Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl
Divergenzrüge
Begriff der Abweichung
Formgerechte Darlegung einer Divergenz
Keine Bildung eigener Rechtssätze
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ab wann der Kläger Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl
und die damit verbundenen Leistungen nach Landesrecht hat.
Der 2007 geborene Kläger ist schwerstbehindert wegen einer Balkendysplasie, eines Anfallsleidens und einer Muskelhypotonie.
Bei ihm ist deshalb ein Behinderungsgrad von 100 festgestellt und sind die Merkzeichen H, B, G und aG anerkannt. Einen Antrag
des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens für Blindheit (Bl) lehnte der Beklagte dagegen ebenso ab, wie die damit verbundenen
Leistungen nach dem Landesblindengesetz (Bescheid vom 26.5.2011, Widerspruchsbescheide vom 23. und 24.4.2012).
Die ua auf Zuerkennung des Merkzeichens Bl gerichtete Klage hat das SG nach medizinischen Ermittlungen abgewiesen. Nach allen in den Akten befindlichen Befunden seien beide Augen intakt. Eine
sichere Bestimmung der Sehfähigkeit sei nicht möglich. Die erforderlichen Untersuchungen hätten nicht durchgeführt werden
können, weil der Kläger und die erforderlichen Geräte nicht hätten transportiert werden können. Blindheit im Sinne des Gesetzes
sei wahrscheinlich, jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisbar (Gerichtsbescheid vom 15.4.2014).
Das vom Kläger angerufene LSG hat den Kläger erneut begutachten lassen. Der Gutachter hat beim Kläger im Juni 2015 eine schwere
Reizleitungsstörung festgestellt, die für eine zentrale Rindenblindheit spreche. Im Vergleich zu früheren Befunden sei eine
eindeutige Verschlechterung eingetreten. Der Beklagte hat daraufhin vom Tag der Untersuchung des Klägers an das Vorliegen
der Voraussetzungen des Merkzeichens Bl anerkannt und Leistungen nach dem Landesblindengesetz gewährt. Die weitergehende Berufung
hat das LSG zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für Blindheit im Sinne des Gesetzes für das Merkzeichen Bl und weitergehende
Leistungen nach dem Landesblindengesetz seien zu einem früheren Zeitpunkt als Juni 2015 nicht nachgewiesen. Auf die - vom
BSG inzwischen aufgegebene - Unterscheidung zwischen Erkennens- und Benennungsstörungen komme es im Fall des Klägers nicht an.
Seine Blindheit im Sinne von Teil A Nr 6 Buchst c der Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze zur Versorgungsmedizin-Verordnung (AnlVersMedV) wegen eines vollständigen Ausfalls der Sehrinde sei erst durch die gutachterliche Untersuchung am 26.6.2015
festgestellt worden.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.
Das LSG sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen und habe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil
weder eine Divergenz (1.) noch eine grundsätzliche Bedeutung (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl §
160a Abs
2 S 3
SGG).
1. Die für eine Divergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) notwendigen Voraussetzungen legt der Kläger nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz
entsprechend den gesetzlichen Anforderungen darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung
des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein
sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa
lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN). Leitet der Beschwerdeführer aus den Entscheidungen des LSG und BSG Rechtssätze ab, muss er darlegen, an welcher genauen Stelle und mithilfe welcher anerkannten Methodik er die behaupteten
Rechtssätze den Entscheidungen jeweils entnommen hat (BSG Beschluss vom 18.1.2012 - B 5 R 384/11 B - BeckRS 2012, 66267). Aufgestellte Rechtssätze darf die Beschwerde weder modifizieren noch ergänzen und damit keine eigenen
Rechtssätze bilden.
Diesen Anforderungen wird die Beschwerde nicht gerecht. Sie ist der Auffassung, das LSG habe den Rechtssatz zugrunde gelegt,
der Nachweis einer organischen Beeinträchtigung im System Sehen (optischer Apparat, Sehbahn, Sehrinde) sei im Vollbeweis zu
erbringen. Eine allein cerebral bedingte Beeinträchtigung des Sehvermögens lasse das LSG nicht ausreichen. Dagegen könne es
nach den Vorgaben des BSG dahinstehen, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruhe. Auch cerebrale Schäden, die das Sehvermögen
beeinträchtigten, seien beachtlich.
