Anspruch auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation aus der gesetzlichen Rentenversicherung; Gewährung einer stationären
Heilmaßnahme für ein Kind
Gründe:
I. Der am 5. Dezember 1996 geborene Antragsteller begehrt als Kind seines bei der Antragsgegnerin versicherten Vaters im Wege
der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung einer stationären Heilmaßnahme.
Der Antragsteller leidet nach Einschätzung des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie H. an einer Störung sozialer Funktionen
mit Beginn in Kindheit und Jugend, an einem Zustand nach reaktiver Bindungsstörung mit Übergängen zur Persönlichkeitsstörung
und an einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens. Ferner besteht der Verdacht einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Die Krankheitsgeschichte reicht nach Aktenlage jedenfalls bis in das Grundschulalter zurück.
Aufgrund vielfältiger Verhaltensauffälligkeiten des Antragstellers wandten sich seine Eltern im August 2011 an die Klinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie I. mit der Bitte um eine vollstationäre Therapie; davon nahmen sie jedoch Ende August 2011
wieder Abstand (vgl. Entlassungsbericht vom 19. Januar 2012). Mit Schreiben vom 28. August 2011 teilten die Eltern des Antragstellers
der Klinik mit, dass keine Selbstmordgefahr mehr bestehe und dass der Antragsteller auch nicht bereit seit, mit Mitarbeitern
der Klinik über seine Beweggründe zu sprechen.
Stattdessen stellten sie im September 2011 bei der DRV Bund einen Antrag auf Gewährung einer Kinderheilbehandlung, den diese
umgehend an die Antragsgegnerin weitergeleitet hat. Nach Auswertung eines (sich teilweise in nur unleserlicher Form bei den
Verwaltungsvorgängen befindlichen, besser lesbar hingegen der Abdruck auf Bl. 11 f. der Gerichtsakte) Befundberichtes des
behandelnden Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie H. lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit Bescheid vom 19. Oktober
2011 mit der Begründung ab, dass sie eine Krankenbehandlung im Rahmen der Krankenversicherung für ausreichend erachte.
Zur Begründung des Widerspruchs machten die Eltern des Antragstellers geltend, dass der Hinweis auf eine Krankenbehandlung
im Rahmen der Krankenversicherung nachvollziehbar sei; für entsprechende Behandlungen gebe es jedoch Wartezeiten von 12 bis
18 Monaten. Der Antragsteller benötige hingegen kurzfristig "professionelle intensive Hilfe". Zur Begründung des diesen Widerspruch
zurückweisenden Bescheides vom 8. Dezember 2011 legte die Antragsgegnerin dar, dass aus ihrer Sicht der Antragsteller an einer
kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen leide. Angesichts der "Komplexität der gesundheitlichen Störungen"
bestehe keine ausreichende Belastbarkeit für die Durchführung einer Kinderheilbehandlung. Der Antragsteller bedürfe einer
stationären Krankenhausbehandlung in einer geeigneten Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Hiergegen richtet sich eine am 20. Dezember 2011 vor dem Sozialgericht Hannover erhobene Klage des Antragstellers (S 4 R 1462/11).
Vom 12. bis 19. Januar 2012 befand sich der Antragsteller in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie I. in stationärer
Behandlung, nachdem er durch suizidale Äußerungen einen Großeinsatz von Polizei und Rettungsdiensten ausgelöst hatte. Seine
Mutter legte gegenüber den Klinikärzten dar, dass der Antragsteller bei Grenz- und Regelsetzungen mit suizidalen Handlungen
drohe und innerfamiliär zunehmend aggressiv reagiere.
Der Antragsteller berichtete den Klinikärzten von einem traumatischen Erlebnis während eines früheren Aufenthaltes in einer
vollstationären Jugendhilfestation. Dieses Erlebnis habe er bislang noch nicht verarbeitet und würde es gerne therapeutisch
behandeln lassen.
Die Klinikärzte gelangten zu der Einschätzung, dass er Antragsteller trotz seines Alters viel Betreuung benötige, da er sonst
"Unfug" mache, der ihn "massiv" gefährde. Die Klinik erklärte sich "gerne bereit", den Antragsteller "zeitnah" vollstationär
zu behandeln. Sollte allerdings der gewünschte Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit auf die erlebte Traumatisierung zu richten
sein, werde eine ambulante oder stationäre Traumatherapie empfohlen.
Am 24. Februar 2012 hat der Antragsteller um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht und die Bewilligung von
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Rahmen einer stationär durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme begehrt. Zur
Begründung legte er u.a. dar, dass sein Rehabilitationsantrag nicht im Hinblick auf die komplexe Störung des Sozialverhaltens
und der Emotionen, sondern explizit im Hinblick auf eine durch einen sexuellen Übergriff bedingte posttraumatische Belastungsstörung
gestellt worden sei. Eine offensichtliche Dringlichkeit bestehe angesichts der Suizidalität.
Mit Beschluss vom 28. März 2012, dem Antragsteller zugestellt am 30. März 2012, hat das Sozialgericht Hannover den Antrag
auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Dem Antragsteller stehe gegenüber der Antragsgegnerin voraussichtlich
kein Anspruch auf Gewährung einer Kinderheilbehandlung zu. Die akute Behandlungsbedürftigkeit des Antragstellers schließe
eine Leistungspflicht der Antragsgegnerin nach §
31 Abs.
1 Satz 1 Nr.
4 SGB VI aus. Soweit aktuell eine Suizidalität vorliegen sollte, sei ohnehin eine sofortige stationäre Behandlung erforderlich. Voraussichtlich
zu erwartende erhebliche Wartezeiten auf einen stationären Therapieplatz würden keine Leistungspflicht der Antragsgegnerin
begründen.
