Vorläufige Gewährung von Grundsicherungsleistungen, hier Kosten der Unterkunft und Heizung
Prüfung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten
Zulässigkeit der Annahme einer Erwerbsunfähigkeit im Falle der Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen
Zuständigkeitskonflikt des Leistungsträgers nach dem SGB XII mit dem Jobcenter hinsichtlich Erbringung der Grundsicherung
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Grundsicherungsleistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.
Der am 00.00.1968 geborene Antragsteller bewohnt eine Wohnung, für die er monatlich einen Kaltmietzins von 225,- EUR, Nebenkosten
von 70,- EUR und Heizkosten von 99,- EUR zu entrichten hat. Er leidet u.a. unter verschiedenen psychischen Erkrankungen. Aufgrund
einer Entscheidung des Fachausschusses vom 26.06.2012 ist der ursprünglich in E wohnende Antragsteller seit dem 03.09.2012
im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt für Menschen mit Behinderung beschäftigt. Er erhält hieraus eine Vergütung von
monatlich 233,10 EUR brutto und 202,24 EUR netto.
Der Antragsteller beantragte im Jahr 2012 bei der Stadt M Leistungen nach dem SGB XII. Mit Bescheid vom 22.10.2012 bewilligte die Stadt E Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit von Oktober
2012 bis Dezember 2013.
Am 24.04.2013 erstellte die ärztliche Begutachtungsstelle der Deutschen Rentenversicherung Westfalen auf Antrag der Stadt
M nach § 45 Abs. 1 SGB XII ein Gutachten über die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers. Die Begutachtungsstelle kam zu dem Ergebnis, der Antragsteller
könne unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein.
Mit Bescheid vom 14.05.2013 und Änderungsbescheid vom 22.05.2013 stellte die Stadt E die Leistungen nach dem SGB XII zum 30.06.2013 ein und verwies den Antragsteller aufgrund der festgestellten Erwerbsfähigkeit auf Leistungen nach dem SGB II. Hiergegen erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 10.06.2013 Widerspruch.
Am 28.06.2013 beantragte er bei dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom gleichen Tage bewilligte der Antragsgegner die beantragten Leistungen für die Zeit vom 01.07.2013 bis zum
31.12.2013 als Vorschuss. Mit Schreiben vom 19.08.2013 machte er gegenüber der Stadt M einen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff. SGB X geltend. Nach seiner Ansicht habe der Antragsteller einen Anspruch auf Sozialhilfe. Ein Verfahren nach § 44a SGB II wurde nicht eingeleitet.
Am 15.10.2013 beantragte der Antragsteller bei der Stadt E Sozialhilfeleistungen. Diesen Antrag lehnte die Stadt E mit Bescheid
vom 28.10.2013 ab. Hiergegen legte der Antragsteller am 08.11.2013 Widerspruch ein.
Am 09.12.2013 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Fortzahlung der Grundsicherungsleistungen. Mit Bescheid vom 19.12.2013
lehnte der Antragsgegner diesen Antrag ab. Der Antragsteller sei nicht erwerbsfähig. Mit weiterem Bescheid vom 19.12.2013
setzte der Antragsgegner die Leistungen für die Zeit vom 01.07.2013 bis 31.12.2013 auf 0,- EUR fest und machte gleichzeitig
einen Erstattungsanspruch gegenüber der Stadt E für den Leistungszeitraum ab Juli 2013 geltend.
Am 16.01.2014 legte der Antragsteller Widerspruch gegen die Bescheide vom 19.12.2014 ein. Gleichzeitig hat er die Bewilligung
von Grundsicherungsleistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Dortmund beantragt. Ausweislich
des Gutachtens der Deutschen Rentenversicherung sei er erwerbsfähig.
Mit Beschluss vom 12.03.2014 hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem
Antragsteller für die Zeit vom 16.01.2014 bis zum 31.01.2014 eine Regelleistung in Höhe von 168,20 EUR und für die Zeit vom
01.02.2014 bis zum 30.06.2014 in Höhe von 315,38 EUR monatlich zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Es könne
dahinstehen, ob sich eine Leistungspflicht des Antragsgegners bereits aus einer Bindung an das Gutachtenergebnis der Deutschen
Rentenversicherung ergebe. Der Antragsgegner sei jedenfalls nach § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II leistungspflichtig. Dieser gelte über seinen Wortlaut hinaus ab dem Zeitpunkt, in dem der Grundsicherungsträger von der fehlenden
Erwerbsfähigkeit ausgehe und bis zur Klärung, welcher Träger zur Erbringung der Leistungen zuständig sei. Etwas anderes ergebe
sich nicht daraus, dass der Antragsteller in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig sei. Dies führe nicht dazu, dass
die Erwerbsunfähigkeit gesetzlich fingiert werde. Der Antragsgegner sei nach Anrechnung des Einkommens daher zur Gewährung
der Grundsicherungsleistungen im tenorierten Umfang verpflichtet. Für die begehrten Kosten der Unterkunft und Heizung dagegen
fehle es an einem Anordnungsgrund. Der Antragsteller habe weder eine Kündigung des Mietverhältnisses noch die Erhebung einer
Räumungsklage glaubhaft gemacht.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner am 15.03.2014 eingelegten Beschwerde. Das Sozialgericht habe den Antrag
hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung zu Unrecht abgelehnt. Es habe nicht berücksichtigt, dass der Vermieter
nicht nur eine außerordentliche fristlose Kündigung, sondern auch eine ordentliche Kündigung wegen Zahlungsverzugs aussprechen
könne. In diesem Fall habe der Antragsteller nicht die Möglichkeit, der Wirksamkeit der Kündigung nach §
