Feststellung einer Behinderung und des Grades der Behinderung im Schwerbehindertenrecht; Zulässigkeit der Addition mehrerer
geringfügiger Behinderungen mit einer jeweiligen Einzel-GdB von 10
Tatbestand:
Der 1960 geborene Kläger begehrt die Feststellung einer Behinderung und des Grads der Behinderung (GdB).
Nach einem Sturz vom Gerüst im Mai 2001 stellte er am 06.12.2002 Antrag auf Feststellung des GdB ("Fuß links Sprunggelenk").
Der Antrag wurde mit Bescheid vom 07.07.2003 abgelehnt. Die Gesundheitsstörung Sensibilitätsstörungen im Ausbreitungsbereich
des Nervus peronaeus superficialis am Außenrand des Fußes bedinge keinen GdB von wenigstens 10. Zuvor hatte der Beklagte von
der Berufsgenossenschaft Bau medizinische Unterlagen und den Bescheid vom 04.06.2003 beigezogen, mit dem zwar Sensibilitätsstörungen
im Ausbreitungsbereich des Nervus peronaeus superficialis am Außenrand des Fußes als Folgen des Versicherungsfalls anerkannt,
die Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung und Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben aber abgelehnt
worden sind, weil der Versicherungsfall keine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit über die 26. Woche hinaus hinterlassen
habe.
Am 16.10.2007 stellte der Kläger Antrag auf Feststellung eines GdB von wenigstens 30 bis 40 und Feststellung des Merkzeichens
G (erheblich gehbehindert). Der Beklagte zog Unterlagen seines Rechtsstreits mit der Berufsgenossenschaft Bau bei: Aktenkundig
sind das orthopädisch-chirurgische Gutachten des Dr. B. vom 01.06.2007 (Diagnose: somatoforme Störung mit Rentenbegehren;
zu keinem Zeitpunkt eine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit) und der neurologische Befundbericht des Dr. U. vom 16.08.2007
("weiterhin nicht zweifelsfrei verifizierbare Schwäche des li. Fußheber mit passagerer Aggravationstendenz").
Mit Bescheid vom 04.12.2007 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Es liege zwar die Gesundheitsstörung Fußheberschwäche links,
Sensibilitätsstörungen lateraler Fußrand links mit einem Einzel-GdB von 10 vor, der dadurch bedingte GdB betrage jedoch nicht
wenigstens 20, so dass die Feststellung einer Behinderung nicht möglich sei.
Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, dass er nicht einverstanden sei, weil die Berufsgenossenschaft ihm 30
bis 40 Prozent und die LVA ihm 30 Prozent Behinderung zugesprochen hätten. Die Ärzte hätten ihm eine Behinderung von 30 bis
40 Prozent bestätigt. Er legte das Attest des Orthopäden Dr. C. vom 18.01.2008 vor, in dem über die Beschwerden des Klägers
berichtet wird mit dem Hinweis, dass "im Behandlungsverlauf eine zunehmende subjektive Verschlechterung des Beschwerdebildes
eingetreten" sei, "objektivierbar (sei) eine endgradige Bewegungseinschränkung sowie eine Schwellneigung mit Lymphödemen und
eine Dysästhesie im Peroneus-Versorgungsgebiet."
Der Neurologe Dr. U. teilte die Diagnosen Schmerzsyndrom nach Sprunggelenksverletzung mit konversionsneurotischer Fehlverarbeitung,
Polyneuropathie mit und wies auf die bei den Untersuchungen immer wieder feststellbare Aggravationstendenz hin. Eine wesentliche
Einschränkung der Beweglichkeit mit Kraftminderung des linken Fußheber habe sich im Laufe des Beobachtungszeitraums nicht
verifizieren lassen. Der Krankheitsverlauf zeige eine auffällige Fehlverarbeitung des 2001 erlittenen Traumas mit subjektiv
empfundener Bewegungseinschränkung und Schwäche des linken Fußgelenks und daraus resultierender (psychogener) Gangstörung
(Befundbericht vom 17.03.2008). Die Berufsgenossenschaft Bau informierte auf Anfrage mit Schreiben vom 15.02.2008 darüber,
dass der Bescheid vom 04.06.2003 immer noch aktuell sei. Die Verschlimmerungsanträge seien rechtskräftig abgelehnt worden,
so zuletzt durch Klagerücknahme vom 08.10.2007. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.05.2008 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
Mit der am 16.06.2008 zum Sozialgericht München erhobenen Klage bat der Kläger um Überprüfung der Angelegenheit.
Der Allgemeinmediziner B. erwähnte im Befundbericht vom 31.07.2008 neben den chronischen Schmerzen des oberen Sprunggelenks
auch einen Diabetes mellitus Typ II und wies auf die "Auffälligkeit" hin, dass in der Praxis immer deutliches Hinken vorhanden,
bei unbeobachtetem Gang auf der Straße dieses aber nicht zu erkennen sei. Er fügte den Reha-Entlassungsbericht vom 02.06.2005
über die Maßnahme von 17.03.2005 bis 14.04.2005 bei. Im Entlassungsbefund ist eine weitgehend physiologische Gangabwicklung
bei unbeobachtetem Gehen vermerkt. Festgehalten ist weiter: "keine messtechnische Muskelatrophie". Die Angaben des Orthopäden
Dr. C. im Befundbericht vom 18.07.2008 entsprechen den Angaben im Attest vom 18.01.2008, das der Kläger im Widerspruchsverfahren
vorlegte.