Mit der am 30. April 2012 eingelegten Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Seine Eltern weisen darauf
hin, dass der Antragsteller am 25. April erneut mit Selbstmord gedroht habe und dabei sogar auf den Dachfirst des Hauses geklettert
sei. Anfang Mai habe er in der Schule Pflanzenschutzmittel eingenommen und dies bei der nachfolgenden Behandlung im Krankenhaus
mit suizidalen Absichten erklärt. Als hochbegabter Jugendlicher habe der Antragsteller allerdings auch gelernt, sich bei stationären
Aufenthalten in der Psychiatrie gegenüber den behandelnden Ärzten so einzulassen, dass er alsbald wieder entlassen werde.
Der Antragsteller erscheine oft wochenlang völlig stabil, um dann unerwartet doch plötzlich wieder "durchzuticken" und sich
selbst zu schädigen.
Die Eltern des Antragstellers heben hervor, dass es ihnen ungeachtet der suizidalen Ansätze ihres Sohnes nicht einmal gelungen
sei, zeitnah auch nur einen Termin bei dem bislang ambulant behandelnden Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu erhalten.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 28. März 2012 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung
zur Gewährung einer stationären Kinderheilbehandlung zu verpflichten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Ihrer Auffassung nach belegt bereits die Suizidalität des Antragstellers das Fehlen einer ausreichenden Rehabilitationsbelastungsfähigkeit.
Das beigeladene Jugendamt sieht einen dringenden Behandlungsbedarf. Da der Antragsteller in der Vergangenheit bedingt durch
eine damalige Schulverweigerung bereits zeitweilig in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht gewesen sei, sei eine kurze,
aber intensive Maßnahme zur Vermeidung längerer Fehlzeiten in der Schule zu befürworten.
Der Senat hat eine schriftliche Zeugenaussage des Kinder- und Jugendpsychiaters H. vom 4. Juni 2012 eingeholt, der den Antragsteller
zuletzt Ende Januar gesehen hat. Dieser hat sich für eine vollstationäre Behandlung des Antragstellers in einer Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgesprochen. Alternativ sei eine höherfrequente ambulante Psychotherapie zu erwägen, die er
im Rahmen seiner Praxis jedoch nicht anbieten könnte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde hat im Sinne einer - als Minus im Antrag auf Gewährung einer stationären Maßnahme enthaltenen
- Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Neubescheidung des Rehabilitationsbegehrens des Antragstellers Erfolg.
Nach §
86b Abs.
2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die
Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt
oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso
weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt
werden. Art.
19 Abs.
4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders
nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in
der Lage wäre (BVerfG, Beschluss v. 25. Februar 2009 - 1 BvR 120/09 - NZS 2009, 674).
Im vorliegenden Fall ist die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur erneuten Bescheidung des Rehabilitationsbegehrens
des Antragstellers zu verpflichten. Die bisherige Bearbeitung genügt in wesentlicher Hinsicht nicht den gesetzlichen Vorgaben.
Dadurch bedingt drohen dem Antragsteller schwer wiegende Gesundheitsgefahren, zu deren Abwehr die einstweilige Anordnung erforderlich
und angemessen ist.
1. Der Antragsteller wird als Behinderter von den Schutzvorschriften des
SGB IX erfasst. Menschen sind nach §
2 Abs.
1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger
als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Auch die Antragsgegnerin legt dar, dass die seelische Gesundheit des Antragstellers (in erheblichem Maße) von dem in seinem
Alter typischen Zustand abweicht und dass dadurch die Teilhabe des Antragstellers am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt
ist. Entsprechende Beeinträchtigungen liegen nach Aktenlage bereits seit Jahren vor.
2. Der Antragsteller sucht um die Gewährung einer Leistung zur Teilhabe in Form der medizinischen Rehabilitation im Sinne
von §§
4,
26 SGB IX nach. Die Prüfung dieses Begehrens beschränkt sich nicht auf die im Wortlaut des Antrages aufgeführte Maßnahme der Kinderrehabilitation
im Sinne des §
31 Abs.
1 Nr.
4 SGB VI. Ein Sozialleistungsträger darf hinsichtlich eines Leistungsbegehrens des Versicherten nicht am Wortlaut seiner Erklärung
haften, sondern muss nach §
2 Abs.
2 Halbs. 2 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (
SGB I) stets davon ausgehen, dass der Versicherte die ihm günstigste Art der Leistungsgewährung in Anspruch nehmen will (BSG, U.v. 29.11.2007 - B 13 R 44/07 R -).
Dieser Grundsatz gilt in besonderem Maße bei Anträgen auf Gewährung von medizinischen Leistungen. Der einzelne Versicherte
überblickt vielfach erst gar nicht das gesamte Spektrum der in Betracht kommenden Maßnahmen; auch fehlt ihm regelmäßig die
medizinische Fachkunde zur Einschätzung des Behandlungsbedarfs und der Erfolgsaussichten verschiedener therapeutischer Optionen.
