Tatbestand
Streitig ist die Freistellung von Kosten der häuslichen Krankenpflege (HKP) in einer ambulant betreuten Wohngruppe.
1. Die 1932 geborene Klägerin ist gesetzlich versichertes Mitglied der Beklagten und der Beigeladenen. Sie leidet u.a. an
essentieller Hypertonie (ICD-10 I10.90G), Diabetes mellitus mit multiplen Komplikationen (ICD-10 E14.72G) und Demenz (ICD-10
F03G) bei rezidivierenden Kleinhirninfarkten. Die Klägerin ist laut Pflegegutachten der Beigeladenen vom 27.10.2010 Analphabetin
und seit ihrer Geburt etwas debil. Sie steht seit dem 25.09.2000 unter gesetzlicher Betreuung (aktenkundig ist der Ausweis
der Betreuerin G., H.G., ausgestellt durch das Amtsgericht E-Stadt, Geschäftsnummer XXX).
Die Klägerin erhält von der Beigeladenen seit dem Oktober 2010 Leistungen, seit dem 01.01.2017 nach dem Pflegegrad 3 in Form
von Sachleistungen nach §
36 SGB XI bis zur Höchstgrenze, Betreuungs- und Entlastungsleistungen nach §
45b SGB XI in Höhe von monatlich 125,00 EUR und den Wohngruppenzuschlag nach §
38a SGB XI in Höhe von 214,00 EUR (Bescheid vom 23.03.2015). Die monatlichen Gesamtabrechnungen für Pflegesachleistungen betrugen im
streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.02.2019 bis 31.03.2019 2.691,08 EUR bzw. 2.982,92 EUR. Der den Höchstbetrag nach §
36 Abs.
3 Nr.
2 SGB XI übersteigende Anteil wird vom Sozialhilfeträger übernommen.
Die Klägerin lebt seit März 2015 in der nach dem Bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz anerkannten ambulant betreuten Wohngemeinschaft "R." zusammen mit 11 weiteren Personen, welche nicht Familienangehörige der
Klägerin sind. In dem selben Gebäude befindet sich eine weitere Wohngemeinschaft mit maximal 12 Bewohnern. Dem Aufenthalt
in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft in der "R." liegen ein Mietvertrag (a), ein Betreuungsvertrag (b), ein Pflegevertrag
(c), eine Gremiumsvereinbarung (d) und eine Präsenzkraftvereinbarung (e) zugrunde.
(a) Die Klägerin, vertreten durch ihre Betreuerin H.G., schloss am 14.03.2015 mit der Firma L., Geschäftsführer E. W. (E.W.),
einen Mietvertrag, der u.a. Regelungen zum Mietzins sowie zum Angehörigengremium enthält; wegen der Einzelheiten wird auf
Bl. 18-20 der erstinstanzlichen Gerichtsakte Bezug genommen. Die Räumlichkeiten erfüllen die Voraussetzungen für die Erbringung
von HKP-Leistungen.
(b) Unter dem 16.03.2015 schloss die Klägerin, vertreten durch ihre Betreuerin H.G., mit M., vertreten durch den Geschäftsführer
E.W., einen Betreuungsvertrag; wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 21-23 der erstinstanzlichen Gerichtsakte Bezug genommen.
(c) Ebenfalls unter dem 16.03.2015 schloss die Klägerin, vertreten durch ihre Betreuerin H.G., mit dem ambulanten Pflegedienst
unter der Firma M. den Vertrag über die Erbringung ambulanter Pflege nach §
120 SGB XI; wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 24-25 der erstinstanzlichen Gerichtsakte Bezug genommen.
(d) Unter dem 07.11.2018 wurde eine nicht unterzeichnete Neufassung einer Gremiumsvereinbarung vom 09.04.2015 für die ambulant
betreute Wohngemeinschaft "R." A-Stadt abgeschlossen und allgemeine Regelungen für die ambulant betreute Wohngemeinschaft
"R." A-Stadt bestimmt. Mit der Gremiumsvereinbarung schließen sich die Mitglieder der Wohngemeinschaft zu einem Gremium der
Selbstbestimmung zusammen, das dazu dient, das Miteinander der Wohngemeinschaft zu gestalten, gemeinsame Interessen gegenüber
Dritten zu vertreten sowie die Gemeinschaft betreffende Geschäfte abzuschließen. Unter "Wahl eines gemeinsamen Dienstleisters"
ist geregelt, dass zur Ausnutzung von Synergieeffekten eine gemeinsame Organisation der Hauswirtschaft und der Betreuung erfolgt,
dies jedoch hinsichtlich der pflegerischen Versorgung nicht gilt:
Die Wahl eines Pflegedienstes für die pflegerische Versorgung bleibt jedem Bewohner selbst überlassen.
Mit den allgemeinen Regelungen wurden die Fragen des Zusammenlebens in der Wohngemeinschaft für alle Mieterinnen und Mieter,
Angehörige und Betreuer festgelegt. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 34-38 der erstinstanzlichen Gerichtsakte Bezug genommen.
(e) Das Gremium der Selbstbestimmung der "R.", vertreten durch die Betreuerin der Klägerin H.G., die als Gremiumsprecherin
fungierte, und N. N., ausweislich des Internetauftritts von M. eine deren Bereichsleiterinnen, schlossen am 26.09.2018 eine
Präsenzkraftvereinbarung. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 38 der erstinstanzlichen Gerichtsakte Bezug genommen.
2. Unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung der Praxis Dr. med. S. R. und C. B. vom 20.12.2018, Eingang bei der Beklagten
am 10.01.2019, beantragte M. für die Klägerin Leistungen der HKP in Form von Verabreichen von Medikamenten 3 x täglich/7 x
wöchentlich für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis 31.03.2019. Die Erforderlichkeit der HKP-Leistungen stützte die Verordnung
auf die Diagnose der Demenz (ICD-10 F03.G).