Der orthopädische Sachverständige Dr. F. führte im Gutachten vom 12.11.2008 aus, dass sich die Erhebung der Anamnese sehr
schwierig gestaltet habe, da sich der Kläger kaum auf konkrete Inhalte fixieren lasse. Anzuerkennen seien folgende Behinderungen
und jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten:
- Wirbelsäulenschaden (Brustwirbelsäule) mit geringem Funktionsverlust;
- mittelgradige Funktionsbehinderung des linken Sprunggelenks nach wiederholten operativen Eingriffen (einschließlich Bandplastiken);
es bestehe eine leichte Schwellneigung.
Der Kläger sei eindeutig weniger behindert als wenn das obere Sprunggelenk vollständig versteift wäre, wofür ein GdB von 20
angesetzt werden könnte. Bereits die gut ausgebildete Fußsohlenbeschwielung beidseits und die nicht zu verifizierende Muskelminderung
des linken Unterschenkels seien Hinweise darauf, dass das linke Sprunggelenk nicht wesentlich geschont werde. Die beginnenden
Umformungen der linken Hüfte wirkten sich bislang auf das Gehvermögen nicht nennenswert aus.
Das Sozialgericht München wies die Klage mit Urteil vom 05.03.2009 ab, das dem Kläger am 02.04.2009 zugestellt wurde. Nach
dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, das dem Kläger kein GdB zustehe.
Die dagegen am 15.04.2009 eingelegte Berufung begründete der Kläger damit, dass ihm ein GdB von 30 zustehe und dieser GdB
bereits von mehreren Ärzten festgestellt worden sei.
Der Neurologe und Psychiater Dr. E. erstattete nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 29.06.2009 das nervenärztliche
Gutachten vom 07.07.2009 samt ergänzender Stellungnahme vom 12.08.2009. Auffallend sei eine schon pseudologisch anmutende
phantastische Ausgestaltung des Unfallereignisses von 2001. Auf neurologischem Fachgebiet lasse sich ein Zustand nach Außenbandplastik
im linken oberen Sprunggelenk mit Irritation des Nervus peroneus superficialis links ohne funktionell bedeutsame neurologischen
Ausfälle feststellen. Mit Rücksicht darauf, dass keine muskulären Ausfälle nachweisbar seien und bei wiederholter Prüfung
elektromyographisch und neurographisch im Lauf der vergangenen Begutachtungen und bei der heutigen Untersuchung kein pathologischer
Befund zu erheben gewesen sei, sei nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen für die Sensibilitätsstörung des Nervus peroneus
superficialis ein Einzel-GdB von 10 anzunehmen, da ausschließlich bei einem vollständigen Nervenausfall des Nervus peroneus
superficialis ein Einzel-GdB von 20 gerechtfertigt wäre. Weitere Behinderungen auf nervenärztlichem Fachgebiet lägen nicht
vor. Es liege kein dementielles Syndrom vor. Aus den festgestellten Behinderungen mit jeweils Einzel-GdB von 10 resultiere
ein Gesamt-GdB von ebenfalls 10. Die bei der Untersuchung objektivierbare pseudologische Ausgestaltung der Vorgeschichte sei
im Rahmen der verfahrensbezogenen Darstellungs- und Ausgestaltungsweise zu sehen. Es bestehe eine ausgeprägte Aggravationstendenz,
ein psychiatrisches Krankheitsbild mit einem messbaren GdB liege in diesem Zusammenhang nicht vor. Mitgeteilt wird im Gutachten
vom 29.06.2009 auch, dass der Kläger das (Diabetes-) Medikament Metformin einnimmt und intramuskuläre Injektionen nicht erfolgen.
Ergänzend wurde der Bericht über die orthopädisch ausgerichtete Reha-Maßnahme von 14.10.2009 bis 04.11.2009 beigezogen. Nach
den abschließend eingeholten Befundberichten des Hausarztes B. vom 08.12.2009 und der Orthopäden Dres C./K. vom 21.12.2009
sind Veränderungen im Gesundheitszustand des Klägers nicht eingetreten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 05.03.2009 sowie den Bescheid vom 04.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 21.05.2008 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Grad der Behinderung in Höhe von 30 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des Sozialgerichts München beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den
Inhalt der beigezogenen Akten und der Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung einer Behinderung und eines Grads der Behinderung. Der Bescheid des Beklagten
vom 04.12.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.05.2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen
Rechten.
Rechtsgrundlage ist §
69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB IX) in Verbindung mit den seit 01.01.2009 maßgeblichen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung.