3. Dabei durfte sich die Antragsgegnerin auch nicht damit begnügen, das Begehren des Antragstellers auf Gewährung von Maßnahmen
zur medizinischen Rehabilitation allein nach Maßgabe der in ihre Zuständigkeit fallenden Leistungen zu prüfen.
Die Antragsgegnerin ist der nach §
14 Abs.
2 SGB IX zuständige Rehabilitationsträger. Nachdem der dort am 21. September 2011 eingegangene Rehabilitationsantrag des Antragstellers
von der DRV Bund am 27. September 2011 nach Maßgabe des §
14 Abs.
1 Satz 2
SGB IX an die Antragsgegnerin weitergeleitet worden ist, hat diese von einer weiteren Weiterleitung abgesehen. Da auch keine anderweitige
vorausgegangene Antragstellung ersichtlich ist, stellt die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall den nach §
14 SGB IX zuständigen Rehabilitationsträger dar.
Dies hat nach §
10 SGB IX unter den dort geregelten Voraussetzungen auch zur Folge, dass die Antragsgegnerin dafür verantwortlich ist, dass die beteiligten
Rehabilitationsträger im Benehmen miteinander und in Abstimmung mit dem Leistungsberechtigten die nach dem individuellen Bedarf
voraussichtlich erforderlichen Leistungen funktionsbezogen feststellen und schriftlich so zusammenstellen, dass sie nahtlos
ineinandergreifen. Die die in §
14 Abs
1 und
2 SGB IX geregelte Zuständigkeit erstreckt sich im Verhältnis zu dem Behinderten stets auf alle Rechtsgrundlagen, die überhaupt in
dieser Bedarfssituation für behinderte Menschen vorgesehen sind. Der erstangegangene Rehabilitationsträger hat dem Behinderten
nicht nur die ihm nach dem für diesen Träger erlassenen Normen zustehenden Leistungen zu gewähren, sondern auch darüber hinausgehende
Leistungen zur Teilhabe insbesondere auch in Form der medizinischen Rehabilitation (§
5 Nr. 1
SGB IX), für deren Erbringung "eigentlich" ein anderer Sozialleistungsträger zuständig ist (BSG, U.v. 21. August 2008 - B 13 R 33/07 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 7).
4. Dementsprechend hat die Antragsgegnerin insbesondere auch zu prüfen, ob neben den in ihre originäre Zuständigkeit fallenden
Maßnahmen etwa in Form von stationärer Heilbehandlung für Kinder der Versicherten nach §
31 Abs.
1 Nr.
4 SGB VI Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Betracht kommen, die zunächst in die Zuständigkeit eines anderen Rehabilitationsträgers
fallen. Namentlich hatte sie auch sorgfältig entsprechende Rehabilitationsansprüche des Antragstellers nach dem
SGB V gegenüber seiner gesetzlichen Krankenversicherung abzuklären.
5. Bei dieser Ausgangslage hätte die Antragsgegnerin den Rehabilitationsantrag des Antragstellers nur dann, wie im Ergebnis
in den angefochtenen Bescheiden geschehen, insgesamt abweisen dürfen, wenn überhaupt kein medizinischer Rehabilitationsbedarf
gegeben wäre. Davon geht jedoch auch die Antragsgegnerin ihrerseits im Ergebnis gar nicht aus.
Zur medizinischen Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen werden nach §
26 Abs.
1 SGB IX die erforderlichen Leistungen erbracht, um (Nr.
1) Behinderungen einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung
zu verhüten oder (Nr. 2) Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern,
eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen
zu mindern. Dabei umfassen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation insbesondere (§
26 Abs.
2 Nr.
1 SGB IX) die Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe, soweit deren Leistungen unter ärztlicher Aufsicht
oder auf ärztliche Anordnung ausgeführt werden, einschließlich der Anleitung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln.
Die vorstehende Legaldefinition macht deutlich, dass der Gesetzgeber von einem weiten Begriff der medizinischen Rehabilitation
im
SGB IX ausgeht. Insbesondere hat er davon abgesehen, insoweit nur solche ärztlichen bzw. unter ärztlicher Anleitung zu erbringenden
Maßnahmen zu berücksichtigen, die traditionsgemäß in speziellen Kur- bzw. Rehabilitationseinrichtungen erbracht werden. Der
Gesetzgeber wollte vielmehr losgelöst von herkömmlichen Abgrenzungsschemata alle medizinischen Maßnahmen erfassen und der
medizinischen Rehabilitation zuordnen, die funktional darauf ausgerichtet sind, Behinderungen (einschließlich chronischer
Krankheiten) abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder (behinderungsbedingte)
Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden oder zu mindern bzw. eine Verschlimmerung
zu verhüten.
Insbesondere hat der Gesetzgeber gerade keinen Grund gesehen, die sich aus §
13 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGB VI ergebenden Einschränkungen des Aufgabenbereichs der Rentenversicherungsträger in das
SGB IX zu übernehmen. Nach diesen Bestimmungen des §
13 SGB VI erbringen die Träger der Rentenversicherung im Rahmen ihrer originären Zuständigkeit, d.h. vorbehaltlich der sich aus der
erläuterten Regelung des §
14 SGB IX ergebenden erweiterten Zuständigkeit, nicht (Nr. 1) Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in der Phase akuter Behandlungsbedürftigkeit
einer Krankheit (es sei denn, die Behandlungsbedürftigkeit tritt während der Ausführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
ein) und auch nicht (Nr. 2) Leistungen zur medizinischen Rehabilitation anstelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung.
Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber nicht den Begriff der Rehabilitation einschränken, vielmehr sollte lediglich ein
Teilbereich der in Betracht kommenden Rehabilitationsmaßnahmen im Interesse einer sachgerechten Aufgabenabgrenzung aus dem
sich aus dem
SGB VI ergebenden originären Zuständigkeitsbereich der Rentenversicherungsträger ausgegliedert werden.
Dementsprechend ist auch in der Rechtsprechung des BSG anerkannt, dass von der Ausschlussregelung des §
13 Abs.
2 SGB VI erfasste ärztliche Behandlungsmaßnahmen gleichwohl als Rehabilitationsmaßnahmen zu qualifizieren sein können (BSG, U.v. 6. Mai 1998 - B 13 RJ 11/97 R - SozR 3-2600 § 13 Nr 1 und U.v. 13. September 2011 - B 1 KR 25/10 R).
Das BSG (U.v. 6. Mai 1998, aaO.) hebt ausdrücklich hervor, dass im ersten Schritt der Begriff der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation
weit auszulegen ist, erst in einem weiteren Schritt bedarf es zur Abgrenzung der eingeschränkten Rehabilitationsaufgaben speziell
des Rentenversicherungsträgers - immer bezogen auf seine originäre Zuständigkeit, also nicht mit Wirkung auf eine sich aus
§
14 SGB IX ergebende erweiterte Zuständigkeit - einer Heranziehung der Ausschlusstatbestände des §
13 Abs
2 Nrn 1 und 2
SGB VI. Für den Anwendungsbereich der §§
10,
14 SGB IX kommt es jedoch allein darauf an, ob überhaupt eine medizinischen Leistung zur Rehabilitation erforderlich ist.
Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass sich die Antragsgegnerin als Rentenversicherungsträger im Rahmen der ihr nach
§
14 Abs.
2 SGB IX verliehenen umfassenden Prüfungszuständigkeit gegenüber dem Antragsteller gerade nicht darauf berufen kann, dass sie "eigentlich"
nach §
13 Abs.
2 SGB VI für die gebotene Rehabilitationsmaßnahme nicht zuständig sei, namentlich weil zunächst ein "akuter" Behandlungsbedarf abzudecken
sei. Entsprechende Erwägungen können nur bei der späteren Geltendmachung eines Erstattungsbegehrens gegenüber dem sachlich
zuständigen Sozialleistungsträger nach §
14 Abs.
4 SGB IX Relevanz erlangen. Im Verhältnis zum Behinderten haben sie hingegen gerade im Interesse der vom Gesetz angestrebten zeitnahen
und umfassenden Rehabilitation unter Berücksichtigung des angestrebten "nahtlosen" (§
12 Abs.
1 Nr.
1 SGB IX) Ineinandergreifens aller erforderlichen Maßnahmen nach der erläuterten gesetzlichen Vorgabe des §
14 SGB IX von vornherein außer Betracht zu bleiben. Dementsprechend bedarf es im vorliegenden Rechtsstreit auch nicht der Abgrenzung
des Rahmens eines "akuten" Behandlungsbedarfs und der Abklärung, ob ein solcher Rahmen nicht ohnehin angesichts des langjährigen
Krankheitsbildes im vorliegenden Fall längst überschritten ist.
Soweit das BSG bei der Prüfung von Erstattungsbegehren eines Sozialleistungsträgers darauf abstellt, dass für die Bestimmung des Zeitpunkts,
von dem an bei der Behandlung die Akutbehandlung beendet sei und die medizinische Rehabilitation beginne, entscheidend auf
die Zielrichtung des (vor)leistenden Leistungsträgers mit der konkret erbrachten Leistung abstellt (BSG, U.v. 17. Februar 2010 - B 1 KR 23/09 R - SozR 4-2500 § 40 Nr 5, Juris-Rz. 29), werden Abgrenzungskriterien unter dem spefizischen Gesichtspunkt der Objektivierbarkeit
eines Erstattungsbegehrens formuliert. Für den vorliegenden Zusammenhang kann eine Abgrenzung schon deshalb nicht weiterführen,
weil bislang gerade keine Leistung konkret erbracht wird und mithin sich auch noch keine dafür maßgebliche Zielrichtung eines
Sozialleistungsträgers feststellen lässt. Jedenfalls spricht auch dieser Ansatz für die Maßgeblichkeit des funktionellen Zusammenhanges
der (erstrebten) Behandlung mit dem Ausgleich einer Behinderung.
Ein anderes einengendes Verständnis des für die Anwendung des
SGB IX maßgeblichen Begriffes der medizinischen Rehabilitation kommt nicht in Betracht. Eine engere Interpretation scheidet bereits
deshalb aus, weil es schon an den dafür erforderlichen klaren und objektivierbaren Abgrenzungskriterien fehlt. Innerhalb der
funktional auf die medizinische Behandlung der Ursachen und Folgen einer Behinderung ausgerichteten (ambulanten oder stationären)
medizinischen Leistungen (die durch Ärzte oder unter Aufsicht von Ärzten zu erbringen ist) lässt sich keine klare Abgrenzung
in dem Sinne treffen, dass lediglich ein Teil dieser Maßnahmen als Leistung der Rehabilitation und die übrigen nur als nicht-rehabilitative,
gewissermaßen also "einfache", Behandlungsmaßnahmen zu qualifizieren sein sollten.
Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation umfassen vielmehr in weiten Teilen Behandlungselemente, die auch der kurativen
Versorgung dienen. Mithin kann es schon in der Sache keine strikte Trennung zwischen kurativer Behandlung und medizinischer
Rehabilitation geben (Kossens/von der Heide/Maaß,
SGB IX, 3. Auflage 2009, §
26 Rn. 5).
Soweit gleichwohl der Versuch unternommen wird, die "besonderen Schwerpunkte und primären Ziele von Kuration und Rehabilitation"
zu definieren (Kossens/von der Heide/Maaß, aaO.), führen diese nicht zu klaren Abgrenzungskriterien, noch weniger zu Kriterien,
die im Alltag der Massenverwaltung - zumal in einer der Behandlung zeitlich vorgelagerten Beurteilungs- und Beratungssituation
- zielgerichtet angewandt werden könnten. So wird der Ansatz vertreten, dass die kurative Versorgung primär auf das klinische
Bild als Manifestation einer Krankheit/Schädigung ausgerichtet sein soll. Sie soll auf Heilung bzw. Remission (im Sinne einer
kausalen Therapie) oder bei Krankheiten mit Chronifizierungstendenz auf die Vermeidung einer Verschlimmerung sowie auf die
Linderung der Leiden und auf die Vermeidung weiterer Krankheitsfolgen abzielen. Ihr konzeptionelles Bezugssystem sollen in
der Regel ein bio-medizinische Krankheitsmodell und die entsprechende "statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter
Gesundheitsprobleme" bilden, wohingegen der medizinischen Rehabilitation ein bio-psycho-soziales Modell von Krankheit und
Behinderung zugrunde liegen soll, welches Gesundheit und Krankheit als Ergebnis des Ineinandergreifens physiologischer, psychischer
und sozialer Vorgänge beschreibt und den gesamten Lebenshintergrund der Betroffenen berücksichtigt (Kossens/von der Heide/Maaß,
aaO., § 26, Rn. 5 f.).
Schon der Umstand, dass es neben physischen Erkrankungen auch vielfältige psychische Erkrankungen (und nicht selten Krankheitsbilder
mit Überschneidungen) gibt, macht jedoch deutlich, dass es letztlich nicht weiterführt, ein bio-medizinisches Krankheitsbild
in einen Gegensatz zu einem bio-psychischen Modell setzen zu wollen. Gerade psychische Erkrankungen können vielfach auch unter
primär kurativen Gesichtspunkten nur dann sinnvoll therapiert werden, wenn die Erkrankung als Ergebnis des Ineinandergreifens
physiologischer, psychischer und sozialer Vorgänge verstanden und in diesem umfassenden Kontext auch behandelt wird.
Abgesehen von den nicht zu bewältigenden Abgrenzungsproblemen würde ein Versuch, aus den funktional auf die medizinische Behandlung
der Ursachen und Folgen einer Behinderung ausgerichteten (ambulanten und/oder stationären) medizinischen Leistungen (die durch
Ärzte oder unter Aufsicht von Ärzten zu erbringen ist) einen Teilbereich als nicht-rehabilitative, gewissermaßen also "einfache",
Behandlungsmaßnahmen auszugrenzen und damit dem Anwendungsbereich insbesondere der §§
26,
10,
14 SGB IX zu entziehen, auch der gesetzgeberischen Intention widersprechen. Mit einem solchen Ansatz würde ein zentrales Ziel der gesetzlichen
Regelung verfehlt.
Ein Hauptanliegen des
SGB IX besteht darin, die Koordination der Leistungen und die Kooperation der Leistungsträger durch wirksame Instrumente sicherzustellen
(Kossens/von der Heide/Maaß,
SGB IX, 3. Auflage 2009, Einleitung Rn. 35). Sowohl das auch durch Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG geschützte eigene Interessen der Behinderten an einer weitestmöglichen Bewahrung bzw. Wiederherstellung ihrer Gesundheit
als auch die öffentlichen Interessen an einem wirkungsvollen und damit im Ergebnis zugleich sparsamen Einsatz der Rehabilitationsressourcen
gebieten nachdrücklich, die erforderliche Koordination und Kooperation insbesondere auch bei der Gewährung der medizinischen
Behandlungsmöglichkeiten sicherzustellen. Einleuchtend hebt die Gesetzesbegründung hervor: Die zeitgerechte, zügige Erbringung
von Leistungen zur Teilhabe liegt im Interesse der Leistungsberechtigten, aber auch der zuständigen Rehabilitationsträger
(BT-Drs. 14, 5074, S. 102).
Die vom Gesetzgeber gewünschte und sowohl im öffentlichen Interesse als auch unter Berücksichtigung der elementar betroffenen
individuellen Interessen der Behinderten dringend gebotene Koordination und Kooperation im Sinne einer nahtlosen und zügigen
Erbringung aller erforderlichen Leistungen kann ihr Ziel nur dann effektiv erreichen, wenn diesen Vorgaben umfassend Rechnung
getragen ist. In vielen Fällen hängt der Gesamterfolg einer Rehabilitation gerade maßgeblich davon ab, dass bereits ab der
Erkennbarkeit einer drohenden Behinderung und erst recht alsbald nach dem Eintritt einer Behinderung die medizinischen Behandlungsmaßnahmen
sorgfältig und fachgerecht geplant und koordiniert sowie zügig und möglichst effektiv umgesetzt werden. Gerade die vom Gesetzgeber
mit dem
SGB IX verfolgten Ziele gebieten ein umfassendes Verständnis des Begriffes der medizinischen Rehabilitation im Sinne dieses Gesetzes.
