Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung einer Bewilligung von Alg für den Zeitraum vom 01.02.2003 bis 31.03.2003 samt Rückforderung
bereits gewährter Leistungen in Höhe von 2.638,48 EUR streitig.
Der 1940 geborene Kläger meldete sich am 15.01.2003 mit Wirkung zum 01.02.2003 arbeitslos, beantragte Arbeitslosengeld und
gab dabei insbesondere an, nicht in seiner Vermittlungsfähigkeit eingeschränkt zu sein. Er war zuletzt vom 01.08.1998 bis
31.01.2003 als Vertriebsleiter Großkunden bei der A. AG beschäftigt. Die Kündigungsfrist betrug sechs Monate zum Monatsende.
Am 20.08.2002 schloss er einen Aufhebungsvertrag zum 31.01.2003 mit einer Abfindung von 75.000,00 EUR und einer Versorgungszulage
von 14.500,00 EUR. Die Beklagte stellte den Eintritt einer Sperrzeit vom 21.08.2002 bis 21.11.2002 (Bescheide vom 13.02.2003
und 31.03.2003) sowie das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld wegen Abfindung bis 19.12.2002 (Bescheide vom 13.02.2003,
Änderungsbescheid vom 31.03.2003) fest.
Nachdem der Beklagten mitgeteilt worden war, dass der Kläger seit dem letzten Jahr bis zum 15.05.2003 durchgehend krank gewesen
sei, hob die Beklagte nach entsprechender Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 30.07.2003 die Bewilligung von Arbeitslosengeld
(Bewilligungsbescheid vom 27.03.2003) auf und forderte das gezahlte Arbeitslosengeld von 2.638,48 EUR für den Zeitraum vom
01.02.2003 bis 31.03.2003 zurück. Der Kläger sei seit 2002 durchgehend bis 15.05.2003 arbeitsunfähig krank und stehe somit
dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Er habe erkennen können, dass die Bewilligung fehlerhaft gewesen sei. Der Widerspruch
des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17.11.2003).
Im Rahmen des Klageverfahrens hat das Sozialgericht München - SG - mehrfach vergeblich Erklärungen des Klägers hinsichtlich der Entbindung von der Schweigepflicht angefordert und auf die
Mitwirkungspflicht sowie darauf hingewiesen, dass die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts, die auf eine Verletzung der Mitwirkungspflicht
zurückzuführen sei, zu Lasten des Klägers gehe. Ein Schreiben des SG vom 29.01.2004 hat die A. Private Krankenversicherungs-AG (A) wegen Fehlens einer Schweigepflichtsentbindungserklärung nicht
beantwortet.
Mit Urteil vom 14.02.2006 hat das SG die Klage abgewiesen und ausgeführt, A habe mit im Rahmen des Urkundenbeweises zu würdigendem Schreiben vom 08.09.2003 bestätigt,
dass der Kläger seit 19.12.2002 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt sei. Dies umfasse auch den strittigen Zeitraum. Die Beweiserhebung
sei an der Mitwirkung des Klägers gescheitert. Die Erklärung im Rahmen des Arbeitslosengeldantrags, dass die Vermittlungsfähigkeit
des Klägers nicht eingeschränkt sei, sei nach seinen eigenen Einlassungen widerlegt. Ob eine Restleistungsfähigkeit auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt vorgelegen habe, habe auf Grund dieser Falschauskunft von der Beklagten nicht überprüft werden können.
Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und ausgeführt, die private Krankenversicherung habe ab dem 01.02.2003 jegliche
Leistungen (Krankentagegeld) verweigert, da das Vorliegen vollständiger akuter Arbeitsunfähigkeit (AU) bestritten worden sei.