Mit Bescheid vom 25.01.2019 wurde das Verabreichen von Medikamenten 3 x täglich/7 x wöchentlich letztmalig von 01.01.2019
bis 31.01.2019 bewilligt und im streitgegenständlichen Zeitraum abgelehnt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2015 festgestellt, dass selbst bei fehlendem medizinisch geschultem Personal die
einfachste Behandlungspflege in jedem Fall durch das Präsenzpersonal sicher zu stellen sei. Ab dem 01.02.2019 würden nur noch
die Kosten für das Richten von Medikamenten in einen Wochendispenser übernommen.
Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.03.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Das BSG habe im Urteil vom 24.04.2015 - Az.: B 3 KR 16/14 R bezüglich eines Versicherten, der zum Zeitpunkt der Antragstellung in einer (über Mittel der Eingliederungshilfe finanzierten)
Wohngruppe für Senioren gelebt hat, entschieden, dass Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege, die ohne medizinische Vorkenntnisse
von Laien erbracht werden können, regelmäßig der Natur der Sache nach zum Aufgabenkreis der Einrichtung gehören und somit
in jedem Fall von dem in der Einrichtung beschäftigten Personal zu erbringen sind. Für ambulante betreute Wohngemeinschaften
habe das Sozialgericht Bayreuth im Urteil vom 16.05.2018 - Az: S 8 KR 150/17 diese Rechtsprechung des BSG näher ausgelegt. Demnach beinhalte die psychosoziale Betreuung und Begleitung der Bewohner einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft,
die im Betreuungsvertrag festgelegt und damit gegenüber dem Bewohner geschuldet ist, auch die einfachste Behandlungspflege
im Sinne der Rechtsprechung des BSG. Ein im Betreuungsvertrag vereinbarter Ausschluss dieser Leistungen würde gegen das Verbot nachteiliger Vereinbarungen im
Sinne des §
32 SGB I verstoßen und wäre damit nichtig. Bei den für die Klägerin verordneten Maßnahmen (Medikamentenabgabe 3 x tgl./7 x wtl.) handele
es sich um Maßnahmen der einfachsten Behandlungspflege, welche bereits durch die ambulant betreute Wohngemeinschaft unentgeltlich
zu erbringen seien. Eine Kostenübernahme durch die Beklagte sei demnach nicht möglich.
3. Dagegen hat die Klägerin Klage zum SG Landshut erhoben und einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten des Pflegedienstes
gemacht. Die Rechnungen vom 05.03.2019 und 04.04.2019 in Höhe von gesamt 633,66 EUR für den Zeitraum vom 01.02.2019 bis 31.03.2019
beziehen sich auf tatsächlich erbrachte Leistungen, die in Höhe und Umfang von den Beteiligten unstreitig als angemessen und
notwendig angesehen werden und nicht durch Zuzahlungen reduziert werden, da die Klägerin als SGB XII-Leistungsempfängerin davon befreit ist.
Zur Begründung des Freistellungsanspruchs hat die Klägerin vorgetragen, dieser basiere auf §
37 Abs.
2 SGB V. Die Wohngemeinschaft, in welcher sie lebe, sei ein geeigneter Ort für die Erbringung der HKP. Die Rechtsprechung des BSG zu den Einrichtungen der Eingliederungshilfe, Urteile vom 25.02.2015 - Az.: B 3 KR 10/14 R und B 3 KR 11/14, finde keine Anwendung. Der Anspruchsausschluss gemäß §
37 Abs.
3 SGB V greife nicht, denn im Haushalt der Klägerin lebe keine Person, die die benötigten Leistungen vorrangig zu erbringen hätte.
Auch erfolge keine pauschale Abgeltung durch den Zuschlag nach §
38a SGB XI. Eine individuelle pflegerische Versorgung finde durch die Präsenzkraft nach §
38a SGB XI nicht statt. Aus der Präsenzkraftvereinbarung sei ersichtlich, dass diese schon arbeitsrechtlich gar nicht zur Übernahme
von Leistungen der häuslichen Krankenpflege gezwungen werden könne. Weiter ergebe sich aus diesem Vertrag, dass die Präsenzkraft
an mindestens 8 Stunden pro Woche persönlich in der Wohngemeinschaft anwesend zu sein habe bei einer Verteilung auf mindestens
zwei Tage pro Woche. Darüber hinaus sei in der Wohngruppe regelmäßig die Hauswirtschaftskraft in der Zeit von 8:00 bis 16:00
Uhr anwesend und die ambulanten Pflegekräfte im Rahmen der jeweiligen Pflegeverträge.
Die Beklagte hat auf die angegriffenen Bescheide verwiesen.
Mit Urteil vom 18.06.2019 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben, die streitgegenständlichen Bescheide abgeändert und
die Beklagte zur Freistellung der Klägerin von den streitigen Kosten des Pflegedienstes verurteilt. Die ambulante Wohngruppe
der Klägerin sei ein geeigneter Ort zur Erbringung von Leistungen der HKP. Die Leistungen seien nicht im Rahmen einer Gesamtverantwortung
von der Einrichtung, wie dies vom BSG für Einrichtungen der Eingliederungshilfe festgestellt worden ist, geschuldet.
4. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen, sie habe im Einzelfall zu prüfen, ob ein Anspruch der Klägerin
gegen die Einrichtung auf Erbringung von Behandlungspflege bestehe. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Erbringung einfachster
medizinischer Behandlungspflege ohne medizinische Fachkenntnisse gegen die Wohngruppe aus dem Betreuungsvertrag. Diese Leistungen
seien durch den Wohngruppenzuschlag abgegolten. Die Wohngruppe entspreche einer stationären Einrichtung, nur die Gestaltung
der Verträge umgehe die Heimaufsicht des §
71 Abs.
2 SGB XI. Wenn eine Wohngruppe als ambulante Einrichtung qualifiziert werde, gelte auch §
37 Abs.
3 SGB V. Der Ausschluss der HKP in §
2 des Betreuungsvertrags sei nichtig.