Wendet sich der Behinderte in diesem Stadium an einen Rehabilitationsträger mit einem auf Gewährung und Optimierung der medizinischen
Heilbehandlung gerichteten Begehren, dann wird den erläuterten gesetzlichen Zielen nur dann mit der gebotenen Stringenz Rechnung
getragen, wenn der nach §
14 SGB IX zuständige Rehabilitationsträger die ihm zugewiesene Lotsen- und Gewährleistungsaufgabe zeitnah und umfassend wahrnimmt.
Er soll gerade nicht für den Gesamterfolg der Rehabilitation maßgebliche Teile der medizinischen Heilbehandlung aus seiner
Verantwortung ausklammern können.
Nicht zuletzt auch der vorliegende Fall verdeutlicht die ganz erheblichen Gefahren, die ein unkoordiniertes Zusammenwirken
der betroffenen Sozialleistungsträger mit sich bringen kann. Obwohl im Ergebnis von allen Beteiligten die gravierenden gesundheitlichen
Beeinträchtigungen des Antragstellers bis hin zu bedeutsamen letalen Risiken hervorgehoben werden, befindet er sich seit Monaten
letztlich ohne Behandlung.
6. Aus den vorstehenden Darlegungen wird deutlich, dass die im Widerspruchsbescheid dargelegte Einschätzung der Antragsgegnerin
gemessen an den rechtlichen Vorgaben in sich widersprüchlich ist: Gerade wenn aufgrund der "Komplexität der gesundheitlichen
Störungen", d.h. der vielschichtigen Ausprägung der seit Jahren bestehenden Behinderung, eine stationäre Krankenhausbehandlung
in einer geeigneten Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie für erforderlich erachtet wird, wird im Ergebnis von Seiten
der Antragsgegnerin der Rehabilitationsbedarf im Sinne des
SGB IX bestätigt und nicht etwa widerlegt.
Für die Bejahung eines Rehabilitationsbedarfs im Sinne insbesondere der §§
10,
14,
26 SGB IX ist allein maßgebend, dass ärztliche Maßnahmen funktional geboten sind, um Auswirkungen der Behinderungen im Sinne des §
26 Abs.
1 SGB IX insbesondere zu mindern. Davon geht im vorliegenden Fall auch die Antragsgegnerin in Übereinstimmung mit der Einschätzung
der behandelnden Ärzte aus. Die nachfolgend sich ergebenden Fragen, ob ambulante oder stationäre Maßnahmen unter Beauftragung
welcher Einrichtungen zu erbringen sind, ob etwa aus medizinischer Sicht die Rehabilitation in einer klassischen Rehabilitationsklinik
oder in einem anderen Krankenhaus vorzugswürdig ist, berühren nicht das Vorliegen des Rehabilitationsbedarfes als solchen
und damit die Anwendbarkeit insbesondere der §§
10 und
14 SGB IX.
Entsprechendes gilt, soweit die Antragsgegnerin geltend macht, dass bereits die Suizidalität des Antragstellers das Fehlen
einer ausreichenden Rehabilitationsbelastungsfähigkeit belege. Diese Fähigkeit mag dem Antragsteller durchaus für bestimmte
Einrichtungen und Formen der Rehabilitation fehlen, wobei Einzelheiten der fachärztlichen Beurteilung auf der Basis einer
eingehenden aktuellen Befunderhebung bedürfen. Es fehlt aber an jeglichen Anhaltspunkten dafür, dass unter diesem Gesichtspunkt
überhaupt keine ambulanten oder stationären Behandlungen durch Ärzte im Sinne des §
26 Abs.
2 Nr.
1 SGB IX in Betracht kommen. Bezeichnenderweise geht die Antragsgegnerin selbst davon aus, dass zur Behandlung des Antragstellers
geeignete Fachkliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Verfügung stehen.
7. Ausgehend von ihrer eigenen Bewertung des medizinischen Sachverhalts hätte mithin die Antragsgegnerin dem Rehabilitationsbegehren
dem Grunde nach stattgeben müssen. Dementsprechend ist sie verpflichtet, die nach dem
SGB IX in Verbindung mit den für die in Betracht kommenden Rehabilitationsträger (insbesondere auch nach den §§
13 ff.
SGB VI und §§
27,
39,
40 SGB V) maßgeblichen Rechtsvorschriften in Betracht kommenden Maßnahmen im Hinblick auf ihre Eignung, Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit
sorgfältig zu prüfen und sachgerecht auszuwählen. Es hätte der besonders sorgfältigen Prüfung bedurft, auf welchem Wege sich
die Gesundheits- und Lebensgefahren für den Antragsteller weitestmöglich reduzieren lassen und die Heilung insbesondere auch
im Sinne der anzustrebenden Übernahme einer altersentsprechenden Selbstverantwortung gefördert werden kann.