Der Kläger habe keine falschen Angaben gemacht. Es sei richtig, dass der Kläger in der Vergangenheit hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit
eingeschränkt gewesen sei. Seitens A sei das Vorliegen vollständiger AU bestritten worden. Das von A eingeholte Sachverständigengutachten
sei zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger zwar eine Leistungsminderung, aber keine vollständige AU im Sinne der Krankenversicherung
vorliege. Die Bewilligung von Arbeitslosengeld sei nicht rechtswidrig gewesen. Die nachträgliche Aufhebung der Alg-Bewilligung
führe dazu, dass der Kläger unter anderem den Krankenversicherungszuschuss verliere. Er sei tatsächlich bezüglich seiner Leistung
gesundheitlich eingeschränkt. Die private Krankenversicherung habe in der Vergangenheit Leistungen verweigert. Es sei zwar
zu einer Nachbewilligung gekommen, derzeit (14.05.2003) erhalte der Kläger jedoch wiederum keine Leistungen durch den privaten
Krankenversicherer. Die Beklagte habe auch keine Ermessensbetätigung vorgenommen. Die Einschätzung wegen des Eintritts einer
Berufsunfähigkeit sei strittig. Insoweit müsse §
125 Abs.1 Satz 2
SGB III analog angewandt werden. Weder dem privaten Krankenversicherer noch der Beklagten komme eine Kompetenz zu, die Frage des
dauernden Eintritts einer Berufsunfähigkeit zu entscheiden. Der Kläger habe die Abgabe einer Entbindungserklärung zu Recht
abgelehnt.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 14.02.2006 sowie den Bescheid vom 30.07.2003 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2003 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 14. Februar 2006 zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, es sei unstreitig, dass der Kläger seit 19.12.2002, zumindest bis zum Ende der Erhebung des Widerspruchs,
arbeitsunfähig erkrankt sei bzw. gewesen sei. Damit hätten ab dem Tag der Arbeitslosmeldung und Antragstellung die Anspruchsvoraussetzungen
für den Bezug von Alg nicht vorgelegen. Bewilligt worden sei die beantragte Leistung auf Grund der Tatsache, dass der Kläger
in seinem am 20.01.2003 unterschriebenen Antrag auf Alg zu seiner Arbeitsunfähigkeit Angaben gemacht habe, die sich im Nachhinein
als unrichtig herausstellten. Mit Schreiben der A vom 09.01.2002 sei es für hinfällig erklärt worden, dass beim Kläger Berufsunfähigkeit
vorliegen könne. Die Anwendung der Vorschrift des §
125 Abs.1
SGB III setze eine mehr als sechsmonatige Leistungsminderung, Beschäftigungen im Umfang von weniger als 15 Stunden auf dem in Betracht
kommenden Arbeitsmarkt betreffend, voraus, was jedoch nicht mit einer möglichen Berufsunfähigkeit gleichzusetzen sei. Darüber
hinaus wäre der maßgebende Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung unter Anwendung
des §
125 SGB III vorliegen, der 01.02.2003. Zu diesem Zeitpunkt habe zumindest nach den bisher vorliegenden Unterlagen eine mögliche Berufsunfähigkeit
auch bei A nicht mehr im Raum gestanden. Darüber hinaus stehe der vorgenannte Sachvortrag nicht in Einklang mit den Angaben
des Klägers im Antrag auf Arbeitslosengeld vom 15.01.2006. Hier sei sowohl die Frage nach einer Arbeitsunfähigkeit als auch
die Frage nach gesundheitlichen Einschränkungen verneint worden.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten beider Instanzen sowie der beigezogenen Beklagtenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die ohne Zulassung (§
144 Abs.1 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) statthafte, form- und fristgerecht eingelegte (§§
143,
151,
153 Abs.1, 87 Abs.1 Satz 2
SGG) Berufung hat keinen Erfolg, da das SG die Klage zu Recht abgewiesen hat. Denn die Voraussetzungen für die Aufhebung der Alg-Bewilligung und die Rückforderung der
gewährten Leistungen liegen vor, die angegriffenen Bescheide sind rechtmäßig.
