Anerkennung einer Meningitis als Berufskrankheit nach Nr. 3101
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer Meningitis als Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Anlage 1 der
Berufskrankheitenverordnung (BK 3101) und die Gewährung einer Verletztenrente.
Die Klägerin ist 1951 geboren. Vom 18.01.1999 bis 13.04.1999 arbeitete sie im Rahmen eines Anerkennungsjahres als Erzieherin
im Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt "L." in M-Stadt.
Mit Schreiben vom 10.08.2011 (Eingang bei der Beklagten am 12.08.2011) machte die Klägerin gegenüber der Beklagten geltend,
sie habe sich während ihrer Tätigkeit im Kindergarten "L." mit einem Poliovirus infiziert und sei nachfolgend an einer Polio-Meningitis
erkrankt. In dem Zeitraum hätten die Leiterin des Kindergartens und andere Angestellte unter den gleichen Symptomen gelitten,
die sich einige Wochen später auch bei ihr gezeigt hätten, nämlich Nackensteife, Abgeschlagenheit, Schmerzen im linken Arm
und leichtes Fieber. Sie beantrage rückwirkend ab 13.04.1999 eine Unfallrentenzahlung.
Die Beklagte zog daraufhin Befundberichte über die Klägerin bei und holte verschiedene Auskünfte ein:
In einem Auskunftsschreiben an die Beklagte gab die Klägerin an, dass die Krankheit Ende Mai, Anfang Juni 1999 bei ihr aufgetreten
sei.
Ihre behandelnde Ärztin suchte die Klägerin erstmals am 28.07.1999 auf. Von dort begab sie sich vom 28.07.1999 bis 30.07.1999
in stationäre Behandlung im Krankenhaus W., B-Stadt. In einem Arztbrief vom 06.09.1999 teilte Prof. G. et. al., KH W., mit,
dass sich die Klägerin vom 28.07. bis zum 30.07.1999 in stationärer Behandlung befunden habe. Als Diagnose ist genannt: "Meningitis,
am ehesten viraler Genese". Bei der Klägerin hätten seit circa fünf Wochen vor der stationären Aufnahme - also Ende Juni 1999
- vom Nacken ausstrahlende holozephale Schmerzen bestanden, die bei Augenbewegungen deutlich verstärkt gewesen seien. Unter
"Beurteilung" ist im Schreiben ausgeführt: "Ursache der geklagten Kopfschmerzen ist eine Meningitis, vermutlich viraler Genese.
Neurotrope Viren fanden sich nicht im Liquor, sodass auch keine spezifische antivirale Therapie nötig ist."
Nach einem sozialmedizinischen Gutachten nach Aktenlage des MDK vom 14.09.1999 war die Klägerin wegen einer Meningitis ab
28.07.1999 arbeitsunfähig erkrankt. Diese Diagnose sei im Krankenhaus W. gesichert worden. Die Klägerin habe einen hohen Polio-Titer,
ohne je gegen Polio geimpft worden zu sein. Als Diagnose ist im Gutachten genannt: Meningitis. In einem Bericht vom 15.02.2000
über die von der Klägerin vom 05.01.2000 bis zum 02.02.2000 durchlaufene Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation ist unter
Diagnosen genannt: "Z. n. Meningitis vermutlich viraler Genese (05/99)."
In einem Arztbrief des Prof. G., Krankenhaus W., über die dortige Behandlung vom 22.07.2004 bis zum 26.07.2004 ist als Diagnose
unter anderem genannt: "Z. n. viraler Meningitis 1999 A87.9". Des Weiteren ist ausgeführt, dass sich die Klägerin zum Ausschluss
einer Meningitis vorgestellt habe. Frau Dr. H. gab gegenüber der Beklagten an, dass sie die Klägerin nie wegen Polio-Meningitis
behandelt habe. Nach dem Arztbrief der Dres. S. et. al., Kliniken H., vom 13.12.2006 befand sich die Klägerin dort vom 09.11.2006
bis 17.11.2006 in stationärer Behandlung; dabei wurde eine Meningitis ausgeschlossen. Anamnestisch habe die Klägerin eine
virale Meningitis 1999 angegeben.
