsatz vom 14.6.2010 sei unter Hinweis auf fehlende Sachverhaltsaufklärung und Entscheidungsreife ausdrücklich die Durchführung
der mündlichen Verhandlung beantragt worden. Damit habe sich das LSG nicht auseinandergesetzt und eine erforderliche erneute
Anhörung unterlassen. Durch sein Vorgehen sei das LSG unvorschriftsmäßig besetzt gewesen. Gleichzeitig seien ihr rechtliches
Gehör, die Amtsermittlungspflicht und der Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens verletzt worden.
II
Die zulässige Beschwerde der Beigeladenen zu 1. gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG ist begründet.
Der Beschluss ist verfahrensfehlerhaft, aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen (§
160a Abs
5 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 SGG).
Die Beigeladene zu 1. rügt formgerecht (vgl §
160a Abs
2 Satz 3
SGG) und im Ergebnis zutreffend als Verfahrensfehler die Verletzung des §
153 Abs
4 Satz 2
SGG (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG). Die Beigeladene zu 1. beanstandet jedenfalls mit Recht, dass das LSG sie vor der Beschlussfassung über die Berufung nicht
in der gesetzlich gebotenen Weise angehört hat.
Gemäß §
153 Abs
4 Satz 1
SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht nach §
153 Abs
4 Satz 2
SGG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art
103 Abs
1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (vgl BSG SozR 4-1500 §
153 Nr 5 RdNr 5; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN). Zwar hat das LSG die Beteiligten mit Verfügung vom 3.5.2010 zur Möglichkeit
einer Entscheidung durch Beschluss nach §
153 Abs
4 SGG angehört und hat sich die Beigeladene zu 1. dazu geäußert. Gleichwohl hat das LSG hier die Berufung nach §
153 Abs
4 SGG mit seinem Beschluss vom 23.8.2010 verfahrensfehlerhaft zurückgewiesen. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist nämlich
eine erneute Anhörung gemäß §
153 Abs
4 Satz 2
SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl zB: BSG
Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; BSG SozR 3-1500 §
153 Nr 4 S 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl 2008, §
153 RdNr 20, 20a mwN). Eine neue Anhörung ist daher zB dann erforderlich, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substanziiert
neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, bzw wenn er einen Beweisantrag stellt oder
die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind. Das LSG muss den Beteiligten dann vor der
Beschlussfassung erneut Gelegenheit zur Stellungnahme geben und sie darauf hinweisen, dass das Gericht dem neuen Vorbringen,
insbesondere Beweisanträgen, nicht zu folgen beabsichtigt, sondern am Verfahren nach §
153 Abs
4 Satz 1
SGG festhält (vgl BSG SozR 4-1500 §
153 Nr
1 Leitsatz 2 und RdNr 6 f; Keller, aaO, § 153 RdNr 20a).
Vorliegend hat die Beigeladene zu 1. auf die Anhörungsmitteilung des LSG ausführlich dargelegt, dass und weshalb ihre Erwerbstätigkeit
aus Rechtsgründen und nach dem ggf weiter aufzuklärenden Sachverhalt nicht dem Typus einer abhängigen Beschäftigung entspreche.