569 Abs.
3 Nr.
2 BGB zu begegnen.
Der Antragsgegner hat am 18.03.2014 Beschwerde eingelegt. Das Sozialgericht habe zu Unrecht einen Anordnungsanspruch angenommen.
Der Antragsteller sei nicht erwerbsfähig. Bei behinderten Menschen, die im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen
beschäftigt seien, liege eine dauerhafte volle Erwerbsminderung vor. Dies folge aus §§ 43 Abs. 2 S. 3 Nr.
1 i.V.m. 1 S. 1 Nr. 2a
SGB VI. Mit der Entscheidung des Fachausschusses über die Aufnahme in den Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen
gelte die Person als erwerbsgemindert. § 45 S. 3 Nr. 3 SGB XII fingiere die fehlende Erwerbsfähigkeit und begründe damit einen Anspruch nach dem SGB XII. Zwischen der Stadt E als Sozialhilfeträger und dem Antragsgegner als Grundsicherungsträger sei ein Rechtsstreit über die
Erstattung der dem Antragsteller gewährten Grundsicherungsleistungen anhängig. Aufgrund dieses Zuständigkeitsstreits dürfte
nicht § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II, sondern §
43 Abs.
1 SGB I anwendbar sein.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Die Anschlussbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
dem Antragsteller die Regelleistung im tenorierten Umfang zu gewähren. Zu Unrecht hat es den Antrag jedoch hinsichtlich der
vorläufigen Gewährung der Kosten der Unterkunft und Heizung abgelehnt. Der Antragsteller hat sowohl bezüglich der Regelleistung
als auch der Unterkunftskosten einen Anordnungsanspruch (hierzu 1) und einen Anordnungsgrund (hierzu 2) glaubhaft gemacht.
1) Der Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 SGB II). Er gilt auch als erwerbsfähig i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II. Zwar ergibt sich dies nicht allein aus dem Gutachten der Deutschen Rentenversicherung vom 24.04.2013. Die Sozialgerichte
sind an die gutachterliche Stellungnahme der Rentenversicherung nicht gebunden (Blüggel in Eicher, SGB II, 10. Aufl. § 44a Rn. 60). Die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers wird jedoch nach § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II fingiert. Nach § 44a Abs.1 S. 7 SGB II erbringen die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger bis zu der Entscheidung über den Widerspruch bei Vorliegen der
übrigen Voraussetzungen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II unterstellt das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung eines Anspruches nach dem SGB II (Blüggel in Eicher, SGB II, 10. Aufl. § 44a Rn. 66).
Der Fiktion steht nicht entgegen, dass die Agentur für Arbeit nach § 44a Abs. 1 S. 1 SGB II noch keine Feststellung über die Erwerbsfähigkeit getroffen hat. Der Hilfebedürftige ist bereits im Vorfeld und auch in Fällen,
in denen es die Agentur für Arbeit gänzlich unterlässt, Feststellungen zu treffen, so zu stellen, als wäre er erwerbsfähig
(BSG Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 14.12.2010 - L 7 AS 1549/10 B ER; Blüggel in Eicher, SGB II, 10. Aufl. § 44a Rn. 67).
Die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ist nicht gem. § 45 S. 3 Nr. 2 SGB XII zu verneinen. Nach dieser Vorschrift muss der Träger der Sozialhilfe nicht den zuständigen Rentenversicherungsträger um eine
Prüfung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung ersuchen, wenn der Fachausschuss einer Werkstatt für behinderte Menschen über
die Aufnahme in eine Werkstatt oder Einrichtung eine Stellungnahme abgegeben hat (§§ 2 und 3 der Werkstättenverordnung) und der Leistungsberechtigte kraft Gesetzes nach §
43 Abs.
2 S. 3 Nr.
1 SGB VI als voll erwerbsgemindert gilt. Hiernach gilt als voll erwerbsgemindert ein Versicherter nach §
1 S. 1 Nr. 2
SGB VI, der wegen der Art und Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann. § 45 SGB XII regelt die Zusammenarbeit zwischen den Trägern der Sozialhilfe und den Trägern der Rentenversicherung bei der Feststellung
der medizinischen Voraussetzungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach § 41 Abs. 3 SGB XII (Blüggel in jurisPK § 45 SGB XII, Rn. 12). Die Vorschrift regelt nicht den Zuständigkeitskonflikt des Leistungsträgers nach dem SGB XII mit dem Jobcenter. Dieser ist in § 44a SGB II geregelt. Zwar bestimmt § 44a Abs. 1a SGB II, dass es im Verhältnis dieser Leistungsträger der Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme nicht bedarf, wenn der zuständige
Träger der Rentenversicherung bereits nach §
109a Abs.
