Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung von Leistungen aus der Pflegeversicherung zum 1. Oktober 2006.
Die 1990 geborene und bei der Beklagten pflegeversicherte Klägerin leidet an einer frühkindlichen Entwicklungsstörung mit
Ausbildung eines Krampfleidens. Auf einen entsprechenden Antrag gewährte die Beklagte der Klägerin nach einer Begutachtung
durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) am 06. Mai 2004 mit Bescheid vom 27. Mai 2004 Leistungen der
Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I rückwirkend ab 1. Februar 2004. Dem lag ein von der Ärztin ausweislich des Gutachtens
vom 17. Mai 2004 ermittelter täglicher Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege von 68 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen
Versorgung von 45 Minuten zu Grunde.
Anlässlich einer von der Beklagten am 12. Juli 2006 durch den MDK veranlassten Folgebegutachtung stellte die Pflegefachkraft
im Gutachten vom 2. August 2006 einen täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 32 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen
Versorgung von 60 Minuten fest. Der Gutachter verwies darauf, dass sich der Zeitumfang für die körperbezogenen Verrichtungen
angesichts der psychomotorischen Weiterentwicklung deutlich verringert habe. Essen, Trinken, Kleiden, Gehen sowie Transfer
seien selbständig möglich.
Nach einer Anhörung vom 8. August 2006 zu einer beabsichtigten Entziehung der Pflegeleistungen hob die Beklagte mit Bescheid
vom 29. August 2006 gestützt auf § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Bewilligung von Pflegegeld ab 31. Oktober 2006 auf. Dagegen legte die Klägerin am 5. September 2006 Widerspruch ein.
Die Beklagte korrigierte den Zeitpunkt der Aufhebung der Pflegeleistungen mit Bescheid vom 25. September 2006 auf den 1. Oktober
2006 und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. April 2007 zurück.
Mit der am 23. Mai 2007 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren auf Fortgewährung von Leistungen
der Pflegestufe I weiterverfolgt. Der Pflegebedarf habe sich seit der letzten Begutachtung im Mai 2004 nicht geändert.
Die Beklagte veranlasste eine erneute Begutachtung der Klägerin durch den MDK, die ausweislich der Feststellungen der Ärztin
im Gutachten vom 27. Februar 2008 im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von 33 Minuten täglich und im Bereich der hauswirtschaftlichen
Versorgung einen Hilfebedarf von 45 Minuten täglich ergab. Die Ärztin führte aus, dass die Verringerung des Pflegebedarfs
im Vergleich zur Erstbegutachtung im Jahre 2004 auf Fortschritte bei den lebenspraktischen Verrichtungen zurückzuführen seien,
und hielt an dieser Einschätzung in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 19. August 2008 fest.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 8. Dezember 2008 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die
Aufhebung des bewilligten Pflegegeldes aufgrund einer wesentlichen Änderung im Hilfebedarf gerechtfertigt sei. Die Klägerin
sei nicht mehr pflegebedürftig, weil der Grundpflegebedarf unter Zugrundelegung der Feststellungen des MDK unter 45 Minuten
täglich gesunken sei.
Gegen den am 18. Dezember 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 19. Januar 2009 Berufung zum Landessozialgericht
eingelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr erstinstanzliches Vorbringen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. Dezember 2008 und die Bescheide der Beklagten vom 29. August 2006 und
25. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen
der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge
des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen haben. Die mit den angefochtenen Bescheiden der Beklagten vom 29. August
und 25. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2007 erfolgte Entziehung der Pflegeleistungen
der Pflegestufe I ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Entziehung der Pflegeleistungen ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Hierbei
sind die zum Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden Verhältnisse mit jenem Zustand zu vergleichen, wie er sich zum Zeitpunkt
des Erlasses der begünstigenden Leistungsbewilligung darstellte. Lässt sich bei einem solchen Vergleich eine wesentliche Änderung
der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse nicht erweisen, so ist im Gerichtsverfahren nach den Regeln der materiellen
Beweislast der Aufhebungsbescheid aufzuheben, weil die materielle Beweislast auf Seiten der Beklagten liegt. So liegt der
Fall hier.
Der Leistungen der Pflegestufe I gewährende Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2004 ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung
zu qualifizieren. Entgegen der Ansicht der Beklagten und des Sozialgerichts ist bei einem Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt
des Erlasses des Pflegegeld der Stufe I bewilligenden Bescheides vom 27. April 2004 mit denen, die bei Entziehung vorgelegen
haben, keine wesentliche Änderung nachgewiesen.