Verfahrensgegenstand der statthaften Anfechtungsklage ist der Bescheid vom 30.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 17.11.2003, also die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld für den Zeitraum 01.02.2003 bis 31.03.2003 sowie die
Rückforderung von 2.638,48 EUR. Die Rechtmäßigkeit dieser Bescheide misst sich, da im Hinblick auf die Kenntniserlangung der
Beklagten im Jahre 2003 die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X und offensichtlich auch die Fristen des § 45 Abs. 3 SGB X eingehalten sind, an der Frage der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides zum Zeitpunkt seines Erlasses (dazu unter
1) und an den den Vertrauensschutz regelnden Vorschriften des § 45 SGB X (dazu unter 2) i.V.m. §
330 Abs.
2 SGB III. Letztgenannte Vorschrift schließt - was im Hinblick auf das Vorbringen des Klägerbevollmächtigten hervorzuheben ist - die
Ausübung von Ermessen für den vorliegenden Fall ausdrücklich aus.
1. Die Bewilligung von Alg war zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig.
Die Bescheide vom 13.02.2003 und 27.03.2003 (Alg-Bewilligungen) sind am 16.02.2003 bzw. 30.03.2003 bekanntgegeben worden (§
37 Abs.2 SGB X). Es lässt sich nicht zur vollen Überzeugung des Senats feststellen, dass zu diesen Zeitpunkten die Voraussetzungen der für
die Bewilligung von Alg maßgeblichen Rechtsgrundlagen vorlagen (dazu unter a und e). Eine weitere Sachverhaltsaufklärung ist
dem Senat wegen der fehlenden Mitwirkung des Klägers verwehrt (b). Die Beweislastentscheidung fällt zu Lasten des Klägers
aus (c), weil eine Beweislastumkehr eingetreten ist (d). Ein Anspruch des Klägers lässt sich auch nicht auf §
125 SGB III stützen (e).
Gemäß §
119 Abs.3 Nr.1
SGB III in der hier maßgeblichen, bis 31.12.2004 geltenden Fassung ist arbeitsfähig ein Versicherter, der eine versicherungspflichtige,
mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden
Arbeitsmarktes aufnehmen und ausüben kann und darf. Zum Zeitpunkt der Bewilligung (und insgesamt im hier fraglichen Bewilligungszeitraum
Februar bis März 2003) war der Kläger mangels Arbeitsfähigkeit nicht arbeitslos und die Bewilligung von Arbeitslosengeld daher
wegen Fehlens der Tatbestandsvoraussetzungen des §
117 SGB III rechtswidrig. Dies ergibt sich aus einer Beweislastentscheidung.
a. Es lässt sich nicht zur vollen Überzeugung des Senats feststellen, ob der Kläger im Zeitraum Februar und März 2003 in der
Lage war, eine versicherungspflichtige mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen
des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufzunehmen und auszuüben. Diesbezügliche Zweifel ergeben sich aus den folgenden
Überlegungen. Der Kläger stellte sich zwar anlässlich seiner Arbeitslosmeldung am 15.01.2003 in Vollzeit ohne Einschränkungen
zur Verfügung. Er gab dabei durch Ankreuzen der entsprechenden Textfelder des Antrags an, "zur Zeit" nicht vom Arzt krank
geschrieben und nicht in seiner Vermittlungsfähigkeit eingeschränkt zu sein und alle Möglichkeiten zu nutzen, um Beschäftigungslosigkeit
zu beenden. Eine Einschränkung der möglichen Stundenzahl bestehe nicht. Handschriftlich ist unter der Rubrik Arbeitsstunden/Wochentage
eingetragen: "40 STD Mo-Fr". Andererseits ist ein Schreiben der A vom 08.09.2003 aktenkundig, wonach der Kläger seit 19.12.2002
durchgehend arbeitsunfähig erkrankt ist. Aus einem Schreiben der V. (V) vom 19.10.2001 geht hervor, dass die Nachuntersuchung
durch einen Arzt für Nervenheilkunde und Psychoanalyse ergeben habe, dass der Kläger berufsunfähig sei. Aus einem Schreiben
vom 09.01.2002 ergibt sich, dass sich V der Meinung eines Prof. Dr. K. anschlösse und völlige Arbeitsunfähigkeit bis Ende
Januar 2002 vorliege. Auch lassen sich den Akten Krankheitszeiträume vom 01.08.1998 bis 30.09.1998 und 03.03.1999 bis 04.06.1999
sowie ein Krankengeldbezug vom 02.11.2000 bis zum 31.01.2002 entnehmen. Laut einem Aktenvermerk vom 23.04.2003 sei der Kläger
"seit letztem Jahr durchgehend bis 15.05.2003 krank".
