Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch für den Zeitraum von Dezember 2006 bis Dezember 2008 über die Gewährung von Leistungen aus der
Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II.
Die 1918 geborene Klägerin, die u.a. an einer Alzheimer-Demenz und einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus leidet, beantragte
im Dezember 2005 bei der Beklagten Leistungen aus der Pflegeversicherung. In dem daraufhin eingeholten Gutachten des Sozialmedizinischen
Dienstes vom 27. Juni 2006 ermittelte die Internistin Dr. W einen Zeitaufwand für die Grundpflege von 51 Minuten täglich und
für die hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten täglich. Dem Gutachten folgend gewährte die Beklagte der Klägerin mit
Bescheid vom 12. Juli 2006 Pflegegeld der Pflegestufe I ab Dezember 2005. Hiergegen erhob die Klägerin unter Vorlage eines
Pflegetagebuchs und der Bescheinigung der sie behandelnden Nervenärztin Dr. S vom 18. August 2006 Widerspruch. Gestützt auf
die Stellungnahme des Sozialmedizinischen Dienstes vom 24. November 2006, der den Zeitbedarf in der Grundpflege auf 87 Minuten
täglich korrigierte. wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. März 2007 zurück.
Mit ihrer vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin höhere Leistungen der Pflegeversicherung als nach
der Pflegestufe I begehrt. Hierzu hat sie insbesondere die Atteste des Augenarztes Dr. L vom 12. Oktober 2007 und der Nervenärztin
W vom 12. Februar 2008 vorgelegt. Das Sozialgericht hat das Gutachten der Allgemeinmedizinerin Dr. B vom 6. November 2007
eingeholt. Die Sachverständige hat nach Untersuchung der Klägerin in deren Wohnung einen Zeitaufwand für die Grundpflege von
87 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten täglich festgestellt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20. Mai 2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt,
dass die Klägerin keinen Anspruch auf Pflegeleistungen der Pflegestufe II habe, da ihr Hilfebedarf in der Grundpflege nicht
mehr als 120 Minuten betrage. Dies ergebe sich aus dem Gutachten der Sachverständigen Dr. B.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt.
Der Senat hat ein Gutachten der Allgemeinmedizinerin Dr. B vom 28. Mai 2009 eingeholt, die eine weitere Zunahme der Hirnleistungsschwäche
festgestellt hat. Der Zeitaufwand für die Grundpflege betrage 152 Minuten täglich und für die hauswirtschaftliche Versorgung
60 Minuten täglich. Unter Berücksichtigung des Pflegeprotokolls des Alten- und Pflegeheims D, in welchem die Klägerin sich
vom 20. Oktober bis zum 11. November 2008 aufgehalten habe, sei anzunehmen, dass der genannte Zeitaufwand seit Winter 2008/09
bestehe.
Auf den Antrag der Klägerin nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ist der Nervenarzt Prof. Dr. H gehört worden. In seinem Gutachten vom 30. September 2010 hat er dargelegt, dass der Pflegebedarf
der Klägerin infolge des unglücklichen Zusammentreffens ihrer geistigen Leistungseinschränkungen mit den das Auge und das
Gehör betreffenden Sinnesstörungen stark intensiviert sei. Während die seit 30 Jahren bestehende Hörminderung sich über lange
Zeiträume nicht nachteilig ausgewirkt habe, käme sie im Laufe der fortschreitenden Demenz durch die eingeschränkte Handhabung
der Hörgeräte mehr und mehr zum Tragen. Eine hochgradige Sehminderung mit Sehstärken von 0,4 bzw. < 0,1 auf dem schwächeren
linken Auge sei für Oktober 2007 durch das Attest des Augenarztes L dokumentiert. Da es bei der Erkrankung Diabetes mellitus
zu einem nur langsamen Nachlassen der Sehkraft komme, sei davon auszugehen, dass eine relevante Sehstörung - und damit ein
Grundpflegeaufwand von mehr als 120 Minuten täglich - spätestens mit dem Jahreswechsel 2006/07 bestanden habe.
Mit Schriftsatz vom 17. Januar 2011 hat die Beklagte sich bereit erklärt, der Klägerin vom 1. Januar 2009 an Pflegeleistungen
nach der Pflegestufe II zu gewähren. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis mit Schriftsatz vom 22. Februar 2011 angenommen.