Die Klägerin hat vorgetragen, ein Anspruch gegenüber der Einrichtung auf Erbringung häuslicher Krankenpflege ergebe sich aus
dem Betreuungsvertrag nicht und könne nicht in diesen hineingelesen werden. Betreuungsleistungen seien auch nach dem Verständnis
des Gesetzgebers im Recht der Pflegeversicherung angesiedelt und nicht bei der HKP. Die Qualifizierung als einfachste Maßnahme
der Krankenpflege durch das BSG erlaube nicht, dass sich die Beklagte der Pflicht der Erbringung entledigen könne. Die Wohngruppe habe gerade keine gesetzliche
Aufgabenzuweisung, daher seien nur die Verträge und Vereinbarungen von Relevanz. Die Präsenzkraft können die HKP-Leistungen
aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen ebenfalls nicht erbringen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 18.06.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten beider Instanzen, hier insbesondere zu den Erklärungen
der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung auf die Niederschrift vom 20.08.2019, sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Die Klägerin hat, wie vom Sozialgericht zutreffend entschieden,
einen Anspruch auf Kostenerstattung für Leistungen der häuslichen Krankenpflege im streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.02.2019
- 30.04.2019. Hinsichtlich der verweigerten Genehmigung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Form von Medikamentengabe
sind die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage der Kostenfreistellung sind sowohl §
37 Abs.
4 SGB als auch §
13 Abs.
3 S. 1
SGB V. Diese Anspruchsgrundlagen können nebeneinander zur Anwendung kommen, da sie unterschiedliche Konstellationen betreffen (dazu
I.), vgl. BSG, Urteil vom 30. November 2017 - B 3 KR 11/16 R, Rz. 14 nach juris. Beide setzen einen Sachleistungsanspruch auf häusliche Krankenpflege nach §
37 Abs.
2 SGB V voraus (dazu II).
I. Neben §
37 Abs.
4 SGB V und §
13 Abs.
3 SGB V scheidet als Rechtsgrundlage §
6 Abs.
6 der Richtlinie über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege aus (HKP-RL vom 17.9.2009, BAnz vom 9.2.2010 bzw. vom 21.10.2010,
BAnz vom 14.1.2011, 339, Stand: 17. Januar 2019). Nach dieser Vorschrift hat die Krankenkasse zwar bis zur Entscheidung über
die Genehmigung die Kosten für die vertragsärztlich verordneten und vom Pflegedienst erbrachten Leistungen entsprechend der
vereinbarten Vergütung nach §
132a Abs.
2 SGB V zu tragen, wenn die Verordnung spätestens an dem dritten der Ausstellung folgenden Arbeitstag der Krankenkasse vorgelegt
wird. Der Pflegedienst hatte vorliegend bis zum Zeitpunkt der Ablehnungsentscheidung (25.01.2019) noch keine Leistungen der
häuslichen Krankenpflege erbracht.
1. Nach §
37 Abs.
4 SGB V (idF des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 20.12.1988, BGBl I 2477) sind den Versicherten die Kosten für
eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse keine Kraft für die häusliche Krankenpflege
stellen kann (Alt. 1) oder Grund besteht, davon abzusehen (Alt. 2).
Die Klägerin hat am 10.01.2019 einen Anspruch auf HKP-Leistungen gestellt. Nach der Aussage der Beklagten in der mündlichen
Verhandlung am 20.08.2019 steht fest, dass diese - wie in der Praxis üblich - selbst keine Kraft für die häusliche Krankenpflege
stellen kann. Im Übrigen lässt die Beklagte auch durch sie bewilligte HKP-Leistungen (hier: Richten von Medikamenten) durch
M. ausführen. Da somit Alt. 1 erfüllt ist, wandelt sich der die häusliche Krankenpflege betreffende Sachleistungsanspruch
in einen Kostenerstattungsanspruch um (stRspr, vgl. BSG, Urt. v. 26.03.1980 - 3 RK 47/79). Die Angemessenheit der Leistung in Höhe und Umfang (Rechnungen des Pflegedienstes vom 05.03.2019 bzw. 04.04.2019 in Höhe
von insgesamt 633,66 EUR) ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die Klägerin ist als Leistungsempfängerin nach dem
SGB XII von der Zuzahlung nach §
62 SGB V befreit.
2. Daneben besteht ein Kostenfreistellungsanspruch nach §
13 Abs.
3 S. 1
SGB V (idF des Gesetzes vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Danach wandelt sich der Sachleistungsanspruch in einen Kostenerstattungs-
bzw. Kostenfreistellungsanspruch um, wenn eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig von der Krankenkasse erbracht werden
konnte, d.h. wenn ein Fall vorliegt, der es dem Versicherten unmöglich macht, den mit der Antragstellung beginnenden regelmäßigen
Beschaffungsweg zu beschreiten (Alt. 1, dazu a) oder wenn die Krankenkasse einen Antrag des Versicherten auf Gewährung der
Sachleistung häusliche Krankenpflege "zu Unrecht abgelehnt" hat (Alt. 2, dazu b) und dem Versicherten dadurch Kosten entstanden
sind, weil er sich - hier - gezwungen sah, sich eine Krankenpflegeperson selbst zu beschaffen.
a) Ein Anspruch nach §
13 Abs.
3 S. 1 Alt. 1
SGB V scheidet aus, weil kein Fall der Unaufschiebbarkeit vorlag. Für den Versicherten wurden Leistungen bei der Beklagten am 10.01.2019
beantragt, die die Beklagte schon am 25.01.2019 abgelehnt hatte, bevor der ambulante Pflegedienst ab dem 01.02.2019 die streitigen
HKP-Leistungen erbrachte.
