Rente wegen Erwerbsminderung
Grund für unterlassene Beweiserhebung
Beweiserhebung von Amts wegen
Ermittlung ins Blaue hinein
1. Für die Frage, ob ein hinreichender Grund für das Unterlassen einer Beweiserhebung vorliegt, kommt es darauf an, ob das
Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt zu dem vom Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es
sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen.
2. Die Verpflichtung, von Amts wegen Beweise zu erheben, besteht u.a. nicht, wenn sich weder aus dem klägerischen Vortrag
noch aus den Verwaltungs- oder Gerichtsakten konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines erhöhten Risikos für Arbeitsunfähigkeitszeiten
bei Einsatz auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ergeben.
3. Eine "Ermittlung ins Blaue hinein" erfordert der Amtsermittlungsgrundsatz (§
103 SGG) nicht.
Gründe:
I
Mit Beschluss vom 13.10.2014 hat das LSG Niedersachsen-Bremen einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung
verneint.
Die im Jahr 1971 geborene Klägerin hatte verschiedene Tätigkeiten im Lebensmittelbereich ohne spezifische Ausbildung ausgeübt.
Seit etwa zehn Jahren ist sie nach Aktenlage nicht mehr berufstätig gewesen. Ihr im Februar 2010 gestellter Antrag auf Rente
wegen Erwerbsminderung blieb erfolglos (Bescheid vom 22.6.2010, Widerspruchsbescheid vom 9.12.2010). Das SG Osnabrück hat
die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädischem Gebiet abgewiesen (Urteil vom 20.6.2012). Im
Berufungsverfahren hat das LSG Befundberichte der behandelnden Ärzte und ein weiteres orthopädisches Gutachten der Sachverständigen
G. vom 23.6.2014 eingeholt. Nach Anhörung der Beteiligten hat es die Berufung der Klägerin durch Beschluss (§
153 Abs
4 SGG) zurückgewiesen. Das LSG hat im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine
Rente wegen Erwerbsminderung (§
43 SGB VI) nicht erfülle. Nach den vorliegenden Gutachten der Sachverständigen könne die Klägerin - wenn auch mit bestimmten Leistungseinschränkungen
- unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens noch sechs Stunden körperlich leichte Tätigkeiten
ausüben. Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedürfe es nicht, weil weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen
noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliege. Ihre Wegefähigkeit sei nicht maßgeblich eingeschränkt. Die Klägerin
sei auch nicht deshalb erwerbsgemindert, weil sie das Risiko einer erhöhten Arbeitsunfähigkeit trage. Dieses führe dann zur
Erwerbsminderung, wenn die Arbeitsunfähigkeit so häufig auftrete, dass die während eines Arbeitsjahres zu erbringenden Arbeitsleistungen
nicht mehr den Mindestanforderungen entsprächen, die ein "vernünftig und billig denkender Arbeitgeber" zu stellen berechtigt
sei, sodass eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen sei (Hinweis auf ua BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 14 S 44 f). Bei der Klägerin lägen keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass sie bei Ausübung einer leidensgerechten
beruflichen Tätigkeit über das normale Maß hinaus erhöhte Arbeitsunfähigkeitszeiten benötigen werde. Dagegen sprächen im Wesentlichen
die Feststellungen der Sachverständigen G. und die aus Anlass dieser Begutachtung von der Klägerin selbst gemachten Angaben.
Mit Schreiben vom 6.11.2014 hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Antrag auf Prozesskostenhilfe unter ihrer Beiordnung
für die Durchführung des Verfahrens der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im oben genannten Beschluss des LSG
beantragt. Sie beruft sich ausschließlich auf Verfahrensmängel. Das LSG hätte den Rechtsstreit nicht ohne mündliche Verhandlung
durch Beschluss entscheiden dürfen, weil der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt sei. Sie beruft sich auf den Senatsbeschluss
vom "31.10.2014" (zutreffend: 31.10.2012 - B 13 R 107/12 B - SozR 4-2600 § 43 Nr 19) und meint, das LSG habe zu der Frage der prognostisch zu erwartenden Arbeitsunfähigkeitszeiten
ein Sachverständigengutachten einholen müssen. Der Beweisantrag sei rechtzeitig gestellt worden und habe auf das erneute Schreiben
des LSG vom 16.9.2014 nicht wiederholt werden müssen (Hinweis auf BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 11, 12). Diese Verfahrensweise verletze sie auch in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 GG, §
62 SGG).
II
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg bietet (§
73a Abs
1 S 1
SGG, §
114 ZPO). Daher kommt auch die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht in Betracht (§
121 Abs
1 ZPO).
Das gegen den angefochtenen Beschluss des LSG zulässige Rechtsmittel ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision
(§
160a SGG). In einem solchen Verfahren darf gemäß §
160 Abs
2 SGG die Revision nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer
Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel vorliegt, auf
dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Ein solcher Zulassungsgrund ist nach Prüfung des Streitstoffs nicht
ersichtlich.