In einem Arztbrief des Prof. S., Dermatologische Uniklinik FAU E-Stadt, vom 12.11.1999 ist unter "Diagnosen: ...4. Polio-Virusmeningitis
07/99" genannt. Unter Anamnese ist ausgeführt: "Im Juli 1999 sei die Patientin an einer Polio-Virusmeningitis erkrankt".
Frau R., die zum Zeitpunkt der Schreiben Leiterin des Kindergartens "L." war, teilte durch Schreiben vom 14.12.2011 und vom
14.03.2012 mit, dass sie mit Sicherheit sagen könne, dass während der Beschäftigungszeit der Klägerin kein Fall von Meningitis
oder Polio aufgetreten sei. Es seien deswegen auch keine Personen behandelt oder untersucht worden.
Im eingeholten Befundbericht vom 16.01.2012 teilten Dres. K. mit, dass der "Verdacht auf Meningitis" bestanden habe. Im Krankenhaus
W. sei "die Diagnose einer begleitenden Meningitis bei viraler Infektion gestellt" worden.
Der im Verwaltungsverfahren gehörte Gewerbearzt Dr. B. verwies darauf, dass bei der Klägerin im Jahr 1999 eine Meningitis
festgestellt worden sei, die vermutlich viral bedingt gewesen sei. Aus den Unterlagen nicht zu entnehmenden Gründen sei aus
dieser Diagnose im Laufe der Zeit eine Polioinfektion geworden. Den vorliegenden Unterlagen sei keine neurologische Symptomatik
zu entnehmen, die sich als postinfektiöses Geschehen oder Postpoliosyndrom interpretieren lasse. Den Unterlagen sei nicht
zu entnehmen, dass bei der Klägerin je ein Erregernachweis gelungen wäre, der die Diagnose Poliomyelitis rechtfertigen würde.
Für eine berufliche Genese sei der Nachweis einer Indexperson, das heißt eines erkrankten Kindes, zu fordern und der Umgang
mit Kindergartenkindern stelle kein erhöhtes Risiko für den Erwerb einer Meningitiserkrankung dar.
Auf Nachfrage der Beklagten teilte zudem das Landratsamt H-Stadt am 24.02.2012 mit, dass für die Zeit vom 18.01.1999 bis zum
13.04.1999 keine Unterlagen und insbesondere kein meldepflichtiger Nachweis des Krankheitserregers Poliovirus vorlägen.
Mit Bescheid vom 20.03.2012 (Widerspruchsbescheid vom 25.05.2012) lehnte die Beklagte eine Anerkennung der von der Klägerin
mitgeteilten Erkrankung "Meningitis" als BK 3101 sowie die Gewährung von Leistungen ab.
Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG Bayreuth). Mit Gerichtsbescheid vom 30.07.2014 wies das
SG Bayreuth die Klage ab. Es führte im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorliegen einer BK 3101 bei der Klägerin schon deshalb
zu verneinen sei, weil das Vorliegen einer Polio-Meningitis nicht im Vollbeweis feststehe und überdies die Infektion mit einer
Meningitis während des Praktikums im Kindergarten nicht hinreichend wahrscheinlich sei.
Hiergegen legte die Klägerin unter dem Aktenzeichen L 17 U 339/14 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) ein. Das LSG befragte Frau S. F. (im Folgenden: F), die während der knapp
dreimonatigen Tätigkeit der Klägerin Leiterin des Kindergartens "L." gewesen ist, in der nicht-öffentlichen Sitzung vom 22.04.2015
als Zeugin. F konnte sich an die Klägerin noch erinnern und, dass diese Anfang 1999 im Kindergarten gearbeitet hat. An Fälle
von Polio- oder Meningitiserkrankungen im Zeitraum Ende 1998 bis Mitte 1999 konnte sie sich jedoch nicht erinnern. Sie glaubte,
dass sich während ihrer Tätigkeit als Erzieherin im Kindergarten "L." von 1996 bis April 2009 ein Fall von Meningitis ereignet
habe, jedoch kein Fall einer Polioerkrankung, ohne aber zu wissen, wann die Meningitiserkrankung aufgetreten sei. Nach eingehender
Erörterung des Sach- und Rechtslage nahm die Klägerin in der Sitzung die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Bayreuth
vom 30.07.2014 zurück.