b. Weitere Ermittlungen zur Arbeitsfähigkeit im oben genannten Sinne sind nicht möglich. Denn der Kläger verweigert sein Einverständnis
zur Einholung ärztlicher Unterlagen und Stellungnahmen. Er hat nach dem bereits dargestellten Verhalten in der Vorinstanz
auch auf die Aufforderung des Senats zur Abgabe näher bezeichneter Erklärungen nicht reagiert. Auf die Sitzungsniederschrift
der mündlichen Verhandlung vom 23.10.2009 wird Bezug genommen. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die ausdrücklich und stillschweigend
erfolgten Weigerungen des Klägers weder die Beklagte noch das SG oder den erkennenden Senat der sie treffenden Ermittlungspflichten entheben und dass auch alle anderen zur Aufklärung geeigneten
Maßnahmen einzusetzen sind. Im Hinblick auf die dem Senat vorliegenden Unterlagen und die fehlende Zustimmung des Klägers
zur Einholung und Verwertung medizinischer Unterlagen hätte aber auch die insofern allein in Betracht kommende Einholung eine
medizinischen Gutachtens nach Aktenlage nicht zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts geführt. Da mithin aufgrund der
Verweigerung des Einverständnisses zur Einholung von ärztlichen Unterlagen alle Ermittlungsmöglichkeiten erschöpft sind, konnte
der Senat im Rahmen der Beweiswürdigung nach §
128 SGG auch Schlüsse daraus ziehen, dass sich der Kläger grundlos geweigert hat, sich untersuchen zu lassen, Unterlagen vorzulegen
oder eine Zustimmung zur Einholung von Auskünften zu erteilen, und zu dem Ergebnis kommen, dass die verhinderten Ermittlungen
für den Beteiligten ein ungünstiges Ergebnis gehabt hätten. Dies steht insbesondere nicht mit sonstigen Feststellungen im
Widerspruch (dazu BSG vom 02.09.2004 B 7 AL 88/03 R juris Rn 14; BSG SozR Nr 40 zu §
128 SGG; BFHE 96, 13; BFHE 156, 38, 43; BVerwGE 8, 29), insbesondere nicht mit dem Inhalt der bereits erwähnten Schreiben der A vom 08.09.2003 und der V vom 19.10.2001, die für
die hier fraglichen Zeiträume keine eindeutige Aussage enthalten.
c. Der Senat hatte nach alledem eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen zu treffen (dazu BSG 02.09.2004 B 7 AL 88/03 R juris Rn 15). Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast geht die Nichterweislichkeit des Gesundheitszustandes grundsätzlich
zu Lasten desjenigen, der hieraus Rechte herleiten will (BSGE 6, 70, 72; BSGE 7, 295, 298 ff; 43, 110, 112 = SozR 2200 § 548 Nr 27, S 71). Dies wäre im vorliegenden Fall grundsätzlich die Beklagte als Leistungsträger,
die sich im Rahmen der Aufhebungsvorschrift auf das Vorliegen von Umständen beruft, die die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung
begründen sollen, und damit den Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung, d.h. hier der Arbeitsfähigkeit im genannten Sinne, geltend
macht (vgl. z.B. Steinwedel, in Kasseler Kommentar, § 48 SGB X, RdNr 22, Stand Mai 2003).
d. Allerdings ist wegen der Weigerungen des Klägers eine Beweislastumkehr eingetreten (dazu BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 5, RdNr
15). Bei dieser Beweislastumkehr handelt es sich um eine Beweiserleichterung wegen Beweisvereitelung in Analogie zu §
444 Zivilprozessordnung -
ZPO - (vgl. hierzu BSG 02.09.2004 B 7 AL 88/03 R juris Rn 17; SozR 3-1750 § 444 Nr 1 mwN). In Fällen unverschuldeter Beweisnot kann auch im sozialgerichtlichen Verfahren
im Einzelfall eine Beweiserleichterung angenommen werden, sodass sich das Gericht über Zweifel hinwegsetzen und eine Tatsache
als bewiesen ansehen kann (BSG USK 90150 mwN), auch wenn eine allgemeingültige Aussage hierzu nicht getroffen werden kann
(Pawlak in Hennig,
SGG, §
128 RdNr 120 mwN, Stand Mai 1997). Wird die Beweisnot durch die Beweisvereitelung eines Beteiligten hervorgerufen, darf sich
das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung regelmäßig zu Lasten desjenigen mit geringeren Beweisanforderungen begnügen, der
den Beweis vereitelt hat (Pawlak aaO., RdNr 123 mwN zur Rechtsprechung).