b) Es liegt ein Anwendungsfall von §
13 Abs.
3 S. 1 Alt. 2
SGB V vor. Über den ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich des Kostenerstattungsanspruchs hinaus ist §
13 Abs.
3 S. 1 Alt. 2
SGB V auch auf Fälle der Kostenfreistellung anzuwenden (stRspr, vgl. zB BSG, Urt. v. 07.05.2013 - B 1 KR 44/12 R). Ein Anspruch besteht dann, wenn zwischen der rechtswidrigen Ablehnung der Sachleistung durch die Krankenkasse und dem Kostennachteil
des Versicherten ein Ursachenzusammenhang besteht (stRspr, vgl. bspw. BSG, Urt. v. 04.04.2006 - B 1 KR 12/14 R). An einem solchen Kausalzusammenhang fehlt es, wenn der Versicherte sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse
ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer festgelegt
hatte und fest entschlossen war, sich die Leistung selbst dann zu beschaffen, wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnen sollte
(stRspr, vgl. zB BSG, Urt. v. 11.09.2012 - B 1 KR 3/12 R). Anspruchshindernd wäre insofern bereits ein unbedingtes Verpflichtungsgeschäft im Verhältnis zwischen der Klägerin und
M., denn die Krankenkasse muss zunächst die rein faktische Möglichkeit haben, sich mit dem Leistungsbegehren zu befassen,
es zu prüfen und ggf. Behandlungsalternativen aufzuzeigen, bevor eine Selbstbeschaffung mit Kostenerstattungsanspruch in Betracht
kommt (vgl. bspw. BSG, Urt. v. 11.05.2017 - B 3 KR 30/15 R). Aus den Verträgen zwischen der Klägerin und M. sind keine Vereinbarungen ersichtlich, welche die Erbringung von Leistungen
zur HKP und deren Vergütung regeln. Daher ist nach praktischer Anschauung davon auszugehen, dass ab dem in der jeweiligen
ärztlichen Verordnung genannten Leistungsbeginn konkludent Einzelaufträge erteilt werden, deren Vergütungspflicht durch Annahme
der Leistungen entsteht. Im Übrigen ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass im Vorfeld des Ablehnungsbescheids der
Beklagten von der Klägerin keine verbindlichen Verpflichtungsgeschäfte mit einem bestimmten Pflegedienst zur Erbringung der
HKP abgeschlossen worden sind und dass die Leistungen im streitgegenständlichen Zeitraum durch den Pflegedienst tatsächlich
erbracht worden sind.
In seiner Höhe entspricht der Freistellungsanspruch nach §
13 Abs.
3 SGB V vorliegend dem nach §
37 Abs.
4 SGB V. Der Vergütungsanspruch von M., dem die Klägerin ausweislich der Rechnungen vom 05.03.2019 und 04.04.2019 ausgesetzt ist,
ist - wie von der Beklagten im Übrigen nicht bestritten wird - in seiner Höhe (633,66 EUR) notwendig. Die Klägerin ist als
Leistungsempfängerin nach dem SGB XII von der Zuzahlung nach §
62 SGB V befreit.
Da der Kostenfreistellungsanspruch nach §
13 Abs.
3 S. 1 Alt. 2
SGB V nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch reicht, setzt er voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung
zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkasse allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen hat (stRspr,
vgl. bspw. BSG Urt. v. 07.03.2012 - B 1 KR 6/11).
II. Die Klägerin hat einen Primärleistungsanspruch gegen die Beklagte auf Leistungen der HKP in Form der Behandlungssicherungspflege
nach §§
27 Abs.
1 S. 2 Nr.
4,
37 Abs.
2 SGB V, §
2b Abs.
1 HKP-RL basierend auf der ärztlichen Verordnung vom 20.12.2018.
1. Dazu werden zunächst folgende Feststellungen getroffen:
a) Die betagte multimorbide Klägerin leidet nach der medizinischen Dokumentation, insbesondere nach dem Pflegegutachten der
Beigeladenen vom 27.10.2010, u.a. an Demenz bei rezidivierenden Kleinhirninfarkten, an Bluthochdruck sowie an essentieller
Hypertonie und Diabetes mellitus mit multiplen Komplikationen. Sie ist Analphabetin und seit Geburt leicht debil. Sie ist
deswegen durch Beschluss des zuständigen Amtsgerichts seit 2000 unter Betreuung gestellt. Zur Behandlung ihrer Erkrankungen
ist sie laut ärztlichem Behandlungsplan mehrmals täglich auf mehrere Medikamente angewiesen. Diese einzunehmen ist sie bedingt
durch Ihren Analphabetismus, durch demenzbedingte mögliche Aggressivität und Uneinsichtigkeit, sowie durch einen Tremor nicht
in der Lage, geschweige denn zu den richtigen Uhrzeiten. Wegen der Demenz kann sie nicht feststellen, ob bzw. welche Medikamente
bereits eingenommen wurden. Die Klägerin ist damit nicht in der Lage, sich ihre erforderliche Medikation ohne fremde Hilfe
zuzuführen. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
b) Die Klägerin lebt seit März 2015 dauerhaft zur Miete in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft "R." (Im Folgenden: WG) zusammen mit 11 weiteren hilfebedürftigen Personen. In dem selben Gebäude vermietet der Vermieter L. Räume an eine weitere
Wohngemeinschaft mit bis zu 12 Bewohnern. Im Mietvertrag ist u.a. geregelt:
§ 1 Mietgegenstand:Vermietet werden in der "R." folgende Wohnräume: Zimmer Nr. 11 mit 31,37 m², Gemeinschaftsflächen mit 23,33
m², insgesamt somit 54,70 m² Wohnfläche.
§ 4 Mietzins und Nebenkosten:Der Mieter zahlt monatlich:Mietzins: 464,95 EURBetriebskosten: 220,00 EURGesamt: 684,95 EUR
§ 13 Besondere Vereinbarung zur Wohngemeinschaft / Bewohnergremium / Angehörigengremium: Die Wohngemeinschaft setzt sich aus
maximal 12 BewohnerInnen im Erdgeschoss und max. 12 BewohnerInnen im 1. Obergeschoss zusammen. Der Vertrag ist in seiner Wirksamkeit
abhängig von einer Mitgliedschaft im Angehörigengremium. Die Mitgliedschaft ist gesondert geregelt. Für den Mieter ist die
vom Gremium festzusetzende Hausordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung bindend.