Mit Schreiben vom 30.07.2015 stellte die Klägerin bei der Beklagten unter Bezugnahme auf die Aussage der F einen Überprüfungsantrag
nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hinsichtlich des Bescheids vom 20.03.2012.
Mit Bescheid vom 01.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.02.2016 wies die Beklagte den Antrag zurück.
Bereits am 15.01.2016 hat die Klägerin gegen den Bescheid vom 01.12.2015 Klage zum SG Bayreuth erhoben. Mit Beschluss vom
11.02.2016 hat das SG Bayreuth den Rechtstreit an das Sozialgericht Würzburg (SG Würzburg) verwiesen. Mit Gerichtsbescheid
vom 23.05.2016 hat das SG Würzburg die Klage abgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin Berufung zum LSG eingelegt. Sie ist der Auffassung, das Gericht müsse aufgrund der Aussage der
F weiter den genauen Zeitpunkt der Erkrankung eines Kindes im Kindergarten "L." ermitteln. Überdies sei die Zeugin F zu verpflichten,
den genauen Zeitpunkt des Krankheitsfalls zu nennen.
Mit Beschluss vom 21.02.2017 hat der Senat die Berufung dem Berichterstatter übertragen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 23.05.2016 sowie den Bescheid vom 01.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 19.02.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 20.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 25.05.2012 zurückzunehmen und bei der Klägerin eine Meningitis als Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Anlage 1 der
Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und Verletztenrente zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten, der Gerichtsakten
beider Instanzen sowie der Verfahrensakte L 17 U 339/14 des LSG verwiesen.
Entscheidungsgründe
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 01.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.02.2016.
Mit dem Bescheid hat die Beklagte einen Antrag der Klägerin nach § 44 SGB X auf Rücknahme des Bescheids vom 20.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2012 und Anerkennung einer Meningitis
als BK 3101 und Bewilligung einer Verletztenrente abgelehnt.
Die Klägerin hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt. Der Antrag der Klägerin ist daher durch Auslegung zu ermitteln,
§
123 SGG. Das Klagebegehren der Klägerin zielt zunächst auf die Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 01.12.2015 und die Rücknahme
des Bescheids vom 20.03.2012 nach § 44 SGB X ab. Im Ergebnis möchte die Klägerin entgegen der ablehnenden Entscheidung der Beklagten vom 20.03.2012 eine - nach ihrer
Auffassung - während ihrer Beschäftigung im Kindergarten "L." in M-Stadt vom 18.01.1999 bis 13.04.1999 erworbene Meningitiserkrankung
als Berufskrankheit anerkannt haben und eine Verletztenrente gewährt bekommen. Hieraus ergibt sich der im Tatbestand formulierte
Berufungsantrag.
Die Berufung der Klägerin ist unbegründet. Im Ergebnis zurecht hat das SG Würzburg die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30.05.2016
abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 20.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 25.05.2012; sie wird durch die ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 01.12.2015 nicht in ihren Rechten verletzt.
Nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem
Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht
oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für
die Vergangenheit zurückzunehmen.
Die Beklagte ist bei Erlass des Bescheides vom 20.03.2012 weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen noch hat sie
das Recht unrichtig angewandt.