Voraussetzung für die Annahme einer Beweisvereitelung ist ein pflichtwidriges Handeln oder Unterlassen des Beteiligten (BSG
SozR 3-1750 § 444 Nr 1; Pawlak in Hennig,
SGG, §
128 RdNr 121 mwN, Stand Mai 1997). Ein solches pflichtwidriges Unterlassen des Klägers - als nicht materiell Beweispflichtigem
- ist vorliegend mit der Weigerung zur Abgabe einer Schweigepflichtentbindungserklärung gegeben. Hinzukommen noch die später
unter 2. (Vertrauensschutz gemäß § 45 Abs. 2 SGB X) dargestellten Umstände, die der Beklagten eine zeitnahe Aufklärung des Gesundheitszustands des Klägers verwehrt haben. Hätte
der Kläger nämlich vollständige und richtige Angaben bei der Antragstellung auf Arbeitslosengeld gemacht, hätte sich die Beklagte
veranlasst gesehen, den Gesundheitszustand des Klägers weiter zu erforschen.
Der Senat ist auf die Angaben des Klägers zu seinen gesundheitlichen Verhältnissen im Rahmen der Amtsermittlungspflicht (§
103 SGG; zur Anwendbarkeit der §§
60 bis
65 SGB I im Gerichtsverfahren als Wertungsgesichtspunkte bzw. Rechtsgedanken Pawlak in Hennig,
SGG, §
103 RdNr 48, Stand April 1996) angewiesen; insoweit bestimmt nicht der Kläger als Leistungsempfänger, welche Angaben für die
Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung ausreichend sind. Vielmehr ist es Aufgabe des Senats, bestehende
Zweifel zu beseitigen und den Sachverhalt aufzuklären (zur umfassenden Aufklärungspflicht BSG SozR 3-1300 § 32 Nr 4 S 34).
Alle entscheidungserheblichen Angaben des Klägers müssen überprüfbar sein, soweit ihre Richtigkeit im Einzelfall nicht offenkundig
ist, und zwar auch dann, wenn sie wie hier vergangene Tatsachen betreffen. Der Kläger muss es dem Gericht ermöglichen, die
Richtigkeit der Angaben zu überprüfen. Es ist damit grundsätzlich eine unverzichtbare Obliegenheit, d.h. eine nicht durchsetzbare
und nicht schadensersatzbewehrte, aber mit rechtlichen Nachteilen verbundene Nebenpflicht des Klägers, Angaben zu machen,
die eine diesbezügliche Aufklärung des medizinischen Sachverhalts ermöglichen. Da der Senat die vorliegenden medizinischen
Unterlagen bzw. Angaben des Klägers nicht für vollständig hält, worauf der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 23.10.2008
über den Inhalt des Protokollierten hinaus auch hingewiesen wurde, ist der Kläger zur Mitwirkung verpflichtet. Der Kläger
hat schließlich Sozialleistungen zu Lasten einer Solidargemeinschaft erhalten, die ein Recht darauf besitzt, dass nur gesetzmäßige
Ausgaben getätigt werden. Der Kläger als Leistungsempfänger muss auch dann, wenn erst nach der Leistungsbewilligung eine Überprüfung
der Leistungsvoraussetzungen notwendig wird, die hierfür erforderlichen Angaben machen (BSG vom 02.09.2004 B 7 AL 88/03 R juris 18 f; zum Umfang der Mitwirkung BSGE 45, 119 ff = SozR 2200 § 1542 Nr 1). Die Grundsätze der Beweislastumkehr sind - unabhängig von dem Vorwurf eines Verstoßes gegen
eine Pflicht oder eine Obliegenheit - vorliegend auch deshalb anzuwenden, weil es um in der Sphäre des Klägers liegende Tatsachen
geht, die die Beklagte in Ermangelung entsprechender Angaben des Arbeitslosen nicht kennt und nicht kennen muss (BSGE 71,
256, 263 = SozR 3-4100 § 119 Nr 7), nämlich um Gesundheitsstörungen des Klägers im Zeitraum Februar bis März 2003.