Die WG und der Raum der Klägerin erfüllen von Größe und Ausstattung her die Anforderungen und aktuellen Standards hinsichtlich der
Raumgrößen, der hygienischen Bedürfnisse, der Beleuchtung und Belüftung, der Wahrung der Intimsphäre und zwar rund um die
Uhr. Die entsprechenden Anforderungen des § 1 Abs. 2 HKP-RL sind deshalb tatbestandlich erfüllt. Es leben dort keine pflegebereiten
Angehörigen der Klägerin, ihre 11 Mitbewohner sind ebenfalls pflegebedürftig. Dies ist unter den Beteiligten zudem nicht strittig,
so dass sich insoweit nähere Prüfungen und Sachaufklärungsmaßnahmen erübrigen (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens z.B.
BSG, Urt. vom 21.4.2015 - B 1 KR 8/15 R; Bayer. LSG, Urteil vom 13. März 2018 - L 5 KR 504/15, Rn. 20 mwN - zitiert nach Juris).
c) Der zwischen der Klägerin und "M. wirksam abgeschlossene Betreuungsvertrag hat ua folgenden Inhalt:
§ 2 Leistungsumfang1. Der Pflegedienst erbringt in der Wohngemeinschaft im Rahmen der 24-stündigen Anwesenheit eines Mitarbeiters
des Pflegedienstes Leistungen der psychosozialen Betreuung und Begleitung mit ständiger Erreichbarkeit einer Pflegefachkraft.
Behandlungspflegerische Leistungen gem. §
37 SGB V, sowie hauswirtschaftliche und/oder pflegerische Leistungen im Sinne des
SGB XI werden gesondert im Pflegevertrag vereinbart und entsprechend dieser Vereinbarungen erbracht und vergütet.2. Die Inhalte
der psychosozialen Betreuung und Begleitung sind in der nachfolgenden Aufstellung aufgeführt. Die Leistungen des Betreuungsvertrages
werden den individuellen Bedürfnissen der Leistungsnehmer angepasst.
§ 3 VergütungDie psychosoziale Betreuung und Begleitung wird im Rahmen der 24-stündigen Anwesenheit eines Mitarbeiters des
Pflegedienstes täglich erbracht. Die Vergütung für die in diesem Vertrag festgelegten Leistungen beträgt monatlich EUR 680,00
(Betreuungspauschale).
d) Der zwischen der Klägerin und "M., vertreten durch E. W., wirksam abgeschlossene Vertrag zur ambulanter Pflege nach §
120 SGB XI enthält namentlich folgende Regelungen:
§
1 Allgemeine BestimmungenDer Pflegedienst ist nach §
120 SGB XI verpflichtet, mit dem Leistungsnehmer einen schriftlichen Pflegevertrag abzuschließen, sofern er für diesen Pflegesachleistungen
nach §§
36,
38 SGB XI erbringt. Eine Ausfertigung dieses Pflegevertrages ist der Pflegekasse des Leistungsnehmers durch den Pflegedienst unverzüglich,
spätestens jedoch nach dem ersten Pflegeeinsatz zur Verfügung zu stellen. Der Pflegedienst ist durch Versorgungsvertrag nach
§
72 SGB XI zur Erbringung und Abrechnung von Pflegesachleistungen berechtigt. Er übernimmt die Betreuung und Pflege des Leistungsnehmers
nach diesem Vertrag, unter Beachtung der gesetzlichen und mit den Pflegekassen vereinbarten vertraglichen Regelungen. Er gewährleistet
eine kontinuierliche, qualitätsgerechte, dem individuellen Bedarf des Leistungsnehmers entsprechende Versorgung bei Tag und
Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen. Der Leistungsnehmer ist verpflichtet, die Entscheidung der Pflegekasse über seine Einstufung,
dem Pflegedienst unverzüglich vorzulegen. Dies gilt auch für etwaige spätere Änderungen des Leistungsbescheides der Pflegekasse.
e) Für alle Mitglieder der WG ist wirksam bestimmt:
Die Wahl eines Pflegedienstes für die pflegerische Versorgung bleibt jedem Bewohner selbst überlassen.
f) Die am 26.09.2018 mit Frau N. abgeschlossene Präsenzvereinbarung hat u.a. folgenden Inhalt:
§ 3 Aufgaben1. Fr. N. übernimmt organisatorische, verwaltende, betreuende und das Gemeinschaftsleben fördernde Aufgaben wie
z.B. die Organisation gemeinsamer Besuche von Festen, Biergärten Eisdielen, Faschingszügen, Seniorentanzveranstaltungen, usw
... Hierfür wird auch ein Betreuungskalender angelegt.2. Des Weiteren sorgt sie dafür, dass auch die alltäglichen Aufgaben
wie kochen, backen, basteln, usw ... gemeinschaftlich gemeistert werden. Hierfür kann sie weiteren Personen den Auftrag geben
oder auch selbst aktiv werden.
§ 4 Anwesenheit1. Fr. N. verpflichtet sich an mindestens 8 Stunden pro Woche persönlich in der Wohngemeinschaft anwesend zu
sein und vor Ort tätig zu werden. Die Anwesenheit sollte möglichst auf mind. 2 Tage pro Woche verteilt sein.2. Fehlzeiten
durch Urlaub, Krankheit, usw. müssen mit der Gremiumssprecherin abgesprochen werden.
