Opferentschädigung
Schockschaden bei Tötung naher Angehöriger
Einzelfallprüfung des Ursachenzusammenhangs zwischen Gewaltverbrechen und psychischen Störungen
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Klägerin Schädigungsfolgen im Hinblick auf eine gegenüber ihrer 1977 geborenen
Tochter H. begangenen Gewalttat festzustellen und ihr deswegen Versorgung nach den Vorschriften des
Opferentschädigungsgesetzes zu gewähren ist.
Die 1955 geborene Klägerin ist iranische Staatsangehörige. Sie ist Mutter von sieben in der Bundesrepublik in den Jahren zwischen
1976 und 1991 geborenen Kindern. Sie ist zweifach verwitwet. Ihre zweitälteste, 1977 geborene Tochter I. hatte eine Berufsausbildung
zur Zahnarzthelferin durchlaufen und arbeitete in diesem Beruf in der Dienststellung einer Stabsunteroffizierin bei der Bundeswehr.
Am 25. oder 26. November 2006 wurde sie von dem 1981 geborenen J., mit dem sie zu diesem Zeitpunkt seit einigen Monaten zusammenlebte,
in ihrer Wohnung in K. getötet. Wegen der Tat wurde der Täter mit Urteil des Landgerichts Bremen vom 3. August 2007 wegen
Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt.
Nachdem die Leiche der Tochter der Klägerin am 27. November 2006 aufgefunden worden war, übermittelte die ermittelnde Polizeidienststelle
in K. am selben Tag per Fax das Ersuchen an die Polizeidienststelle L., die Klägerin von dem Tod ihrer Tochter in Kenntnis
zu setzen. Dementsprechend suchten zwei Beamte der Polizeistation L. in Begleitung einer Seelsorgerin die Klägerin am späten
Nachmittag des 27. November 2006 auf und teilten ihr mit, dass ihre Tochter Opfer eines Tötungsdeliktes geworden sei. Wegen
der Reaktion der Klägerin auf diese Nachricht waren unmittelbar danach der Einsatz eines Notarztes und im späteren Verlauf
des Tages ein Hausbesuch des Hausarztes erforderlich.
Im Dezember 2006 beantragte u.a. die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung und machte geltend, einen Schockschaden
erlitten zu haben. Die Beklagte zog das Strafurteil des Landgerichts Bremen und medizinische Unterlagen über die Klägerin
bei und ließ sie von der Nervenärztin Dr. M. begutachten.
In dem Gutachten vom 30. Oktober 2008 führte die Gutachterin zusammenfassend aus, bei der Klägerin hätten eine gelinde depressive
Verstimmung und eine undifferenzierte Somatisierungsstörung vor dem streitigen Ereignis bestanden.
Beide Erkrankungen seien wesentlich verschlechtert worden durch eine hinzugekommene depressive Verstimmung mit Somatisierung
im Rahmen einer abnormen Trauerredaktion nach gewaltsamem Tod eines Kindes. Derzeit zeichne sich ein Übergang der Krankheit
in eine chronifizierte anhaltende depressive Verstimmung ab. Die reaktive depressive Verstimmung sei aber Reaktion auf den
gewaltsamen Tod und den Verlust des Kindes, nicht auf die Übermittlung der Todesnachricht an sich. Darauf gestützt lehnte
die Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung mit Bescheid vom 17. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 14. Mai 2009 ab. Die nach den Gutachten festzustellenden Gesundheitsstörungen der Klägerin seien nicht mit den Geschehnissen
der Nachrichtenübermittlung über den Tod der Tochter in ursächlichem Zusammenhang zu bringen. Vielmehr seien sie Folge einer
abnormen Trauerreaktion.
Dagegen hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Bremen erhoben, das das Verfahren zuständigkeitshalber an das Sozialgericht
Hannover verwiesen hat. Sie hat geltend gemacht, dass zu der verstorbenen Tochter I. ein besonders enges Verhältnis bestanden
habe. Nach dem Erhalt der Todesnachricht habe sie zu schreien begonnen und habe sich nicht wieder beruhigen können. Deswegen
sei unmittelbar ärztliche Behandlung erforderlich gewesen. Als Nebenklägerin in dem Strafverfahren habe sie nach und nach
sämtliche schrecklichen Einzelheiten des Vorgangs der Tötung der Tochter zur Kenntnis erhalten. Das könne sie nicht verarbeiten
und sich auch nicht damit abfinden, sodass bei ihr deswegen eine schwere Schlafstörung bestehe. Nach dem Gesetz sei nicht
Voraussetzung für die Versorgung, dass ein sogenannter Schockschaden vorliege. Vielmehr könne diese auch gewährt werden, wenn
das Sekundäropfer durch Wahrnehmung der Gewalttat oder durch sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden sei, solange nur
eine besondere persönliche Nähe zum Primäropfer bestehe. Eine Versorgung sei nur ausgeschlossen, wenn nachgewiesen sei, dass
die Erkrankung auf anderen Ursachen beruhe. Dieser Nachweis sei nicht geführt. Die Beschränkung allein auf die Folgen der
Übermittlung der Todesnachricht finde im Gesetz keine Stütze.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. August 2010 als unbegründet abgewiesen. Nach dem Gutachten der
Dr. M. stünden die Gesundheitsstörungen der Klägerin nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der Übermittlung der Todesnachricht,
so dass die Voraussetzungen für Leistungen nach dem
OEG nicht erfüllt seien.
