Fristgerechte Klageerhebung bei fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrung; Angabe des örtlich zuständigen Sozialgerichts bei Verlegung
des Sitzes des Leistungsträgers während der Widerspruchsfrist
Tatbestand:
Der Kläger begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens von der Beklagten die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen
Unfallversicherung aufgrund eines Arbeitsunfalles am 8. Juni 1973; vorab ist die Einhaltung der Klagefrist streitig.
Der Kläger erlitt am 8. Juni 1973 einen Arbeitsunfall. Ihm sprang beim Betonbohren mit einem Luftdruckhammer ein Steinstück
in das rechte Auge. Die Beklagte veranlasste die Begutachtung des Klägers durch den Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik
für Augenkranke W Prof. Dr. L sowie durch den Direktor der Augenklinik der Universität E Prof. Dr. S holte Stellungnahmen
des Facharztes für Augenkrankheiten Dr. O vom 26. Februar 1974 und 13. Januar 1975 ein. Nach Auswertung dieser Unterlagen
lehnte die Beklagte eine Entschädigung des Unfalls mit Bescheid vom 28. Januar 1975 ab. Im anschließenden Klageverfahren vor
dem Sozialgericht Nürnberg wurde der Kläger durch den Medizinaldirektor Dr. B (Augenklinik der städtischen Krankenanstalten
N) begutachtet. Die Klage wurde mit Urteil vom 7. Juli 1976 abgewiesen. Ein Zusammenhang zwischen Unfall und Gesundheitsstörung
(Netzhautablösung) lasse sich nicht wahrscheinlich machen.
Mit Schreiben vom 22. November 1988 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheides vom 28. Januar 1975 und trug zur
Begründung unter anderem vor, er habe diesen Bescheid nie erhalten. Die Beklagte veranlasste die erneute Begutachtung des
Klägers diesmal durch den Chefarzt der Augenklinik M/Ruhr Prof. Dr. R und lehnte den Antrag auf Rücknahme des Bescheides vom
28. Januar 1975 mit Bescheid vom 13. September 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 1989 ab. Die anschließende
Klage wies das Sozialgerichts Düsseldorf mit Urteil vom 27. März 1991 ab. Es spreche mehr dafür als dagegen, dass die Netzhautablösung
des rechten Auges des Klägers in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der Tätigkeit als Bauhelfer stehe.
Mit Schreiben vom 25. August 2004 stellte der Kläger erneut bei der Beklagten einen Antrag auf "Entschädigung" des Arbeitsunfalls
vom 8. Juni 1973 und führte unter anderem aus, er habe am 8. Juni 1973 einen Unfall gehabt. Die Folgen seien jetzt, dass er
fast überhaupt nichts mehr sehen könne. Die Ursache sei seiner Ansicht nach der Unfall. Ergänzend übersandte er einen Arztbrief
des Augenarztes Dr. K vom 24. Oktober 1990 sowie eine Bescheinigung des Facharztes für Augenkrankheiten Dr. Z vom 21. Juli
1980 und eine Kopie des Schwerbehindertenausweises, der am 7. September 1982 ausgestellt worden war. Die Beklagte lehnte diesen
Antrag mit Bescheid vom 21. September 2004 ab. Im Widerspruchsverfahren führte der Kläger unter anderem aus, es habe sich
vieles geändert in seinem Fall. Ab dem Unfall habe er starke Folgen wegen dieses Unfalles und sei jetzt ganz erkrankt an den
Augen. Er sehe fast nichts mehr und habe große Schmerzen im Bereich der Augen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid
vom 27. Januar 2005 zurück. Der Widerspruchsbescheid enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung, in der als zuständiges Sozialgericht
das Sozialgericht Düsseldorf genannt war. Der Kläger teilte mit Schreiben vom 12. Mai 2005 mit, er habe den Widerspruchsbescheid
am Mittwoch, dem 16. Februar 2005 erhalten.
Am 20. Mai 2005 (Eingang bei Gericht) hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhoben und sein Begehren weiter
verfolgt. Zur Begründung hat er u. a. ausgeführt, es treffe nicht zu, dass bei dem Unfall alles rechtmäßig zugegangen sei.
Er sei nicht sofort behandelt worden nach dem Unfall. Es seien vielmehr bis zu einer Behandlung Tage vergangen. Außerdem seien
die Sicherheitsbedingungen an seinem damaligen Arbeitsplatz unzureichend gewesen. Er sei von seinem ehemaligen Vorgesetzten
bedroht worden, weitere Klagen zu unterlassen. Er befinde sich in einer schwierigen Lage, er habe in Deutschland ein Auge
verloren und die Sehkraft des zweiten Auges werde schwächer. Auf den Hinweis des Gerichts, dass die Klage möglicherweise verfristet
sei, hat der Kläger mit Schreiben vom 17. Dezember 2005 ausgeführt, sein Haus sei ausgebrannt und damit auch die Papiere,
die er erhalten habe, so dass er kein Rechtsmittel habe einlegen können.
Die Beklagte, die ihren Sitz ursprünglich in Wuppertal hatte, hat seit dem 01. Mai 2005 ihren Hauptsitz in Berlin.
Das Sozialgericht Düsseldorf hat die Klage mit Beschluss vom 02. Januar 2007 an das seit dem 01. Mai 2005 örtlich zuständige
Sozialgericht Berlin verwiesen.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17. Juni 2008 - zugestellt nach Angaben des Klägers in der
Berufungsschrift am 06. Oktober 2008 - als unzulässig abgewiesen und u. a. ausgeführt, die Klage sei bereits unzulässig, da
sie nicht innerhalb der Frist des §
87 Abs.
1 Satz 2, Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erhoben worden sei. Auch ein Grund für eine Wiedereinsetzung des Klägers sei nicht gegeben.
Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid am 29. Oktober 2008 Berufung vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg erhoben.
Zur Begründung führt er u. a. aus, sein Gesundheitszustand habe sich weiter verschlechtert.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 2008 und den Bescheid der Beklagten vom 21. September 2004 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm unter Abänderung
des Bescheides vom 28. Januar 1975 Folgen des Unfalles vom 08. Juni 1973 anzuerkennen und ihm entsprechende Leistungen zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (...) verwiesen. Der Inhalt dieser Unterlagen war Gegenstand der mündlichen
Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet. Zwar war die vor dem Sozialgericht
Düsseldorf erhobene und an das örtlich zuständige Sozialgericht Berlin verwiesene Klage nicht unzulässig; sie war insbesondere
nicht verfristet erhoben. Grundsätzlich ist gemäß §
87 Abs.
1 S. 2, Abs.
2 SGG die Klage bei Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides im Ausland binnen dreier Monate nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides
zu erheben. Der Lauf einer Frist beginnt, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit dem Tag nach der Zustellung oder, wenn diese
- wie beim Widerspruchsbescheid (§
85 Abs.
3 S. 1
SGG) - nicht vorgeschrieben und auch nicht die Form der Zustellung gewählt worden ist, mit dem Tag nach der Eröffnung oder Verkündung
(§
64 Abs.
1 SGG). Eröffnung bedeutet hier jede Art der bewussten und gewollten Mitteilung. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments
nicht nachweisen oder ist es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es als in dem Zeitpunkt
zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist (§
85 Abs.
3 S. 2
SGG in Verbindung mit § 8 Verwaltungszustellungsgesetz). Gemäß §
66 Abs.
1 SGG beginnt die Klagefrist nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über das mögliche Rechtsmittel, das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf
anzubringen ist, seinen Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Vorliegend hat der Kläger nach seinen
eigenen Angaben im Schreiben vom 12. Mai 2005 den Widerspruchsbescheid am 16. Februar 2005 erhalten, so dass die Frist zur
Klageerhebung grundsätzlich am 17. Februar 2005 begonnen hätte. Da die Beklagte im Widerspruchsbescheid jedoch als zuständiges
Gericht das lediglich bis zum 30. April 2005 zuständige Sozialgericht Düsseldorf und nicht auch das ab 1. Mai 2005 zuständige
Sozialgericht Berlin (§
57 Abs.
3 SGG) genannt hatte, begann die dreimonatige Klagefrist im vorliegenden Fall gemäß §
66 Abs.
1 SGG nicht zu laufen. Statt ihrer begann eine Jahresfrist (§
66 Abs.
2 SGG), die der Kläger mit der am 20. Mai 2005 erhobenen Klage eingehalten hat.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Bescheid vom 28. Januar 1975 aufzuheben und
dem Kläger aus Anlass des Arbeitsunfalls vom 8. Juni 1973 Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Nach § 44 Abs. 1 S. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist,
mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das
Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Vorliegend ist
nicht ersichtlich, noch vom Kläger nachvollziehbar behauptet, dass bei Erlass des Bescheides vom 28. Januar 1975 von einem
unrichtigen Sachverhalt ausgegangen oder das Recht unrichtig angewandt worden ist.
Ergibt sich im Rahmen eines Antrages auf einen Zugunstenbescheid nichts, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen
könnte, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse
vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte tatsächlich nicht
vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung
stützen. Nur wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen,
die für die Entscheidung wesentlich sind, ist ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden (Urteil des Bundessozialgerichts
vom 2. März 1988, in: SozR 1300 § 44 Nr. 33).
Der Kläger hat in diesem Zusammenhang sowohl im Verwaltungs-, als auch im Klage- und nunmehr im Berufungsverfahren lediglich
vorgetragen, dass sich seine Augenerkrankung weiterhin verschlechtert hat und dass er der Meinung ist, diese Augenerkrankung
sei auf den Unfall zurückzuführen. Auf Ersteres kommt es jedoch im vorliegenden Fall nicht an, da Leistungen in der Vergangenheit
sowohl von der Beklagten als auch von den Sozialgerichten Nürnberg und Düsseldorf wegen einer fehlenden Kausalität zwischen
dem Unfallgeschehen und der Gesundheitsstörung des Kläger abgelehnt worden sind. Der Kläger behauptet zwar pauschal, die bei
ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen seien Folge des Arbeitsunfalls. Diese pauschale Behauptung war jedoch auch bereits Gegenstand
der bisherigen Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg und dem Sozialgericht Düsseldorf. Er hat nunmehr weder vorgetragen,
inwieweit die bisherigen umfangreich erhobenen Gutachten unzutreffend sein sollen, noch hat er entsprechende Nachweise vorgelegt,
aus denen sich ergibt, dass die bisher mit seiner Sache befassten medizinischen Gutachter unzutreffende Feststellungen getroffen
hätten. Es begegnet daher keinen rechtlichen Bedenken, dass die Beklagte, nachdem sie sowohl vor dem Sozialgericht Nürnberg
als auch vor dem Sozialgericht Düsseldorf obsiegt hat, die Rücknahme des Bescheides vom 28. Januar 1975 abgelehnt hat.
Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in §
160 Abs.
1 Nrn. 1 und 2
SGG genannten Gründe vorliegt.