Aussetzung der Vollstreckung einer Urteilsrente im sozialgerichtlichen Verfahren; Interessen- und Folgenabwägung, Erfolgsaussicht
Gründe:
I. Am 13.08.2008 hat das Sozialgericht Würzburg (SG) die Beklagte verurteilt, an den Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.08.2008 bis 31.07.2010 zu zahlen.
Der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur 3 bis unter 6 Stunden täglich tätig sein.
Dagegen hat die Beklagte Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Das gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) vom SG eingeholte Gutachten von Dr.Dr.P., auf das sich das SG bei seiner Entscheidung stütze, könne nicht überzeugen. Die vor und nach diesem Gutachten vom SG gemäß §
106 SGG eingeholten Gutachten bei Dr. B. und Dr.C. würden eine Leistungsminderung in entsprechendem Umfang ebenso wie die Gutachter,
die im Rahmen des Verwaltungsverfahrens beauftragt worden seien, nicht bestätigen.
Zudem hat die Beklagte beantragt, die Vollstreckung aus dem Urteil des SG auszusetzen. In der Rechtsprechung werde eine Rückforderung in Fällen einer "besonderen Härte" ausgeschlossen. Der derzeitige
Rentenanspruch des Klägers betrage 728,80 EUR brutto. Er beziehe derzeit Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 137,83 EUR.
Er sei verheiratet und seine Ehefrau beziehe Rente. Bei einem späteren Rentenbezug werde eine Verrechnung der Urteilsrente
nicht möglich. Die Versichertengemeinschaft erleide ggf. einen Schaden.
Der Kläger hat mitgeteilt, wegen des Bezuges von Wohngeld sei er derzeit nicht hilfebedürftig und erhalte daher keine Leistungen
nach dem SGB II.
II. Der statthafte Aussetzungsantrag ist zulässig.
Gemäß §
199 Abs
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu
entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Ein vollstreckbarer Titel im Sinne des §
199 Abs
1 SGG liegt vor.
Die Berufung der Beklagten hat hinsichtlich der Beträge, die für die Zeit nach Erlass des angefochtenen Urteils bezahlt werden
sollen, keine aufschiebende Wirkung (§
154 Abs
2 SGG). Die Beklagte ist daher verpflichtet, die sogenannte Urteilsrente anzuweisen, die aber wieder zu erstatten ist, wenn das
Urteil des Erstgerichts auf die Berufung hin oder in einem eventuellen Revisionsverfahren aufgehoben wird.
Der Aussetzungsantrag ist auch begründet.
Bei der Entscheidung über die Aussetzung ist eine Interessen- und Folgenabwägung vorzunehmen (BSG, Beschluss vom 05.09.2001
- B 3 KR 47/01 R -; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9.Auflage §
199 Rdnr 8), wobei der in §
154 Abs
2 SGG zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, dass Berufungen in der Regel keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich
der für die Zeit nach Erlass des Urteils zu zahlenden Beträge haben sollen. Eine Aussetzung kommt daher nur in Ausnahmefällen
in Betracht (Leitherer aaO. Rdnr 8a; BSG, Beschluss vom 28.10.2008 - B 2 U 189/08 B -).
Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist im Rahmen einer Interessen- und Folgenabwägung zu prüfen. Dabei können die Erfolgsaussichten
der Berufung ausnahmsweise dann eine Rolle spielen, wenn diese offensichtlich fehlen (vgl. auch BSG, Beschluss vom 05.09.2001
- B 3 KR 47/01 R -) oder offensichtlich bestehen (BSGE 12, 138). Sind die Erfolgsaussichten jedoch nicht in dieser Weise eindeutig abschätzbar, ist im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung
insbesondere zu berücksichtigen, ob der Beklagten - über den Nachteil hinaus, der mit jeder Zwangsvollstreckung als solcher
verbunden ist - ein im nachhinein nicht mehr zu ersetzender Schaden entstehen würde (BSG, Beschluss vom 05.09.2001 - B 3 KR 47/01 R -). Maßgeblich sind dabei die Umstände des Einzelfalles, die vom Vollstreckungsschuldner glaubhaft vorzutragen sind (BSG
SozR 3-1500 § 199 Nr 1). Der Hinweis auf Sonderfälle, unter denen eine im Ergebnis rechtswidrig gezahlte Urteilsrente vom
Begünstigten nicht zurückgefordert werden dürfe, genügt hierzu nicht, wenn nicht Anhaltspunkte dafür benannt werden, beim
Begünstigten könne ein solcher "Härtefall" bestehen (vgl BSG, Beschluss vom 28.08.2007 - B 4 R 25/07 R -). Zudem darf ein überwiegendes Interesse des Vollstreckungsgläubigers nicht entgegenstehen (BSG, Beschluss vom 28.08.2007
- B 4 R 25/07 R -; vgl. hierzu auch die §
86b SGG zu entnehmenden Rechtsgedanken).
Vorliegend hat die Berufung große Erfolgsaussichten. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich das SG zunächst nach Einholung des Gutachtens gemäß §
109 SGG bei Dr.Dr.P. veranlasst sah, ein erweitertes Gutachten gemäß §
106 SGG von Gerichts wegen einzuholen. Insbesondere ist aber zu berücksichtigen, dass Dr.Dr.P. in seinem Gutachten der niedrigen
Intelligenz des Klägers erhebliche Bedeutung beimisst, obwohl dieser eine Maurerlehre absolvieren konnte. Wesentlich stellt
jedoch Dr.Dr.P. darauf ab, dass der Kläger wieder arbeitsfähig werden könnte, wenn für ihn eine Reallösung gefunden würde,
nämlich eine Lösung der für ihn immer schwerer zu bewältigenden Aufgabe der Pflege seiner kranken Frau. Die Problematik der
Pflege der kranken Ehefrau hat jedoch für die hier zu beurteilende Frage der Erwerbsminderung des Klägers keine Bedeutung.
Auch ist nicht zu erkennen, dass Dr.Dr.P. den Begriff der Erwerbsminderung zutreffend verwendet. Er geht vielmehr u.a. auf
die Arbeitsfähigkeit bzw. auf die Erwerbsunfähigkeit des Klägers ein. Diese Gesichtspunkte spielen jedoch vorliegend keine
Rolle.
Nach alledem bestehen für die Berufung der Beklagten offensichtlich Erfolgsaussichten. Die vorzunehmende Interessen- und Folgenabwägung
fällt daher zugunsten der Beklagten aus. Ein überwiegendes Interesse des Vollstreckungsgläubigers ist nicht zu erkennen und
wird von diesem auch nicht dargelegt. Er erhält zur Zeit Wohngeld und bezieht eigenes Einkommen, so dass Leistungen nach dem
SGB II nicht bezogen werden.
Somit ist von einem Ausnahmefall auszugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG), er kann jederzeit aufgehoben werden (§
199 Abs
2 Satz 3
SGG).