Der Senat kann sich nicht im erforderlichen Beweismaß des Vollbeweises davon überzeugen, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit
vom 18.01.1999 bis 13.04.1999 als Erzieherin im Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt "L." in M-Stadt einer besonderen Infektionsgefahr
ausgesetzt war, wie sie die BK 3101 voraussetzt (zum Erfordernis einer besonderen Infektionsgefahr bei der BK 3101 BSG v. 28.08.1990 - 2 RU 64/89, [...] Rn. 20; zur Erfordernis des Vollbeweises u.a. BSG v. 15.09.2011 - B 2 U 22/10 R, [...] Rn. 14, 28; v. 02.04.2009 - B 2 U 7/08 R, [...] Rn. 15, 17).
Der Senat hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin in einem mit Meningitis verursachenden Krankheitserregern durchseuchten
Objektsbereich tätig war. Es besteht auch kein Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin im genannten Zeitraum mit einer infizierten
Person in Kontakt gekommen wäre. Weder der Arbeitgeber noch das bei Meningitiserkrankungen zuständige Landratsamt noch die
damalige Leiterin des Kindergartens F. bei ihrer Zeugenbefragung durch des LSG am 22.04.2015 konnten einen Meningitiserkrankungsfall
im Zeitraum der Beschäftigung der Klägerin bestätigen. Auch die Klägerin selbst kann nicht ein bestimmtes Kind oder eine bestimmte
im Zeitraum 18.01.1999 bis 13.04.1999 im Kindergarten "L." beschäftigte Person benennen, die an Meningitis erkrankt gewesen
wäre. Vielmehr geht sie allein deshalb, weil bei ihr Ende Juli 1999 eine Meningitis, am ehesten viraler Genese diagnostiziert
worden ist, davon aus, dass sie sich während ihrer Tätigkeit im Kindergarten mit einem Meningitis-Virus angesteckt hat.
Im Übrigen könnte, selbst wenn eine solche besondere Infektionsgefahr bestanden hätte, schon im Hinblick auf den abgelaufenen
Zeitraum zwischen dem dokumentierten erstmaligen Auftreten von Symptomen Mitte/Ende Juni 1999 (Befundbericht der Neurologischen
Klinik des Krankenhauses W., B-Stadt vom 06.09.1999) und der Beendigung der Tätigkeit im Kindergarten am 13.04.1999 nicht
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einem möglichen Zusammenhang zwischen der Erkrankung der Klägerin und der versicherten
Tätigkeit ausgegangen werden. So beträgt gemäß Anhang zum Merkblatt zur BK 3101 (Bek. des BMA vom 01.12.2000, BArbBl. 1/2001,
S. 35) die Inkubationszeit bei der - von der Klägerin ins Feld geführten - Poliomyelitis 5-14 Tage, bei einer Meningokokken-Infektion
1-10 Tage. Der vorliegende Zeitraum von mindestens 2 Monaten zwischen Beschäftigungsende und Auftreten der ersten Symptome
geht weit über diese Inkubationszeiten hinaus.
Das LSG sieht keine Veranlassung für weitere Ermittlungen von Amts wegen (§
106 SGG). Auch die vage Angabe der F., sie glaube sich zu erinnern, dass sich irgendwann während ihrer Tätigkeit im Kindergarten
"L." von 1996 bis April 2009 ein Fall von Meningitis bei einem Kind ereignet habe, bietet hierfür keinen Ansatz. Die Angabe
der Zeugin, dass sie sich jedenfalls im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Klägerin an keinen Meningitis- Erkrankungsfall
erinnern könne, wird vielmehr durch die Auskünfte des damaligen Arbeitgebers der Klägerin und des Landratsamtes bestätigt.
Nachdem somit das Vorliegen eines Versicherungsfalls bzw. einer BK 3101 nicht festgestellt werden kann, besteht auch kein
Anspruch der Klägerin auf Bewilligung einer Verletztenrente.
Im Übrigen nimmt das Gericht in entsprechender Anwendung des §
153 Abs.
2 SGG auf die Entscheidung des SG Bayreuth vom 30.07.2014 Bezug und weist die Berufung aus den Gründen dieser Entscheidung als
unbegründet zurück.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG), sind nicht gegeben.