Nach §
37 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (
SGB XI) setzt der Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfe nach der Pflegestufe I unter anderem voraus,
dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist und der Pflegestufe zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei
nach §
14 Abs.
1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen
und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monaten
in erheblichen oder höheren Maße der Pflege bedarf, die nach §
14 Abs.
3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder
in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtung besteht. Als außergewöhnliche
und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach §
14 Abs.
4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen,
Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder die Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das
mundgerechte Zubereiten und die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zubettgehen,
das An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich
der hauswirtschaftlichen Versorgung, das Einkaufen, das Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche
und Kleidung oder das Beheizen.
Die Zuordnung zur Pflegestufe I setzt nach §
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1, Abs.
3 Satz 1 Nr.
1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens 2 Verrichtungen aus einem
oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen
Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson
für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, hat hierbei wöchentlich
im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten zu betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.
Die streitgegenständliche Entziehung von Leistungen der Pflegeversicherung zum 1. Oktober 2006 resultiert maßgeblich auf einer
von der Beklagten angenommenen Verringerung des Pflegebedarfs durch eine psychomotorische Weiterentwicklung der Klägerin,
wodurch sich der Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege von 68 Minuten täglich entsprechend dem Gutachten des MDK vom 6.
Mai 2004 auf 32 Minuten täglich entsprechend den Feststellungen der Folgebegutachtung am 12. Juli 2006 reduziert habe, so
dass sich danach die für die Pflegestufe I im Bereich der Grundpflege erforderlichen 45 Minuten täglich nicht mehr ergaben.
Unabhängig davon, dass nachvollziehbare konkrete medizinische Feststellungen zur Art und Weise einer psychomotorischen Weiterentwicklung
von der Beklagte nicht erhoben wurden, so lässt sich selbst eine derartige Weiterentwicklung angesichts der insoweit übereinstimmenden
Feststellungen der MDK-Gutachter und unterstellt, jedenfalls nicht nachweisen, dass dadurch eine wesentliche Änderung der
tatsächlichen Verhältnisse in der Form erfolgt ist, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegestufe I entfallen
sind. Der Gutachter hat in seinem Gutachten vom 2. August 2006 hinsichtlich der Begründung der Verringerung des Pflegeaufwandes
zwar darauf verwiesen, dass sich der Zeitumfang für die körperbezogenen Verrichtungen aufgrund einer psychomotorischen Weiterentwicklung
um etwa 27 Minuten deutlich verringert habe, da Essen und Trinken, das Kleiden und Gehen sowie der Transfer nunmehr selbständig
möglich seien. Aus dem während des Klageverfahrens auf Veranlassung der Beklagten erstellten weiteren MDK-Gutachten der Ärztin
vom 27. Februar 2008 folgt jedoch, dass vorliegend eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht als erwiesen angesehen werden kann. Auch wenn in der hiesigen Anfechtungskonstellation entscheidungserheblich auf einen
Vergleich der Verhältnisse bei Bewilligung der Pflegeleistungen mit denen, die bei Entzug der Pflegeleistungen vorgelegen
haben abzustellen ist, so sprechen die Feststellungen der Ärztin gegen einen Wegfall der Voraussetzungen der Pflegestufe I
zum 1. Oktober 2006. Denn die Ärztin ermittelt in ihrem Gutachten vom 27. Februar 2008 ebenfalls ausgehend von einer psychomotorischen
Weiterentwicklung in der Sache einen höheren Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege als die Pflegefachkraft im Gutachten
vom 2. August 2006. Die auf den ersten Anschein zwar fast identischen Feststellungen der Gutachter und zur Grundpflege von
täglich 32 bzw. 33 Minuten ergeben sich lediglich daraus, dass bei der Begutachtung durch den Gutachter im Juli 2006 im Bereich
der Mobilität Physiotherapiebesuche berücksichtigt worden sind, die im Februar 2008 bei Begutachtung durch die Ärztin nicht