Indes gibt die Beschwerde bereits nicht an, welcher Stelle des LSG-Urteils sie dessen angeblich divergierenden Rechtssatz
entnehmen will. Tatsächlich hat das LSG die aktuelle Rechtsprechung des Senats zum Begriff der Blindheit referiert (S 12 des
Urteils) und sich zu eigen gemacht. Die Beschwerde setzt sich mit diesem Umstand nicht auseinander und zeigt damit nicht auf,
warum gleichwohl eine Divergenz vorliegen sollte.
Unabhängig davon hat das LSG ausgeführt, die - vom BSG nunmehr aufgegebene - Differenzierung zwischen Erkennens- und Benennungsstörungen sei für den Fall des Klägers nicht streitentscheidend.
Das Berufungsgericht hat bei ihm eine vollständige Blindheit aufgrund eines nachgewiesenen vollständigen Ausfalls der Sehrinde
("Rindenblindheit") im Sinne von Teil A Nr 6 Buchst c AnlVersMedV angenommen. Das LSG stützt sich damit - anders als die Beschwerde
ihm unterstellt - gerade auf eine spezielle Fallkonstellation eines cerebralen, dh Hirnschadens, der das Sehvermögen beeinträchtigt
bzw aufhebt. Diese spezielle Form der Blindheit hatten die AHP und in der Nachfolge die AnlVersMedV schon länger anerkannt
(vgl BSG Urteil vom 31.1.1995 - 1 RS 1/93 - SozR 3-5920 § 1 Nr 1 S 6) unabhängig von der neueren Rechtsprechung des Senats. Den Nachweis für diesen Unterfall der Blindheit infolge eines
cerebralen Schadens hatte das LSG allerdings erst ab Juni 2015 als geführt angesehen. An diese Feststellung des LSG ist der
Senat mangels Verfahrensrügen des Klägers nach §
163 SGG gebunden.
Die Beschwerde wendet dagegen noch ein, das LSG hätte dem Maß der Beeinträchtigung der Sehfähigkeit des Klägers weiter nachgehen
müssen um festzustellen, ob nicht eine andere Form von Blindheit oder hochgradige Sehschwäche vorgelegen habe. Soweit sie
dem Berufungsgericht damit eine Verletzung seiner Pflicht zur Amtsermittlung nach §
103 SGG vorwerfen wollte, könnte sie aber wegen §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG mit dieser Rüge nicht gehört werden, weil sie keinen Beweisantrag bezeichnet hat.
Soweit sich die Beschwerde im Übrigen gegen die Beweiswürdigung des LSG wenden will, so entzieht §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG diese der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig. Kraft der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung
kann die Beweis- würdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen
werden (Karmanski in Roos/Wahrendorf,
SGG, 2014, §
160 RdNr 58 mwN).
2. Ebenso wenig dargetan ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG). Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus
Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist.
Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen
der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung
erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte)
Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende
Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert
ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar
aus dem Gesetz ergibt. Um die Klärungsbedürftigkeit ordnungsgemäß darzulegen, muss sich der Beschwerdeführer daher ua mit
Wortlaut, Kontext und ggf der Entstehungsgeschichte des fraglichen Gesetzes sowie der einschlägigen Rechtsprechung auseinandersetzen
(Karmanski in Roos/Wahrendorf,
SGG, 2014, §
160a RdNr 50 mwN).
Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht. Soweit sie fragt, welche Anforderungen sind
an den Beweis von Blindheit oder hochgradiger Sehbeeinträchtigung bei cerebral geschädigten Personen zu stellen vor dem Hintergrund,
dass die Diagnostik spezifischer Sehstörungen beschränkt ist und medizintechnische Untersuchungsmethoden wegen der notwendigen
Sedierung oder gar Narkotisierung ethisch kaum vertretbar sind,
fehlt es an der Darlegung, warum diese Frage im Fall des Klägers entscheidungserheblich ist und damit in seinem Revisionsverfahren
geklärt werden könnte. Die Beschwerde legt nicht dar, dass die vom Gutachter in der Berufungsinstanz erhobenen Befunde, die
schließlich beim Kläger zur Anerkennung einer anspruchsbegründenden Blindheit geführt haben, in zumutbarer Weise hätten früher
erhoben werden können und eine solche Befunderhebung insbesondere aus ethischen Gründen unterblieben sei. Wie sich aus dem
SG-Urteil ergibt, ist vielmehr die Begutachtung in der ersten Instanz allein an praktischen Schwierigkeiten gescheitert ("Transportschwierigkeiten").
Einen darauf bezogenen Beweisantrag, den das LSG übergangen haben könnte, führt die Beschwerde nicht an.
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§
160a Abs
4 S 1 Halbs 2, §
169 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl §
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 Abs
1 SGG.