Die VG lösen die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht
(AHP) ab, die für die Zeit vor 01.01.2009 als antizipierte Sachverständigengutachten beachtlich sind (dazu BSG vom 18.09.2003,
B 9 SB 3/02 R; vom 24.04.2008, B 9/9a SB 10/06 R; BVerfG vom 06.03.1995, BvR 60/95). Die Anhaltspunkte und nunmehr die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind ein auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhendes
Regelwerk, das die möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe im Bundesgebiet bezweckt und dem Ziel des einheitlichen
Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung dient.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegen folgende Behinderungen vor:
1. Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenks links, Irritation des Nervus peronaeus superficialis links
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule
3. Zuckerkrankheit, mit Diät und oralen Antidiabetika einstellbar
Alle Behinderungen sind nur geringfügig ausgeprägt und bedingen jeweils einen Einzel-GdB von 10.
Die Funktionsbehinderung des oberen linken Sprunggelenks steht im Mittelpunkt der Beschwerden des Klägers. Damit hatte er
schon seinen ersten Antrag auf Feststellung eines GdB vom Dezember 2002 begründet ("Fuß links Sprunggelenk"). Der orthopädische
Sachverständige Dr. F. kommt im Gutachten vom 12.11.2008 zu dem Ergebnis, dass eine mittelgradige Funktionsbehinderung des
linken Sprunggelenks nach wiederholten operativen Eingriffen (einschließlich Bandplastiken) bestehe, die mit einer leichten
Schwellneigung verbunden sei. Zu bewerten ist diese Behinderung mit einem Einzel-GdB von 10. Der Kläger ist, wie der Sachverständige
erläutert, eindeutig weniger behindert als wenn das obere Sprunggelenk vollständig versteift wäre, wofür ein GdB von 20 angesetzt
werden könnte. Aus neurologischer Sicht ergibt sich keine höhere Bewertung. Der Sachverständige Dr. E. stellt im Gutachten
vom 29.06.2009 einen Zustand nach Außenbandplastik des linken oberen Sprunggelenks mit persistierender Irritation des Nervus
peroneus superficialis links ohne funktionell bedeutsame neurologische Ausfälle fest. Erst bei einem vollständigen Nervenausfall
des Nervus peroneus superficialis ist die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 20 gerechtfertigt.
Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit der Beurteilung der Sachverständigen. Die gutachtlich erhobenen Befunde stimmen
mit den Angaben der behandelnden Ärzte überein, die sozialmedizinischen Schlussfolgerungen sind nachvollziehbar und stehen
im Einklang mit den Bewertungsgrundlagen (vgl. Nr. B.18.14 VG, Nr. 26.18 AHP). Dr. F. macht darauf aufmerksam, dass bereits
die gut ausgebildete Fußsohlenbeschwielung beidseits und die nicht zu verifizierende Muskelminderung des linken Unterschenkels
Hinweise darauf seien, dass das linke Sprunggelenk nicht wesentlich geschont werde. Dazu passen die Beobachtungen des Hausarztes
B., dass der Kläger in der Praxis immer deutliches Hinken zeige, dies aber bei unbeobachtetem Gang auf der Straße nicht zu
erkennen sei (Befundbericht vom 31.07.2008). Im Reha-Entlassungsbericht vom 02.06.2005 ist ebenfalls festgehalten, dass beim
unbeobachteten Gehen eine weitgehend physiologische Gangabwicklung bestehe und eine Muskelatrophie nicht messbar sei.
Die bei der orthopädischen Begutachtung festgestellte Funktionsbehinderung der Wirbelsäule ist ebenfalls mit einem Einzel-GdB
von 10 zu bewerten. Dr. F. konnte einen Funktionsverlust der Brustwirbelsäule feststellen, der sich teilweise radiologisch
objektivieren ließ. Wie er zutreffend erläutert, sind Wirbelsäulenschäden mit geringem Funktionsverlust mit einem Einzel-GdB
von 10 zu bewerten (Nr. B.18.9 VG, Nr. 26.18 AHP).
Als Behinderung mit einem Einzel-GdB von 10 zu erfassen ist schließlich der Diabetes mellitus Typ II, der mit dem Medikament
Metformin therapiert wird (vgl. Nr. B.15.1 VG, Nr. 26.15 AHP).
Wie der nervenärztliche Sachverständige Dr. E. ausdrücklich klargestellt hat, liegt ein psychiatrisches Krankheitsbild, das
einen messbaren GdB bedingen würde, nicht vor. Die Neigung des Klägers zur pseudologischen Ausgestaltung der Vorgeschichte
ist Ausdruck einer ausgeprägten Aggravationstendenz.
Bei Bestehen mehrerer geringfügiger Behinderungen mit Einzel-GdB 10 ergibt sich kein Anspruch auf Feststellung einer Behinderung
und des Grads der Behinderung. Gemäß §
69 Abs.
2 Satz 6
SGB IX ist eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt. Zu beachten ist dabei, dass
eine Addition der Einzel-GdB-Werte generell ausgeschlossen ist und leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10
bedingen, grundsätzlich für den Gesamt-GdB nicht veranschlagt werden (Nr. A.3.a und d.ee VG, Nr. 19 Absätze 1 und 4 AHP).
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG liegen nicht vor.