§ 5 Vergütung1. Die Vergütung erfolgt durch den zuständigen Arbeitgeber. Dieser bekommt die vertraglich vereinbarte Betreuungspauschale
von jedem einzelnen Bewohner. In dieser Pauschale sind auch die Kosten für die beauftragte Person inbegriffen, die durch den
Wohngruppenzuschlag von der Pflegekasse gefördert werden.2. Basierend auf diesen Feststellungen steht der Klägerin der begehrte
Anspruch auf HKP-Leistungen in Form der Medikamentengabe gegen die Beklagte zu, denn die Klägerin benötigt diese Leistungen
(dazu a), die ambulante Wohngruppe "R." ist grundsätzlich ein geeigneter Ort zur Erbringung der HKP (dazu b). Es bestehen
nach Prüfung im Einzelfall auch keine Leistungsausschlüsse (dazu c und d).
1. Die Klägerin benötigt Leistungen der HKP in Form der Medikamentengabe zur Behandlungssicherung.
a) Leistungen der HKP blieben gemäß §
13 Abs.
2 SGB XI grundsätzlich unberührt von Ansprüchen gegen die Beigeladene. Diese hat, ausweislich des Pflegevertrags, Behandlungssicherungsleistungen
auch nicht erbracht. Dies wird von der Beklagten nicht bestritten.
Die Medikamentengabe ist als HKP-Leistung in Anlage Nr. 26 in der HKP-RL bei Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit
vorgesehen. Krankheitsbedingt reicht das von der Beklagten bewilligte Herrichten der Medikamente im Dispenser nicht zur Versorgung
der Klägerin aus.
b) Die Wohngruppe "R." (WG) ist grundsätzlich ein geeigneter Ort zur Erbringung von HKP-Leistungen durch die Beklagte (§
37 Abs.
2 S. 1
SGB V).
Hinsichtlich der Gesetzesentwicklung zu den "sonstigen geeigneten Orten" in §
37 SGB V wird auf die Ausführungen des BSG verwiesen (Urt. v. - B 3 KR 11/14 R, Rz. 12-21 zitiert nach juris), die sich der Senat zu eigen macht. An der grundsätzlichen Eignung der WG besteht im Hinblick auf die ausdrückliche Nennung von "betreuten Wohnformen" im Gesetz und in § 1 Abs. 2 S. 3 HKP-RL kein
Zweifel. Gesetzlich ist zwar nicht definiert, was unter einer betreuten Wohnform zu verstehen ist (vgl. BSG, Urt. v. 18.02.2016 - B 3 P 5/14 R, Rz. 8 nach juris, BT-Drs- 17/9369 S. 41), anerkannt sind jedoch - unter Berücksichtigung fließender Übergänge und dynamischer
Entwicklung - sinnvolle Zwischenformen zwischen Pflege in häuslicher Umgebung und vollstationärer Pflege (LSG NRW, Urt. v.
20.09.2018 - L 5 P 97/17).
c) Es besteht kein Leistungsausschluss nach §
37 Abs.
3 SGB V.
In der WG wohnen keine Personen, die im Rahmen der Laienpflege die HKP übernehmen können, da dort keine pflegebereiten Angehörigen
der Klägerin leben und ihre 11 Mitbewohner ebenfalls pflegebedürftig sind.
Betreuer und Pflegepersonen, die sich zur Erfüllung ihrer vertraglichen Pflichten in der WG aufhalten, sind nicht kontinuierlich in den Wohn- und Lebensbereich eingebunden und können nicht mit Haushaltsangehörigen
gleichgestellt werden. Aufgrund des Ausnahmecharakters verbietet sich eine Ausdehnung der Vorschrift §
2 Abs.
2 SGB I (vgl. BSG, Urt. v. 30.03.2000 - B 3 KR 23/99, Rz. 16f. nach juris).
d) Es besteht kein vorrangiger Anspruch auf Erbringung von HKP-Leistungen gegenüber der WG, die einen Anspruch gegen die Beklagte ausschließen würden (§ 1 Abs. 6 HKP-RL, vgl. auch BSG, Urt. v. 28.05.2003 - B 3 KR 32/02 R).
aa) Die WG ist keine zugelassene stationäre Einrichtung nach §
71 Abs.
2 SGB XI, in welcher die Erbringung von Leistungen der medizinischen Behandlungspflege bereits im Leistungsspektrum enthalten ist,
soweit - wie vorliegend - kein besonders hoher Bedarf besteht (§
37 Abs.
2 S. 3
SGB V, §
1 Abs.
6 S. 2 HKP-RL).
Die Beigeladene hat die WG heimrechtlich als ambulant betreute Wohngemeinschaft anerkannt (§§ 2 Abs. 3, 18 ff. PfleWoqG) und gewährt den Bewohnern den Wohngruppenzuschlag nach §
38a SGB XI sowie den Entlastungsbetrag nach §
45b SGB XI. Dem hat sich die Beklagte in den letzten Jahren zu keinem Zeitpunkt entgegengestellt.
Personelle Verknüpfungen zwischen dem Vermieter und den Erbringern der Pflege- und Betreuungs- und Präsenzkraftleistungen
- vorliegend in der Gestalt des E.W., zugleich Geschäftsführer der L. und M. - führen nicht dazu, dass eine von der Beigeladenen
als ambulant betreute Wohngemeinschaft qualifizierte Wohnform vorliegend daraufhin überprüft werden muss, ob diese nur zur
Umgehung der Verpflichtungen einer stationären Einrichtung gem. § 2 Abs. 1 PfleWoqG gegründet worden ist.
Das bundesrechtliche
Heimgesetz (§
1 Abs.
2 S. 3
HeimG) ist nicht anwendbar, da die Klägerin, ausweislich der vorliegenden Verträge, durch Abschluss des Mietvertrages nicht verpflichtet
wird, Pflegeleistungen von einem bestimmten Anbieter anzunehmen.
bb) Die Prüfung im Einzelfall führt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin weder einen gesetzlichen noch privatrechtlichen Anspruch
auf HKP in Form der Medikamentengabe gegen die WG hat, die im Verhältnis zu einem Anspruch gegen die Beklagte vorrangig sind.