Nach alledem musste der Senat unter Verkürzung der üblichen Beweisanforderungen des "Schweigens vernünftiger Zweifel" dahingehend
entscheiden, dass der Kläger wegen vorhandener Zweifel nicht arbeitsfähig im Sinne des §
119 Abs.
3 Nr.
1 SGB III und die Leistungsbewilligung damit von Anfang an rechtswidrig war. Die auch im Rahmen der herabgesetzten Beweisanforderungen
zu fordernden Anhaltspunkte hierfür sind gegeben. Sie ergeben sich insbesondere aus den bereits in Bezug genommenen Schreiben
der A vom 08.09.2003 und der V vom 19.10.2001, aus den aktenkundigen langen Krankheitszeiträumen im nahen zeitlichen Umfeld
zu dem hier fraglichen Zeitraum und aus den Abgaben des Klägers selbst zu seinen Gesundheitsstörungen und seiner eingeschränkten
Leistungsfähigkeit, soweit ihnen gefolgt werden kann.
e. Die Rechtmäßigkeit der Bewilligung lässt sich entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht auf §
125 SGB III stützen.
Gemäß §
125 I 1
SGB III in der hier maßgeblichen Fassung hat Anspruch auf Arbeitslosengeld auch, wer allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil er
wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung seiner Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich
umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt
ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen
Rentenversicherung nicht festgestellt worden ist.
Es lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, dass der Kläger wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung seiner Leistungsfähigkeit
eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung nicht unter den in §
125 SGB III genannten Bedingungen ausüben kann. Ebenso wenig wie sich zur vollen Überzeugung des Senats die für einen Anspruch nach §
117 SGB III zu fordernde Arbeitsfähigkeit feststellen lässt, besteht umgekehrt keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür,
dass eine Minderung der Leistungsfähigkeit im Sinne des §
125 Abs.
1 S. 1
SGB III vorlag. Ein Anspruch aus dieser sog. Nahtlosigkeitsregelung setzt die Feststellung der Tatbestandsmerkmale dieser Norm zur
vollen Überzeugung des Senats voraus, insbesondere die Feststellung der dort geregelten spezifischen Leistungsminderung. Diese
Tatbestandsvoraussetzung macht deutlich, dass gerade nicht jede Leistungsminderung die Fiktion der Arbeitsfähigkeit nach §
125 SGB III erzeugen soll, sondern nur eine Leistungsminderung auf weniger als 15 Sunden wöchentlich über eine Dauer von mehr als sechs
Monaten. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Nahtlosgewährung, die nicht jedwede Leistungslücke ausschließen will,
sondern nur eine solche auf Grund unterschiedlicher Beurteilung der Erwerbsfähigkeit durch die Bundesagentur einerseits und
den zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung andererseits (BSG, Urteil vom 10.05.2007, B 7a AL 30/06 R juris
Rn 15). Einher geht damit im Übrigen auch, dass bei der derartigen Zahlung von Arbeitslosengeld in einem besonderen Falle
die baldige Klärung durch den Rentenversicherungsträger aufgegeben wird. Damit geht es entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten
des Klägers nicht um ein denknotwendig vorliegendes Alternativitätsverhältnis zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit
im Sinne eines "Entweder - oder", ohne dass es eine dritte Möglichkeit gäbe, sondern um die spezifische Leistungsminderung