2 S. 2
SGB VI eine gutachterliche Stellungnahme abgegeben hat. An einer solchen fehlt es aber gerade, wenn lediglich eine Entscheidung
des Fachausschusses gem. § 45 S. 3 Nr. 3 SGB XII vorliegt.
Anders als der Antragsgegner wohl meint, fingiert § 45 S. 3 Nr. 3 SGB XII auch nicht die Erwerbsunfähigkeit. Denn der Besuch einer Werkstatt für behinderte Menschen allein führt nicht dazu, dass
Erwerbsunfähigkeit anzunehmen ist. Vielmehr muss noch hinzukommen, dass der Hilfebedürftige wegen Art und Schwere seiner Behinderung
tatsächlich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht einsatzfähig ist. (BSG Urteil vom 24.04.1996 - 5 RJ 34/95; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 14.12.2010 - L 7 AS 1549/10 B ER; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 29.09.2009 - L 3 AS 24/08).
Der Höhe nach hat der Antragsteller nach Anrechnung seines Einkommens nach § 11 Abs. 1 SGB II aus der Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte in Höhe von 75,62 EUR [202,24 EUR - 100,- EUR (§11b Abs. 2 S. 2 SGB II) - 26,62 EUR (§ 11b Abs. 3 Nr. 1 SGB II)] einen Anspruch auf die Regelleistung nach § 20 SGB II in Höhe von 315,38 EUR monatlich sowie auf Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II in Höhe von 394,- EUR monatlich glaubhaft gemacht.
2) Der Anordnungsgrund für die Regelleistung folgt aus dem existenzsichernden Charakter der Regelleistung. Für die vorliegende
Fallgestaltung bejaht der Senat einen Anordnungsgrund auch hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung. Zwar ist das
Sozialgericht zutreffend davon ausgegangen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Senats Kosten der Unterkunft und Heizung
im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur bei konkret drohender Wohnungslosigkeit oder einer vergleichbaren Notlage
beansprucht werden können (vgl. nur Beschlüsse des Senats vom 25.11.2013 - L 19 AS 578/13 B ER und 29.05.2013 - L 19 AS 957/12 B ER m.w.N). An dieser Rechtsprechung hält der Senat ausdrücklich fest. Der Senat erachtet jedoch in Kompetenzstreitigkeiten,
die von § 44a SGB II erfasst werden und in denen nicht in Frage steht, ob der Antragsteller einen Leistungsanspruch hat, sondern nur gegenüber
wem, es aufgrund von Sinn und Zweck des § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes als ausreichend, dass der Antragsteller glaubhaft macht, ohne die Leistungen seine
Miete nicht vollständig entrichten zu können. Andernfalls würde entgegen der ausdrücklichen gesetzlichen Intention des § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II der Zuständigkeitsstreit zweier Leistungsträger doch auf dem Rücken des Hilfebedürftigen ausgetragen. Mit § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II hat sich der Gesetzgeber explizit dafür entschieden, das Risiko, Leistungen trotz Unzuständigkeit zu erbringen, dem Grundsicherungsträger
aufzuerlegen. Er hat - wie dargelegt - bestimmt, dass der SGB-II-Leistungsträger bis zur Entscheidung des Streits über die Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende nach dem SGB II zu erbringen hat. Nach Auffassung des Senats widerspräche es § 44a Abs. 1 S. 7 SGB II, den Grundsicherungsträger durch zu hohe Anforderungen an den Anordnungsgrund von diesem Risiko zu Lasten des Hilfebedürftigen
zu befreien.
Der Senat hat im Wege der Folgenabwägung zudem berücksichtigt, dass dem Antragsteller unstreitig ein Leistungsanspruch zusteht.
Streitig ist nur, welcher Leistungsträger verpflichtet ist. In diesen Fällen besteht für den im Eilverfahren in Anspruch genommenen
Leistungsträger kein bzw. nur ein geringes finanzielles Risiko. Stellt sich heraus, dass der andere Leistungsträger zuständig
gewesen wäre, muss dieser die Leistungen nach § 44a Abs. 3 SGB II bzw. §§ 102 ff. SGB X erstatten. Den Interessen des Antragsgegners ist hierdurch hinreichend Rechnung getragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).