mehr erfolgten, so dass für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung durch die Ärztin kein Pflegebedarf gesehen wurde,
während durch den Gutachter 13 Minuten täglich angesetzt worden sind. Den übrigen Grundpflegebedarf setzt die Ärztin Nowotny
- wenn auch hinter den Feststellungen im Jahr 2004 zurückbleibend - höher an als der Gutachter, so dass sich nach einer Gesamtschau
nicht erweisen lässt, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I - auch bei verringerten Pflegebedarf - zum Zeitpunkt der
Entziehung nicht mehr vorlagen. Dies ergibt sich im Einzelnen aus folgenden Feststellungen der MDK-Gutachter:
Die Ärztin setzt im Bereich der Körperpflege mit 21 Minuten täglich einen höheren Pflegeumfang an als der Gutachter mit lediglich
14 Minuten täglich. Gleiches gilt für den Bereich der Ernährung. Im Gegensatz zum Gutachter, der hier keinen Bedarf sah, ermittelt
die Ärztin 2 Minuten täglich und begründet dies nachvollziehbar damit, dass der Klägerin bei der mundgerechten Zubereitung
(Zerkleinern von Fleischgerichten und gelegentliches Eingießen von Getränken) geholfen werden muss. Den Bereich der Mobilität
bewertet die Ärztin - unter Außerbetrachtlassung des Aufwandes für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung - mit 10
Minuten täglich für Hilfeleistungen beim An- und Auskleiden sowie beim Zubettgehen höher als der Gutachter mit lediglich 5
Minuten täglich. Unter Berücksichtigung dessen ergibt sich für den Bereich der Grundpflege - ohne den Hilfebedarf für Physiotherapiebesuche
- eine Differenz zwischen den Einschätzungen der Gutachter und von 14 Minuten täglich, wobei die Ärztin in ihrer ergänzenden
Stellungnahme vom 19. August 2008 zudem gegebenenfalls noch eine weitere Erhöhung des Pflegeaufwandes für das Zähneputzen
in Betracht gezogen hat.
Nach alledem ist selbst bei einer motorisch - funktionellen Weiterentwicklung der Klägerin nicht erwiesen, dass dadurch eine
Reduzierung des Pflegebedarfs in einem Umfang erfolgt ist, dass die für die Zuordnung in die Pflegestufe I erforderlichen
mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege zum Zeitpunkt der Entziehung nicht mehr erreicht waren. Denn unter
Zugrundelegung der 32 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege entsprechend den Feststellungen des Gutachters zzgl. weiterer
7 Minuten im Bereich der Körperpflege, 2 Minuten im Bereich der Ernährung und 5 Minuten im Bereich der Mobilität entsprechend
den Feststellungen der Ärztin mithin insgesamt zzgl. 14 Minuten täglich ergeben sich mit 46 Minuten täglich, die für die Zuordnung
in die Pflegestufe I erforderlichen 45 Minuten täglich.
Dafür, dass sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin im Zeitraum von 2006 bis 2008 ggf. wieder verschlechtert hat, spricht
nach Aktenlage nichts. Vielmehr geht auch die Ärztin von einer Besserung aufgrund einer psychomotorischen Weiterentwicklung
aus. Eine den streitgegenständlichen Entzug von Pflegeleistungen rechtfertigende wesentliche Änderung ist nach alledem nachgewiesen.
Der Senat sah sich schließlich auch nicht veranlasst, der Beweisanregung der Beklagten zu folgen und die MDK-Gutachter und
zu vernehmen, denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, das die Gutachter im nachhinein zu anderen Feststellungen gelangen
könnten, zumal die Beklagte selbst auch keine Unrichtigkeiten in den Feststellungen der Gutachter aufzeigt. Überdies ist auch
zu berücksichtigen, dass die jeweiligen, zudem zeitlich etwa 1 ½ Jahre auseinander liegenden, Begutachtungen ohnehin nur den
jeweils vorgefundenen Zustand punktuell betrachtet wiedergeben konnten, wobei sich schon in Abhängigkeit des konkreten täglichen
Zustandes der Klägerin (so genannte "Tagesform") Unterschiede ergeben konnten.
Das nach den Feststellungen der Ärztin im Februar 2008 mangels entsprechender Physiotherapiebesuche und dem Wegfall des sich
daraus ergebenen Bedarfs im Bereich der Mobilität gleichwohl jedenfalls zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Zuordnung
in die Pflegestufe I nicht mehr vorgelegen haben dürften, ist für das vorliegende Verfahren unerheblich. Denn entscheidungserheblich
kommt es nur auf den Vergleich der Verhältnisse bei Bewilligung und Einziehung der Pflegeleistungen an. Der Beklagten steht
es insoweit jederzeit frei, den aktuellen Pflegebedarf der Klägerin zu prüfen und je nach dem Ausgang der Prüfung ggf. eine
erneute Einstellung zu verfügen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war mangels Vorliegen der Voraussetzungen von §
160 Abs.
2 SGG nicht zuzulassen.