Dabei ist die Antragsgegnerin nach der bereits erläuterten Vorgabe des §
10 Abs.
1 SGB IX unter den dort geregelten Voraussetzungen ggf. auch dafür verantwortlich, dass die beteiligten Rehabilitationsträger im Benehmen
miteinander und in Abstimmung mit dem Leistungsberechtigten die nach dem individuellen Bedarf voraussichtlich erforderlichen
Leistungen funktionsbezogen feststellen und schriftlich so zusammenstellen, dass sie nahtlos ineinandergreifen.
Bei der Auswahl der Maßnahmen hat die Antragsgegnerin nach den klaren Vorgaben des §
10 Abs.
1 Satz 2
SGB IX i.V.m. mit insbesondere §§
27,
39,
40 SGB V und §
31 Abs.
1 Satz 1 Nr.
4 SGB VI darauf zu achten, dass die medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den Antragsteller die den Zielen der §§
1 und
4 Abs.
1 SGB IX entsprechende umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft möglichst zügig und wirksam und auf Dauer zu ermöglichen.
Dabei ist berechtigten Wünschen des Leistungsberechtigten in dem von §
9 SGB IX aufgezeigten Rahmen Rechnung zu tragen. Die Erreichung der Rehabilitationsziele hängt wesentlich von der Motivation und Mitwirkung
der Betroffenen ab. Die vorgeschriebene Abstimmung mit den Leistungsberechtigten über die voraussichtlich erforderlichen Leistungen
und deren Koordinierung informiert die Betroffenen, bietet ihnen die Möglichkeit zur Mitwirkung und fördert damit die Motivation,
an den Maßnahmen aktiv teilzunehmen (Kossens/von der Heide/Maaß,
SGB IX, 3. Auflage 2009, §
10, Rn. 6).
Nur mit einem solchen Vorgehen trägt die Antragsgegnerin den gesetzlichen Vorgaben Rechnung. Ein wirkungsvolles Rehabilitations-
und Teilhabemanagement schafft durch die frühzeitige Einleitung und das nahtlose Ineinandergreifen der erforderlichen Leistungen
die Voraussetzungen für die bestmögliche Nutzung der Rehabilitationschancen. Die Rehabilitationsträger haben daher das Rehabilitationsverfahren
so zu koordinieren, dass die Leistungen zügig, wirksam, wirtschaftlich und nachhaltig erbracht werden (Kossens/von der Heide/Maaß,
SGB IX, 3. Auflage 2009, §
10, Rn. 6). Dabei ist selbstverständlich den Besonderheiten des jeweiligen Krankheitsbildes und den Rechten des Betroffenen
insbesondere auch nach §
9 SGB IX Rechnung zu tragen.
Gerade in Anbetracht der von der Antragsgegnerin selbst hervorgehobenen Komplexität des Krankheitsgeschehens kann die erforderliche
Prüfung der gebotenen Rehabilitationsmaßnahmen sachgerecht nur auf der Grundlage eines zeitnah zu erstellenden Fachgutachtens
erfolgen, sofern sich - nach fachärztlicher Beratung - nicht sogar eine zeitnahe stationäre Aufnahme des Antragstellers als
indiziert zur zügigen Abklärung des Krankheitsbildes darstellt. Die Antragsgegnerin wird daher - soweit es nicht zu einer
entsprechenden zeitnahen stationären Aufnahme des Antragstellers kommt - einen in Rehabilitationsfragen erfahrenen Facharzt
für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Erstellung eines Gutachtens zur Erhebung des aktuellen Gesundheitszustandes des
Antragstellers und zur Abklärung der Rehabilitationsoptionen zu beauftragen haben und auf dieser Grundlage nach Maßgabe der
vorstehend erläuterten rechtlichen Vorgaben das Rehabilitationsbegehren erneut zu bescheiden haben.
Dabei ist vorsorglich klarzustellen, dass die Antragsgegnerin als der nach §
14 SGB IX zuständige Rehabilitationsträger nicht theoretische Möglichkeiten aufzuzeigen, sondern konkrete Maßnahmen zu gewähren hat.
Sollte beispielsweise die vorzunehmende Prüfung zu dem Ergebnis führen, dass als erste Maßnahme eine Aufnahme in einer bestimmten
Klinik angezeigt ist, dann ist auch der entsprechende Klinikplatz von Seiten der Antragsgegnerin sicherzustellen.
Der Gesetzgeber wollte mit den erläuterten Vorgaben insbesondere der §§
10,
14 SGB IX die betroffenen Sozialleistungsträger für eine Gewährleistung einer effektiven Rehabilitation in die Pflicht nehmen. Die
Gesetzesbegründung stellt klar, dass die Rehabilitationsträger bei der zügigen, umfassenden und durchgehenden Ausführung der
zur Erreichung der Ziele erforderlichen Leistungen die (wirksame und wirtschaftliche) "Leistungsausführung zu gewährleisten"
haben; sie haben das Verfahren bei Bedarf durchgehend zu sichern (BT-Drs. 14, 5074, S. 101).