Gegen den ihr am 8. September 2010 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die am 8. Oktober 2010 bei dem Landessozialgericht
eingegangene Berufung der Klägerin, mit der sie ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft und darüber hinaus
geltend macht, seit dem 27. November 2006 in ständiger ärztlicher Behandlung infolge der Traumatisierung durch den gewaltsamen
Tod der Tochter I. zu stehen.
Die Klägerin beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 30. August 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2009
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2009 aufzuheben,
2. bei ihr eine depressive Störung, eine dissoziative Störung sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung als Folgen
der zum Tod ihrer Tochter I. N. im November 2006 führenden Gewalttat festzustellen und die Beklagte zu verurteilen, ihr deswegen
Beschädigtenversorgung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 30. August 2010 zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Bremen, Befundberichte des
Internisten Dr. O. und des Arbeitsmediziners Dr. P. sowie von dem Landkreis Q. das Einsatzprotokoll über den Notarzteinsatz
am 27. November 2006 beigezogen. Außerdem hat er ein Gutachten über die Klägerin von der Nervenärztin Dr. R. erstatten lassen.
Diese hat das Gutachten unter dem 28. Oktober 2011 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten
Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht
hat zutreffend festgestellt, dass die angefochtenen Bescheide der Beklagten nicht rechtswidrig sind und die Klägerin demzufolge
nicht in ihren Rechten verletzen. Auch nach Auffassung des Senats steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung von
Schädigungsfolgen und auf die Gewährung von Versorgung nach den Vorschriften des
OEG i.V.m. dem BVG nicht zu.
Voraussetzung für die Feststellung von Schädigungsfolgen gemäß §
1 OEG ist, dass die Klägerin an Gesundheitsstörungen leidet, die rechtlich wesentlich durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen,
tätlichen Angriff verursacht worden sind. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 10.
Dezember 2002, Az.: B 9 VG 7/01 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 23) eine unmittelbare Schädigung des Opfers voraus, was grundsätzlich einen engen zeitlichen und örtlichen
Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder
voraussetzt.
Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Denn die Klägerin ist nicht unmittelbar von den auf ihre verstorbene Tochter ausgeübten
Einwirkungen betroffen gewesen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 7. November 1979, Az.: 9 RVg 1/78, SozR 3800 § 1 Nr. 1) kann als unmittelbare Schädigung auch eine solche angesehen werden, die einen gesundheitlichen Schaden
- Schockschaden - aufgrund des Erhalts der Nachricht über einen vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriff verursacht hat. Dies
setzt voraus, dass die psychischen Auswirkungen einer schweren Gewalttat auf das Sekundäropfer als mit dieser so unmittelbar
verbunden betrachtet werden können, dass beide - die Gewalttat und die Auswirkungen auf das Sekundäropfer - eine natürliche
Einheit bilden. Ob dies im Fall der Klägerin bei zu unterstellender persönlicher Nähe zu dem Primäropfer allein auf die Auswirkungen
des erstmaligen Erhaltes der Todesnachricht beschränkt ist, oder ob ein Schockschaden in dem zuvor genannten Sinn auch aufgrund
solcher Gesundheitsstörungen anzuerkennen sein könnte, die auf der Klägerin erst später zugänglich gewordenen Informationen
über die Einzelheiten der Gewalttat beruhen, ist der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht mit letzter
Sicherheit zu entnehmen. Dies kann aber im vorliegenden Fall dahinstehen. Jedenfalls gehören zu den Schockschäden nicht solche
psychischen Beeinträchtigungen von nahen Familienangehörigen, die aufgrund der veränderten Lebensumstände infolge der Schädigung
des Primäropfers eingetreten sind (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Dezember 1997, Az.: 9 BVg 5/97).
Nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin weder gegenwärtig
unter Gesundheitsstörungen leidet noch in der Vergangenheit für länger als sechs Monate (§
1 OEG i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG) gelitten hat, die ursächlich auf den Erhalt der Todesnachricht oder der Informationen über die näheren Umstände der zum
Tode führenden Gewalttat bedingt sind oder waren.
Als Schädigungsfolgen sind dabei nur solche nachgewiesenen Gesundheitsstörungen anzuerkennen, die wenigstens mit Wahrscheinlichkeit
durch das schädigende Ereignis verursacht worden sind. Wahrscheinlichkeit in dem genannten Sinn liegt vor, wenn nach geltender
medizinischer Lehrmeinung mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht. Ursache einer Gesundheitsstörung sind in
dem hier erheblichen Sinn diejenigen Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich
mitgewirkt haben.
Haben zu dem Eintritt einer Gesundheitsstörung mehrere Bedingungen beigetragen, so sind nur diejenigen Ursache im Rechtssinn,
die von ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Schadens wenigstens den anderen Bedingungen gleichwertig sind.