Streitgegenständliche HKP-Leistung ist vorliegend die Medikamentengabe, die in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
3. Senats des BSG als einfachste Leistung der HKP im Gegensatz zur qualifizierten Leistung einzuordnen ist. In Anknüpfung an §
37 Abs.
3 SGB V können einfachste Leistungen praktisch von jedem erwachsenen Haushaltsangehörigen erbracht werden. Sie erfordern keine medizinische
Sachkunde. Da zählen neben der Medikamentengabe nach ärztlicher Anweisung, die Blutdruck- und Blutzuckermessung, das Anziehen
von Thrombosestrümpfen, das An- und Ablegen von Stützverbänden, das Einreiben mit Salben oder die Verabreichung von Bädern
(BSG, Urt. v. 25.02.2015 - B 3 KR 11/14 R, Rz. 28 nach juris).
aaa) In Abgrenzung zur Rechtsprechung des 3. Senats aus 2015 (Urt. v. 25.02.2015 - B 3 KR 10/14 und 11/14 R, v. 22.04.2015
- B 3 KR 16/16 R), die Einrichtungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII betraf, sind vorliegend keine gesetzlichen Ansprüche auf die Erbringung einfachster Leistungen der HKP gegen die WG ersichtlich. Im Bereich des ambulanten Wohnens gibt es weder ein Dreiecksverhältnis Nutzer - Einrichtung - Sozialhilfeträger
noch gesetzliche Regelungen, die den Schluss zulassen, dass die Erbringung einfachster medizinischer Leistungen nach der Natur
der Sache zum Aufgabenbereich der WG gehören. Einrichtungen zur Eingliederungshilfe haben den gesetzlichen Auftrag, Menschen Hilfe zur Wiedererlangung von Selbständigkeit
zu gewähren. Erbringt der Träger der Sozialhilfe die Leistungen der Eingliederungshilfe in einer vollstationären Einrichtung
der Hilfe für behinderte Menschen, wird grundsätzlich der gesamte Bedarf des Hilfebedürftigen nach § 9 Abs. 1 SGB XII in der Einrichtung in einrichtungsspezifischer Weise befriedigt. Die Einrichtung übernimmt für den Hilfebedürftigen von dessen
Aufnahme bis zur Entlassung die Gesamtverantwortung für seine tägliche Lebensführung (BSG, Urt.v. 22.04.2015 - B 3 KR 16/14 R, Rz. 27 zitiert nach juris). Darunter fallen auch Gesundheitsbelange wie Medikamenteneinnahme, deren Übernahme durch die
Einrichtung gemäß §§ 55 S. 1, 75 ff. SGB XII vereinbart werden kann (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 24.02.2010 - L 9 KR 23/10 B ER). Ob eine WG für demente, alte Menschen, deren Gesundheitszustand sich naturgemäß progredient verschlechtert, "vergleichbare Eingliederungsleistungen"
(BSG, Urt. v. 25.02.2015 - B 3 KR 11/14 R, Rz. 28 nach juris) erbringen kann, darf offenbleiben, denn es fehlt bei dem hier vorliegenden selbstbestimmten Zusammenschluss
von Pflegebedürftigen auf der Basis zivilrechtlicher Verträge an gesetzlichen Regelungen und Aufgabenzuweisungen, die dem
SGB XII entsprechen.
bbb) Ebenso wenig bestehen vorrangige zivilrechtliche Ansprüche der Klägerin gegen die WG. Weder aus einem der von der Klägerin abgeschlossenen Verträge, noch aus dem Gedanken der Gesamtverantwortung können Ansprüche
gegen die WG hergeleitet werden.
(1) Der Mietvertrag vom 14.03.2015 hat die Überlassung von Wohnraum zum Gegenstand.
(2) Der Pflegevertrag vom 16.03.2015 beinhaltet nur Leistungen der ambulanten Pflege nach §§
120 SGB, 36, 38
SGB XI und keine Leistungen der Behandlungspflege nach §
37 Abs.
2 SGB V.
(3) Der Betreuungsvertrag vom 16.03.2015 regelt in § 2 Nr. 2 Leistungen der psychosozialen Betreuung und Begleitung. Diese
werden mit einer Pauschale von 680 EUR mtl., d.h. 23 EUR pro Tag bei 24-Stunden-Präsenz abgerechnet. Der Leistungsinhalt ist
vertraglich definiert und verfolgt insgesamt das Ziel der Hilfe zur menschenwürdigen, sozialen Alltagsgestaltung. Behandlungspflegerische
Maßnahmen nach §
37 SGB V und Pflegeleistungen nach dem
SGB XI sind nach dem Wortlaut des Vertrages (§
2 Nr. 1) ausdrücklich ausgeschlossen. Damit hat die Klägerin gerade keinen umfassenden Wohn- und Betreuungsvertrag abgeschlossen.
Der vertragliche Ausschluss in §
2 Nr. 1 Betreuungsvertrag ist zulässig und rechtswirksam. Er ist insbesondere nicht gemäß §
32 SGB I nichtig (so SG Bayreuth, Urt. v. 16.05.2018 - S 8 KR 150/17). Zweck der Vorschrift ist es, eine Beeinträchtigung des durch die Normen der Sozialgesetzbücher gewährten sozialen Schutzes
durch nachteilige privatrechtliche Vereinbarungen zu verhindern. Sie hat demnach Schutzfunktion. Es geht insbesondere darum,
dass die Begünstigten die in den Sozialgesetzbüchern vorgesehenen Sozialleistungen nach den von dem jeweiligen Gesetz aufgestellten
Voraussetzungen erhalten. §
32 SGB I gilt demnach bei Benachteiligung eines Sozialleistungsberechtigten im Hinblick auf seine gesetzlichen Rechte. Vorliegend
wird allenfalls ein Sozialversicherungsträger benachteiligt, indem Leistungen, die dieser nach dem
SGB V erbringen kann bzw. muss, ausdrücklich nicht Inhalt eines zivilrechtlichen Leistungsvertrages wurden. Dies ist von der Vertragsfreiheit
und dem sozialrechtlichen Selbstbestimmungsrecht der Leistung gedeckt (Art.