Im Übrigen führt sie den Rechtsstreit weiter.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Mai 2008 aufzuheben, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist, und
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2007
zu verpflichten, der Klägerin höhere Leistungen aus der Pflegeversicherung als nach der Pflegestufe I auch für den Zeitraum
von Dezember 2006 bis Dezember 2008 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält an ihrer Entscheidung für den noch streitigen Zeitraum fest. Hierzu verweist sie auf die Stellungnahme des Sozialmedizinischen
Dienstes vom 6. Januar 2011, wonach der von dem Sachverständigen Prof. Dr. H geschätzte Zeitaufwand für die Grundpflege von
mehr als 120 Minuten täglich ab 2009 nachvollziehbar sei, nicht aber bereits ab 2006.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen
der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge
der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nur zum Teil begründet.
Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 14. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 2005 ist
in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Denn die Klägerin
hat für den Zeitraum vom 12. Februar 2008 bis zum 31. Dezember 2008 einen Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II.
Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach §
14 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (
SGB XI) vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen
und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs
Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach §
14 Abs.
3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder
in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche
und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach §
14 Abs.
4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört das Waschen,
Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte
Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden,
Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen
Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Voraussetzung für die Zuordnung zur Pflegestufe II ist nach §
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
2, Abs.
3 Satz 1 Nr.
2 SGB XI, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten
der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand,
den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen
der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss hierbei mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen
auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen.
Diese Voraussetzungen sind im Fall der Klägerin nicht erst - wie die Beklagte meint - seit dem 1. Januar 2009 erfüllt. Vielmehr
hat der Zeitaufwand für die Grundpflege der Klägerin bereits vom 12. Februar 2008 an mehr als 120 Minuten täglich betragen.
Für den ebenfalls streitbefangenen Zeitraum von Dezember 2006 bis 11. Februar 2008 kann sie allerdings keine höhere Leistungen
aus der Pflegeversicherung als nach der Pflegestufe I beanspruchen.
Nach Ansicht des Senats kann die Klägerin sich nicht erfolgreich auf die Einschätzung des Prof. Dr. H berufen, der in seinem
Gutachten vom 30. September 2010 im Hinblick auf die schleichende Progredienz der bei der Klägerin bestehenden Mehrfachbehinderungen
bei dem Zusammentreffen von Sinnesstörungen (betreffend Auge und Gehör) und der geistigen Leistungseinschränkung einen Hilfebedarf
in der Grundpflege von 227 Minuten täglich mit dem "Jahreswechsel 2006/07" annimmt. Dieses aus der sich auf die Pflegebedürftigkeit
der Klägerin verstärkend auswirkenden Sehbehinderung (nur) abgeleitete Ergebnis ist jedoch nicht mit den Feststellungen von
Dr. B in ihrem Gutachten vom 6. November 2007 zu vereinbaren, die nach Untersuchung der Klägerin am 5. November 2007 zu der
Einschätzung gelangt ist, dass der Zeitaufwand in der Grundpflege seit Antragstellung nur 87 Minuten täglich betragen habe.
Der Senat hat keinen Anlass, diese Feststellungen der Sachverständigen in Frage zu stellen.
Indes hat sich nach der von Dr. B im November 2007 durchgeführten Begutachtung der Gesundheitszustand der Klägerin maßgeblich
verschlechtert. Dies ergibt sich aus dem Attest der Nervenärztin W vom 12. Februar 2008, bei welcher die Klägerin seit dem
1. September 2007 in Behandlung war. Hierin hat die Nervenärztin berichtet, dass die Hirnleistungsfähigkeit der Klägerin stark
nachgelassen habe. Es hätten kognitive Defizite, nämlich starke Vergesslichkeit, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen,
bestanden. Während die Sachverständige Dr. B bei der Untersuchung am 5. November 2007 noch festgestellt hatte, dass eine Kontaktaufnahme
mit der Klägerin gut möglich gewesen sei, die Klägerin ihr Geburtsjahr habe angeben können (jedoch nicht ihr Alter) und Aufforderungen
adäquat nachgekommen sei, hat die Nervenärztin W unter dem 12. Februar 2008 berichtet, dass die Klägerin kein sinnvolles Gespräch
mehr habe führen können und dass sie weder situativ orientiert sei noch über ihre Biographie habe Auskunft geben können. Da
entsprechend mit dem dokumentierten Fortschreiten der Demenzerkrankung auch der Pflegeaufwand gestiegen ist, haben die Voraussetzungen
für die Pflegestufe II bereits für die Zeit ab 12. Februar 2008 vorgelegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Obwohl die maßgebliche Änderung der Sachlage erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2007 eingetreten ist,
entspricht es billigem Ermessen, die außergerichtlichen Kosten zu teilen, weil die Beklagte über einen langen Zeitraum hinweg
auf ihrer Position beharrt hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.