Kommt dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist er allein Ursache im Rechtssinn
(Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung, vgl. Rohr/Strässer/Dahm, Kommentar zum BVG, Anm. 10 zu § 1).
Bei der Klägerin liegen im Wesentlichen eine depressive Störung, eine dissoziative Störung sowie eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung vor. Diese sind nicht in dem vorgenannten Sinn durch den Erhalt der Todesnachricht oder der Informationen über
die näheren Umstände des Todes verursacht. Denn für den Eintritt der Gesundheitsstörungen waren die genannten Umstände nur
von untergeordneter Bedeutung. Die Sachverständige Dr. R. hat in für den Senat nachvollziehbarer Weise aus den von ihr sorgfältig
erhobenen Befunden dargelegt, dass die Klägerin auch bereits vor dem hier streitigen Ereignis im November 2006 unter zunehmenden
körperlichen Beschwerden als Zeichen einer andauernden Überforderung mit ihrer Lebenssituation gelitten hat. Diese waren so
ausgeprägt, dass stationäre Heilverfahren in den Jahren 2002 und 2006 und darüber hinaus auch eine langfristige Krankschreibung
erforderlich waren. In den Beschwerden der Klägerin ist es nach dem Tod der Tochter I. zu einer Akzentuierung, also zu einer
Verschlimmerung gekommen. Sind bereits die vor November 2006 bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen als Reaktion
auf ihre Lebenssituation aufzufassen, so liegt es nahe, auch die Verschlimmerung als derartige Reaktion aufzufassen.
Damit ist aber nicht zugleich gesagt, dass die Verschlimmerung ursächlich unmittelbar durch die Gewalttat - hier also auf
den Erhalt der Todesnachricht oder der Informationen über die näheren Umstände des Todes - verursacht wäre.
Denn durch die Folgen der Gewalttat ist die Lebenssituation der Klägerin dauerhaft ganz gravierend verändert worden. Aus dem
Gutachten der Sachverständigen Dr. R. ergibt sich, was auch dem übrigen aktenkundigen Vorbringen der Klägerin bereits plastisch
zu entnehmen ist, dass ihr die Tochter I. sehr fehlt und sie dementsprechend unter dem Fehlen der Tochter sehr leidet. Dieses
Leiden ist zwar letztlich Folge der Gewalttat, steht aber i.S. der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Beschluss
vom 17. Dezember 1997, aaO.) unmittelbar nicht mit der Gewalttat, sondern mit den aufgrund der Gewalttat veränderten Lebensumständen
in Zusammenhang.
Die Sachverständige hat darüber hinaus nachvollziehbar herausgearbeitet, dass die Todesnachricht an sich, auch unter Berücksichtigung
der sich aus dem Migrationhintergrund der Klägerin ergebenden Besonderheiten, für den Eintritt der Verschlimmerung von nur
untergeordneter Bedeutung ist. Sie hat nämlich ausgeführt, dass die Erfahrung belegt, dass es für die Entwicklung derartiger
Krankheitssymptome häufig einer Todesnachricht nicht bedarf.
Zudem, und das stützt aus der Sicht des Senats die Annahme, dass die Gesundheitsstörungen der Klägerin nicht rechtlich wesentlich
durch die Todesnachricht verursacht oder verschlimmert worden sind, hat die Sachverständige dargelegt, dass bei der Klägerin
keine traumaspezifischen Beschwerden und Befunde im Vordergrund ihres Leidensbildes stehen. Würde bei der Klägerin eine ursächlich
auf den Erhalt der Todesnachricht oder der Informationen über die näheren Todesumstände zurückzuführende Traumatisierung vorliegen,
würde zur Besserung ihrer Beschwerden eine Tendenz zur Meidung der Beschäftigung mit den die Leiden auslösenden Themen zu
erwarten sein. Im vorliegenden Fall ist es aber gerade umgekehrt, dass nämlich die Klägerin sich nach ihrem eigenen Vorbringen
gegenüber der Sachverständigen in ihrer Lebensgestaltung inzwischen nahezu vollständig auf die Themen des Todes der Tochter
I. und der Gestaltung ihres Grabes zentriert hat.
Der Senat muss dem während der mündlichen Verhandlung entstandenen Eindruck nicht weiter nachgehen, dass das Leiden der Klägerin
womöglich - auch - auf ihre Überzeugung zurückzuführen sein könnte, zur Verhinderung des Todes ihrer Tochter I. nicht genug
getan zu haben. Selbst soweit sich dieser Eindruck als richtig erweisen würde, würden dadurch Gesundheitsstörungen der Klägerin
nicht als gerade durch den Erhalt der Todesnachricht verursacht anzusehen sein.
Sind Schädigungsfolgen nicht festzustellen, so kann auch ein Anspruch auf die Gewährung von Versorgung nicht bestehen. Denn
alle im vorliegenden Verfahren zu prüfenden etwa in Betracht kommenden Versorgungsansprüche setzen das Bestehen von als Schädigungsfolgen
anzuerkennenden Gesundheitsstörungen voraus.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§
183,
193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, §
160 Abs.
2 SGG.