Sollte die (zeitnahe) Bereitstellung eines aus medizinischer Sicht an sich zu präferierenden Klinikplatzes angesichts unzureichender
Kapazitäten sich auch bei nachhaltigen Bemühungen als nicht möglich erweisen, hätte die Antragsgegnerin gerade auf der Grundlage
des gesetzlichen Gebotes zur möglichst zügigen und wirksamen Rehabilitation sorgfältig zu erwägen, ob und ggfs. welche anderweitigen
zeitnah zu realisierenden stationären oder ambulanten Maßnahmen im vorliegenden Einzelfall zur Überbrückung (oder auch alternativ)
mit dem Ziel der Erreichung eines zeitnahen und möglichst umfassenden Rehabilitationserfolges angesichts eines eventuell zu
konstatierenden Defizits an optimierten Behandlungskapazitäten in Betracht kommen. Im Übrigen würde die eventuelle Feststellung
unzureichender Behandlungskapazitäten - außerhalb der Bescheidung des konkreten Rehabilitationsbegehrens - die Antragsgegnerin
auch zur Prüfung verpflichten, ob sie dem Gebot des §
19 Abs.
1 Satz 1
SGB IX ausreichend Rechnung getragen hat, wonach die Rehabilitationsträger gemeinsam unter Beteiligung der Bundesregierung und der
Landesregierungen darauf hinzuwirken haben, dass die fachlich und regional erforderlichen Rehabilitationsdienste und -einrichtungen
in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung stehen (wobei das in §
19 Abs.
1 Satz 2
SGB IX normierte Verbot von Zugangs- und Kommunikationsbarrieren sich nach dem gesetzgeberischen Ziel auch auf psychisch wirkende
Zugangsbarrieren erstreckt).
Entsprechend dem Anpassungsgebot des §
10 Abs.
1 Satz 2
SGB IX hat die Antragsgegnerin auch nach Einleitung entsprechender Maßnahmen unter Berücksichtigung insbesondere des Rehabilitationsverlaufs
und der weiteren Entwicklung des Gesundheitszustandes des Antragstellers fortlaufend zu prüfen, ob Änderungen und/oder Ergänzungen
des zunächst erarbeiteten Rehabilitationsplanes angezeigt sein können.
8. Als Zeitraum für die einzelfallbezogen zu erarbeitende Feststellung des Rehabilitationsbedarfes sieht das Gesetz in §
14 Abs.
2 SGB IX in Fällen, in denen es keines Gutachtens bedarf, eine Frist von drei Wochen vor. Im vorliegenden Fall bedarf es, soweit es
nicht zu einer zeitnahen stationären Aufnahme des Antragstellers kommt, allerdings aus den bereits dargelegten Gründen der
Einholung eines Sachverständigengutachtens. Auch unter Einbeziehung dieses Umstandes hat die Antragsgegnerin unter Berücksichtigung
des Ausmaßes der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Antragstellers und der bereits eingetretenen erheblichen Verzögerungen
die gebotene Neubescheidung bei Einholung eines Gutachtens innerhalb von sechs Wochen zu treffen, soweit keine der Sphäre
des Antragstellers anzulastende Verzögerungsgründe eintreten.
9. Eine darüber hinausgehende Anordnung im Sinne der Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung einer konkreten Maßnahme
vermag der Senat hingegen nicht zu treffen, weil nach derzeitigem Sach- und Streitstand nicht zu überblicken ist, welche der
in Betracht kommenden Maßnahmen die besten Erfolgsaussichten einerseits für eine möglichst langfristige und weitreichende
Besserung des Gesundheitszustandes des Antragstellers und andererseits im Hinblick auf die Minimierung aktueller Gesundheits-
und Lebensgefahren aufweist. Schon angesichts des Fehlens einer zeitnahen fachärztlichen Befundung und Behandlung lässt sich
nicht einmal der aktuelle Gesundheitszustand des Antragstellers im Detail verlässlich überblicken. Der Akteninhalt wird geprägt
von subjektiven und naturgemäß im Ergebnis laienhaften - wohl auch nicht immer kohärenten - Darstellungen der Eltern des Antragstellers.
Schon die eigene Auffassung des fünfzehnjährigen Antragstellers bleibt weitgehend verborgen, kann aber angesichts der Komplexität
des Krankheitsgeschehens auch nur mit fachärztlicher Hilfe validiert werden. Bezeichnenderweise sieht sich auch der Prozessbevollmächtigte
des Antragstellers nach dem Gesamtergebnis des Beschwerdeverfahrens nicht in der Lage, auf der Basis des gegenwärtigen Sach-
und Streitstandes substantiiert und objektivierbar darzulegen, welche der in Betracht kommenden Behandlungsoptionen im Ergebnis
die besten Chancen einerseits im Sinne der umgehend gebotenen Gefahrenabwehr und andererseits im Sinne eines in längerfristiger
Perspektive möglichst erfolgreichen Rehabilitationsverlaufs bietet.
Gerade hieran anknüpfend ist die Antragsgegnerin im Rahmen der ihr mit der vorliegenden einstweiligen Anordnung aufgegebenen
Neubescheidung zu verpflichten, die insoweit erforderlichen Feststellungen insbesondere durch Einholung eines fachärztlichen
Gutachtens zeitnah zu treffen, sofern sie nicht nach fachärztlicher Beratung sogar zur zügigen Abklärung des Krankheitsbildes
eine zeitnahe stationäre Aufnahme des Antragstellers für indiziert erachtet und einen geeigneten Klinikplatz dem Antragsteller
auch umgehend zur Verfügung stellt.
Da diese Anordnung den Interessen des Antragstellers im Rahmen der Bandbreite der dem Senat im vorliegenden Eilverfahren zur
Verfügung stehenden Entscheidungen bestmöglich Rechnung trägt, kommt auch im Rahmen einer Folgenabwägung keine andere Entscheidung
in Betracht.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).