Sie hat die hierzu in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Anhaltspunkte konkret in vielerlei Hinsicht zu widerlegen gesucht:
Sie sei keinen Weisungen des Beigeladen zu 2. unterworfen, habe die Betriebsräume gemeinsam mit ihm angemietet und arbeite
somit nicht in einer "fremden" Betriebsstätte; sie werde bei ihrer Arbeit nicht eingeteilt, angeleitet oder überwacht, sondern
überwache als Chefin selbst die Angestellten im Laden und treffe diesbezügliche Entscheidungen selbstständig; im Ladenbereich
und beim Partyservice handele sie unternehmerisch; ein schriftlicher Arbeitsvertrag sei nicht geschlossen worden; gemessen
an den für den Arbeitsbereich einschlägigen Tarifverträgen seien ihr Entgelt und ihre Arbeitszeit gänzlich atypisch und nur
durch Selbstständigkeit zu erklären; das Entgelt sei - so ua in den Monaten April und Mai 2010 - nicht immer ausgezahlt worden;
sie (die Klägerin) nehme weder Erholungsurlaub noch Weihnachtsgeld in Anspruch; sie habe wiederholt eigene finanzielle Mittel
- insgesamt mehrere 10 000 Euro - in den Betrieb eingebracht, der entgegen den vom LSG fehlerhaft weiter herangezogenen Feststellungen
des SG von ihren Eltern übernommen worden sei; ihr Einsatz könne bereits aus finanziellen Gründen nicht durch Fremdarbeitnehmer
kompensiert werden. Zum Nachweis dieser Behauptungen und zur Ermittlung der genauen Verhältnisse im Betrieb sowie der Absprachen
zwischen ihr und dem Beigeladenen zu 2. hat die Beigeladene zu 1. dessen und ihre Anhörung in einer mündlichen Verhandlung
angeregt. Ferner hat sie verschiedene Urkunden in Kopie vorgelegt und zu einzelnen Behauptungen Beweis angeboten durch Vorlage
von Urkunden sowie Vernehmung des Verkaufspersonals, ihrer Kinder sowie des Steuerberaters.
Ob das LSG bei dieser Sachlage von weiteren Beweiserhebungen absehen durfte, muss hier nicht entschieden werden; es hat durch
Ablehnung einer Beweiserhebung zum praktischen Fehlen von Weisungen an die Beigeladene zu 1. immerhin erkennen lassen, dass
es deren Vortrag wenigstens punktuell zur Kenntnis genommen hat. Das LSG durfte jedoch jedenfalls aufgrund des Vorbringens
der Beigeladenen zu 1. auf die Anhörungsmitteilung hin nicht ohne erneute Anhörung gemäß §
153 Abs
4 Satz 2
SGG durch Beschluss entscheiden; denn die Stellungnahme der Beigeladenen zu 1. zur ersten Anhörung konkretisierte nicht lediglich
bereits in rechtlich unbedeutender Weise vorangegangenen Vortrag, sondern war in wesentlichen Teilen neu, insoweit substanziiert
und auch entscheidungserheblich. So sind sowohl ein wiederholter Entgeltverzicht aufgrund der wirtschaftlichen Lage des Betriebs
als auch private Betriebseinlagen in fünfstelliger Höhe Gesichtspunkte, die im Falle ihrer Erweislichkeit vom LSG im Rahmen
der zur Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit gebotenen Gesamtabwägung (stRspr vgl nur BSG
SozR 4-2400 § 7 Nr 7 RdNr 15 ff mwN) mit zu würdigen gewesen wären. Obwohl diese Würdigung nicht notwendig zu einem anderen
Ergebnis des Rechtsstreits führen musste, hätte das LSG vor einer Entscheidung durch Beschluss jedenfalls zumindest auf die
Stellungnahme der Beigeladenen zu 1. reagieren und sie darüber informieren müssen, dass und weshalb es ihren neuen Vortrag
ggf für unerheblich hielt.
Bei einer - hier mithin vorliegenden - Verletzung des §
153 Abs
4 SGG bedarf es keines näheren Eingehens auf die Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers iS von §
160 Abs
2 Nr
3 SGG. Wenn das LSG nur nach erneuter Anhörungsmitteilung im gewählten vereinfachten Beschlussverfahren entscheiden durfte, bedarf
es keiner Prüfung, was die Beigeladene zu 1. auf den gebotenen schriftlichen Hinweis zum Festhalten an einer Entscheidung
durch Beschluss oder in einer mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte. Es handelt sich insoweit vielmehr um einen absoluten
Revisionsgrund gemäß §
202 SGG iVm §
547 Nr
1 ZPO; denn die Verletzung des §
153 Abs
4 SGG führt zur nicht vorschriftsmäßigen Besetzung der Richterbank ohne ehrenamtliche Richter (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr
10; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 40; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 10).
Der Senat macht zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen von der Möglichkeit des §
160a Abs
5 SGG Gebrauch und verweist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
das LSG zurück. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit zu entscheiden haben.