im Sinne des §
125 SGB III.
Der Senat hat vielmehr eine Prüfung der entsprechenden konkreten Merkmale des §
125 Abs.
1 S. 1
SGB III vorzunehmen, auf den der Kläger seinen behaupteten Anspruch nunmehr (auch) stützen möchte. Die Unanwendbarkeit des §
125 SGB III kann dann - wie hier - auch Folge einer Beweislastentscheidung sein (so ausdrücklich BSG vom 20. Oktober 2005, SozR 4-1500
§ 103 Nr 5). Auch insofern wird nicht verkannt, dass das Gericht das tatsächliche Leistungsvermögen von Amts wegen ohne Bindung
an die bisherige Argumentation der Beteiligten eigenständig zu ermitteln hat (BSG, Urteil vom 10.05.2007, B 7a AL 30/06 R
juris Rn 14), was es grundsätzlich erforderlich macht, in eigener Verantwortung Ermittlungen zur Betrachtung des gesundheitlichen
Zustandes anzustellen (Behrend in Eicher/Schlegel,
SGB III, §
125 Rn 29, 32 - Stand 2004 m.w.N.). Ermittlungen dahingehend, ob eine Leistungsminderung auf weniger als 15 Sunden wöchentlich
über eine Dauer von mehr als sechs Monaten vorlag, sind dem Senat aber verwehrt, weil der Kläger die hierzu erforderlichen
Erklärungen verweigert. Die Voraussetzungen für die Nahtlosgewährung können daher vorliegend nicht zur vollen Überzeugung
des Senats bewiesen werden. Erhebliche diesbezügliche Zweifel ergeben sich insbesondere aus den bereits in Bezug genommenen
Angaben des Klägers selbst anlässlich seiner Arbeitslosmeldung zum 01.02.2003.
Die somit auch im Bereich des §
125 SGB III zu treffende Beweislastentscheidung fällt ebenfalls zu Lasten des Klägers aus. Da die oben zu §
119 SGB III dargelegten Überlegungen zur Beweislastumkehr hier entsprechend gelten, kann eine Leistungsminderung im Sinne des §
125 SGB III nicht angenommen und Arbeitsfähigkeit nicht fingiert werden werden.
2. Auf Vertrauensschutz im Sinne des § 45 Abs. 2 SGB X kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen. Denn die Alg-Bewilligung beruht auf Angaben, die er grob fahrlässig in wesentlicher
Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X).
Der Kläger hat im Arbeitslosengeldantrag durch Ankreuzen der entsprechenden Textfelder des Antrags angegeben, "zur Zeit" nicht
vom Arzt krank geschrieben und nicht in seiner Vermittlungsfähigkeit eingeschränkt zu sein und alle Möglichkeiten zu nutzen,
um Beschäftigungslosigkeit zu beenden. Eine Einschränkung der möglichen Stundenzahl bestehe nicht. Handschriftlich ist unter
der Rubrik Arbeitsstunden/Wochentage eingetragen: "40 STD Mo-Fr". Diese Angaben sind in wesentlicher Beziehung unrichtig.
Wie sich aus den aktenkundigen Schreiben der A und der V ergibt und der Kläger im Rahmen des Klageverfahrens selbst eingeräumt
hat, war seine Leistungsfähigkeit im hier fraglichen Zeitraum eingeschränkt.
Der Kläger hat auch grob fahrlässig gehandelt. Entscheidend für die Beurteilung der groben Fahrlässigkeit sind stets die besonderen
Umstände des Einzelfalles und die individuellen Fähigkeiten des Betroffenen, d.h. seine Urteils- und Kritikfähigkeit, sein
Einsichtsvermögen und im Übrigen auch sein Verhalten. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer
schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten
muss (BSGE 42, 184, 187; BSGE 62, 32, 35); dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen
des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; BSGE 35, 108, 112; 44, 264, 273, Urteil vom 05.02.2006, Az.: B 70 AL 58/05 R). Ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist im Wesentlichen eine Frage der Würdigung des Einzelfalles, die dem Tatsachengericht
obliegt (BSGE SozR 2200 § 1301 Nr. 7).