2 Abs.
1 iVm Art.
1 GG, §
33 S. 2
SGB I). Die Bewohner der WG haben sich gerade darauf geeinigt, individuell benötigte Leistungen - wie Pflege und Krankenbehandlung - nicht gemeinschaftlich
zu organisieren, sondern durch Einzelverträge abzuwickeln (vgl. Gremiumsvereinbarung vom 09.04.2015 in der Version vom 07.11.2018).
Gegen die Ableitung von Ansprüchen auf einfachste behandlungspflegerische Tätigkeiten aus dem Betreuungsvertrag nach der Natur
der Sache spricht zudem die mangelnde wirtschaftliche Abbildung dieser Leistungen in der Vergütungspauschale wie auch die
Pflegerealität. Die Erbringung von behandlungspflegerischen Leistungen wäre im Rahmen des Rechtsgedankens des §
37 Abs.
3 SGB V nicht zumutbar. Nicht vorstellbar ist, wie eine Betreuungsperson es faktisch leisten sollte, bei mehreren Demenzkranken ggf.
gleichzeitig, bspw. vor den Mahlzeiten, und mehrmals pro Tag medizinisch erforderliche Maßnahmen wie vorliegend die Medikamentengabe,
oder zusätzlich die Blutzuckermessen durchzuführen, auch wenn diese grundsätzlich einfach sind und keine medizinische Sachkunde
erfordern. Dazu kommt, dass Demenzkranke pflegerische Maßnahmen zum Teil ablehnen, laut Pflegegutachten der Beigeladenen wird
auch die Klägerin als teilweise aggressiv, uneinsichtig und unkooperativ eingestuft.
Damit können und müssen die Pflegeleistungen im Rahmen der Leistungsverpflichtungen aus dem vorliegenden Betreuungsvertrag
- anders als bei Einrichtungen nach dem SGB XII, vgl. B 3 KR 11/14, aaO, Rz. 28 zitiert nach juris - nicht erbracht werden.
(4) Aus dem Präsenzkraftvertrag vom 26.09.2018 können keine Individualansprüche einzelner WG-Bewohner abgeleitet werden. Die Präsenzkraft wird durch den Wohngruppenzuschlag des §
38a SGB XI finanziert, den die Beigeladene den Bewohnern der WG gewährt, und übernimmt zusätzliche Aufgaben. Nach dem Willen des Gesetzgebers dient der Wohngruppenzuschlag der Abgeltung
des zusätzlichen Aufwands, der durch die Selbstorganisation der Pflege mit Beiträgen der Bewohner oder ihres sozialen Umfelds
(vgl. BT-Drs. 18/2909 S. 42) entsteht. Der Aufgabenbereich einer Präsenzkraft ist damit von der pflegerischen Versorgung der
Bewohner abzugrenzen (BSG, Urt. v. 18.02.2016 - B 3 P 5/14 R). Eine Präsenzkraft wird von allen Bewohnern gemeinsam beauftragt und ist allen - im vorliegenden Fall 12 Personen - gleichermaßen
in der Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet. Unabhängig von einer tatsächlichen Überforderung einer Präsenzkraft - die vertraglich
im Übrigen auch nur acht Stunden pro Woche in der WG anwesend sein muss - mit der Erbringung von Leistungen der Behandlungspflege für 12 Personen, hat diese nach der gesetzlichen
Aufgabenzuteilung keine der einer Sozialarbeiterin in einer Einrichtung nach dem SGB XII vergleichbare Pflichtenstellung.
(5) Aus der Konstruktion einer ambulanten Wohngruppe nach dem Baukastensystem unter (Aus-)Nutzung der gespaltenen Finanzierungsverantwortung
und der unterschiedlichen Finanzierungslogiken der Beklagten und der Beigeladenen kann kein Anspruch der Bewohner auf Übernahme
der HKP aus einer "Gesamtverantwortung" der Wohngemeinschaft abgeleitet werden. Die Klägerin hat sich - basierend auf den
Notwendigkeiten der Pflegebedürftigkeit und im Ergebnis tatsächlich ähnlich einem stationären Setting - Einzelleistungen durch
privatrechtliche Verträge eingekauft, die teilweise durch die Sozialversicherungsträger finanziert werden. Dies mag dazu führen,
dass aufgrund des Bedarfsdeckungsprinzips des
SGB V durch die Beklagte und die Beigeladene höhere Leistungen zu gewähren sind als bei der Wahl einer vollstationären Einrichtung
nach §
43 SGB XI. Die Wohnform der selbst organisierten pflegerischen Versorgung auf der Grundlage eines Baukastensystems ist jedoch nicht
nur erlaubt, sondern gewünscht und durch den Gesetzgeber mit Zuschlägen nach dem
SGB XI gefördert. Daher gibt es keine gesetzliche Grundlage, um - zur Vermeidung der Kostenverschiebung auf die Krankenkassen oder
im Rahmen eines Gleichbehandlungsgebots, vgl. dazu Opolony, medizinische Behandlungspflege und Pflegebedürftigkeit, NZS 2017,
409 ff. - eine faktische Pflegeeinrichtung anzunehmen (so auch BSG, Urt. v. 30.11.2017 - B 3 KR 11/16 R, Rz. 30f. zitiert nach juris) und dadurch eine über Leistungspflichten aus den Einzelverträgen hinausgehende Gesamtverantwortung
der ambulanten Wohngruppe zu fingieren. Diese ergibt sich auch dann nicht, wenn eine personellen Verknüpfung der gesellschaftsrechtlich
unabhängigen Vertragspartner der Klägerin - vorliegend in der Gestalt des E.W., zugleich Geschäftsführer der L. und M. - besteht.
Damit bleibt die Berufung der Beklagten vollumfänglich ohne Erfolg.
Die Kostenerfolge ergibt sich aus §§
193,
183 SGG.
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).