Es ist nicht erkennbar, dass eine Zulassung der Revision gegen den von der Klägerin angefochtenen Beschluss des LSG auf §
160 Abs
2 Nr
1 SGG gestützt werden könnte. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine
bislang nicht hinreichend geklärte Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt.
Dass im Rechtsstreit der Klägerin solche Rechtsfragen von Bedeutung sind, ist nicht ersichtlich.
Auch der Zulassungsgrund der Divergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) könnte nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Denn das LSG ist in der angefochtenen Entscheidung nicht von einem Urteil
des BSG abgewichen.
Ebenso wenig lässt sich ein Verfahrensfehler feststellen, der gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 SGG zur Zulassung der Revision führen könnte. Es kann dahingestellt bleiben, ob die im Berufungsverfahren anwaltlich vertretene
Klägerin im Schriftsatz vom 12.8.2014 mit dem Antrag, "nach Einholung entsprechender Berichte der behandelnden Ärzte ein Gutachten
einzuholen zu der Frage, ob der Klägerin der Arbeitsmarkt aufgrund der zu prognostizierenden Arbeitsunfähigkeitszeiten verschlossen
ist", einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt hat, den sie nach der Anhörungsmitteilung des Vorsitzenden vom 9.7.2014
zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren durch Beschluss (§
153 Abs
4 S 2
SGG) bis zuletzt aufrechterhalten hat (vgl nur BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 11, 12).
Denn für die Frage, ob ein hinreichender Grund für das Unterlassen einer Beweiserhebung vorliegt, kommt es darauf an, ob das
Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt zu dem vom Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es
sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr, zB BSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 47/10 B - Juris RdNr 4; Senatsbeschluss vom 19.10.2011 - B 13 R 290/11 B - Juris RdNr 12). Die Verpflichtung, von Amts wegen Beweise zu erheben, bestand hier schon deshalb nicht, weil sich weder
aus dem Vortrag der Klägerin noch aus den Verwaltungs- oder Gerichtsakten konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines
erhöhten Risikos für Arbeitsunfähigkeitszeiten bei Einsatz auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
ergeben (vgl Senatsbeschluss vom 31.10.2012 - SozR 4-2600 § 43 Nr 19 RdNr 19). Eine "Ermittlung ins Blaue hinein" erfordert
der Amtsermittlungsgrundsatz (§
103 SGG) nicht (vgl zB Senatsurteile vom 5.4.2001 - BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 25; vom 3.4.2003 - BSGE 91, 68 = SozR 4-1300 § 31 Nr 1).
Das LSG durfte daher die Berufung der Klägerin zurückweisen, ohne der Frage nach gehäuften Arbeitsunfähigkeitszeiten durch
weitere Sachverhaltsermittlungen nachzugehen. Denn auf der Basis von fehlenden attestierten Arbeitsunfähigkeitszeiten der
vergangenen Jahre, unter Berücksichtigung der von den Sachverständigen diagnostizierten Gesundheitsstörungen (orthopädische
Erkrankungen bei erheblicher Adipositas und Narbenschmerzen) und den daraus abgeleiteten konkreten Leistungseinschränkungen,
die eine Belastbarkeit für leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig noch ermöglichen,
hat es greifbare Anhaltspunkte für zukünftige über das normale Maß überschreitende Arbeitsunfähigkeitszeiten zutreffend verneint.
Hierbei hat das LSG auch die von der Klägerin gegenüber der Gutachterin gemachten Angaben zu Arztbesuchen und zur Medikation
berücksichtigt. Die schlichte Behauptung der Prozessbevollmächtigten, dass bei der Klägerin zukünftig Arbeitsunfähigkeitszeiten
in größerem Umfang zu erwarten seien, entbehrt damit einer nachvollziehbaren Grundlage.
Schließlich liegt auch kein Anhaltspunkt für einen weiteren Verfahrensmangel vor. Das LSG durfte nach ordnungsgemäßer Anhörung
im Beschlusswege (§
153 Abs
4 SGG) entscheiden.