Vorliegend ist zur vollen Überzeugung des Senats grobe Fahrlässigkeit im Sinne der Nr. 2 des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X gegeben (zu den insofern gebotenen Feststellungen BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 45). Der Kläger ist Diplomingenieur. Er war über einen langen Zeitraum ab 2002 bis zum 15.05.2003 durchgehend krank,
ohne dass Einzelheiten zu dieser Krankheit bekannt sind. Er hat im Rahmen des hier zugrundeliegenden Verwaltungsverfahrens
selbst eingeräumt, dass er bezüglich seiner Leistung gesundheitlich eingeschränkt sei. Die in Bezug auf bestehende Leistungsbeeinträchtigungen
gestellten Fragen, insbesondere die Formulierungen in Nr. 2 c des Antrags auf Alg, waren klar und einfach abgefasst und für
jedermann verständlich. Der Kläger war sich - wie insbesondere seine Angaben im Rahmen der Anhörung vor dem Bescheid vom 30.07.2003,
aber auch seine späteren Einlassungen im Klageverfahren zeigen - auch des Umstands bewusst, dass Leistungsminderungen für
die Alg-Bewilligung von Bedeutung sind. Er hätte dies unter Zugrundelegung seines kognitiv-intellektuellen Zuschnitts als
Diplom-Ingenieur ohne weiteres erkennen können. Dies zeigen auch die ersten Angaben des Klägers im Rahmen der Anhörung vor
Erlass des genannten Bescheides zu den Umständen der hier fraglichen Bewilligung. Bereits auf das Anhörungsschreiben der Beklagten
vom 23.04.2003 ließ der Kläger mit Schreiben vom 14.05.2003 mitteilen, dass es richtig sei, dass er bezüglich seiner Leistung
gesundheitlich eingeschränkt sei. Der private Krankenversicherer habe in der Vergangenheit Leistungen (Zahlung eines Krankentagegeldes
aufgrund akuter Arbeitsunfähigkeit) verweigert gehabt. Es sei seitens des privaten Krankenversicherers das Vorliegen akuter
Arbeitsunfähigkeit bestritten worden. Später sei es zu einer Nachbewilligung gekommen. Im Moment bestreite der private Krankenversicherer
erneut das Vorliegen einer akuten Arbeitsunfähigkeit. Unter Zugrundelegung der persönlichen Urteilsfähigkeit des Klägers hätte
es dem Kläger insbesondere unter Berücksichtigung dieser bei seiner ersten Einlassung im Rahmen der Anhörung geschilderten
Umstände ohne weiteres einleuchten müssen, dass er auf seine gesundheitliche Situation hinweisen musste. Daher ist in den
fehlerhaften Angaben zur Leistungsfähigkeit anlässlich der Alg-Beantragung ein grob fahrlässiges Verhalten zu sehen.
Da schon die Voraussetzungen der Nr. 2 des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X eindeutig vorliegen, lässt es der Senat dahinstehen, ob grobe Fahrlässigkeit im Sinne der Nr. 3 dieser Vorschrift gegeben
ist, wofür die vorgenannten Feststellungen zur groben Fahrlässigkeit allerdings ebenfalls sprechen.
Die Beklagte durfte nach alledem die Bewilligung von Alg für den hier fraglichen Zeitraum auf der Grundlage des § 45 SGB X zurücknehmen.
3. Da die entsprechende Bewilligung rechtmäßig aufgehoben worden ist, sind die bereits erbrachten Leistungen gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten. An der Richtigkeit der Erstattungsforderung, die auch von der Klägerseite der Höhe nach nicht in Frage gestellt
wurde, hat der Senat keine Zweifel. Auf die entsprechenden aktenkundigen Berechnungen der Beklagten wird daher Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Klage und Berufung erfolglos blieben.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG nicht gegeben sind. Insbesondere handelt es sich bei der Beurteilung der groben Fahrlässigkeit um eine Würdigung der Umstände
des Einzelfalls, bei der der Senat von den vom Bundessozialgericht aufgestellten Grundsätzen (dazu z.B. BSG, Urteil vom 08.02.2001,
Az: B 11 AL 21/00 R = SozR 3-1300 § 45 Nr.45) ausgegangen ist. Auch die vom BSG zur Beweislastentscheidung aufgestellten Grundsätze hat der Senat
beachtet.