Geltendmachung von Leistungen nach dem SGB II im Eilverfahren
Subsidiär Schutzberechtigter
Wohnsitzauflage und gewöhnlicher Aufenthalt
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II an den Antragsteller.
Der Antragsteller wurde am 00.00.1990 in M/ Syrien geboren. Er ist palästinensischer Volkszugehörigkeit. Seine Staatsangehörigkeit
ist unklar. Nach eigenen Angaben reiste er im Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 29.04.2016
stellte er einen Asylantrag. Er bezog in der Folge zunächst Leistungen nach dem
AsylbLG. Mit Bescheid vom 31.01.2017 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antragsteller als subsidiär schutzberechtigt
an. Die Bezirksregierung Arnsberg wies den Antragsteller mit Bescheid vom 17.02.2017 im Wege einer Wohnsitzauflage der Stadt
E zu. Gemäß einer Bescheinigung der Stadt E vom 25.04.2017 ist dem Antragsteller die Aufnahme einer Erwerbsfähigkeit gestattet.
Mit Bescheid vom 25.04.2017 stellte die Stadt E die Leistungen nach dem
AsylbLG zum 31.05.2017 ein. Am 29.05.2017 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner erstmals Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Mit Bescheid vom 01.06.2017 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller vorläufig Leistungen für den Zeitraum vom 01.06.2017
bis zum 31.07.2017 in Höhe von monatlich 489,55 EUR (389,00 EUR Regelbedarf zuzügl. 100,55 EUR Kosten der Unterkunft für ein
Wohnheim). Nach einem Weiterbewilligungsantrag des Antragstellers vom 14.06.2017 erfolgte eine inhaltsgleiche Bewilligung
für den Zeitraum vom 01.08.2017 bis zum 31.01.2018. Der Antragsgegner begründete die Vorläufigkeit der Bescheide jeweils damit,
dass noch kein elektronischer Aufenthaltstitel vorliege.
Der Antragsteller beantragte am 13.07.2017 bei der Bezirksregierung Arnsberg eine Änderung bzw. Aufhebung der Wohnsitzzuweisung.
Als Grund nannte er eine beabsichtigte Familienzusammenführung. Seine am 00.00.2000 geborene Ehefrau N wohne in C. Auch er
wolle dorthin umziehen. Er fügte diesem Antrag eine aus der arabischen Sprache übersetzte Bestätigung einer Eheschließung
bei. Hiernach hat der Antragsteller Frau N am 02.09.2016 in Syrien geheiratet.
Am 21.07.2017 legte der Antragsteller dem Antragsgegner einen Mietvertrag für die Wohnung M Str. 00 in C vor. Tag des Einzugs
sollte der 01.08.2017 sein. Gemäß Vermerk vom 21.07.2017 erklärte der Antragsteller, dass er die Einstellung der Leistungen
beim Beklagten zum 01.09.2017 wünsche.
Am 23.07.2017 beantragte der Antragsteller beim Jobcenter C Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Das Jobcenter C
leitete die Antragsunterlagen unter Bezugnahme auf die seiner Auffassung nach fortbestehende Zuständigkeit des Antragsgegners
an diesen weiter. In der Folge zog der Antragsteller nach C. Die Wohnung des Antragstellers befindet sich in der Nachbarschaft
der von Frau N und deren Eltern bewohnten Wohnung.
Mit Bescheid vom 01.08.2017 hob der Antragsgegner die Bewilligung ab dem 31.08.2017 auf. Aufgrund des Umzugs des Antragstellers
sei nunmehr das Jobcenter C zuständiger Träger der Leistungen nach dem SGB II. Am 18.10.2017 erhob der Antragsteller Widerspruch gegen den ihm nach Aktenstand am 02.10.2017 ausgehändigten Bescheid vom
01.08.2017.
Am 08.11.2017 lehnte die Bezirksregierung Arnsberg den Antrag auf Aufhebung der Wohnsitzauflage ab. Da Frau N minderjährig
sei, sei die Eheschließung nach deutschem Recht nicht zulässig. Diesbezüglich führt der Antragsteller vor dem Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen das Verfahren 11 K 000/17. In diesem Verfahren wird maßgeblich thematisiert, ob die Ehe zwischen dem Antragsteller und Frau N tatsächlich geschlossen
wurde und wie ihre Wirksamkeit nach deutschem Recht zu beurteilen ist.
Am 15.01.2018 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht Dortmund einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit dem Ziel
einer Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erbringung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe des Regelbedarfs (S 58 AS 216/18 ER). Das Sozialgericht Dortmund legte den Antrag teilweise als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
vom 18.10.2017 gegen den Aufhebungsbescheid vom 01.08.2017 aus und gab diesem mit Beschluss vom 02.02.2018 statt. Der Aufhebungsbescheid
sei offensichtlich rechtswidrig. Aufgrund der dem Antragsteller erteilten konkret-individuellen Wohnsitzauflage für die Stadt
E bleibe der Antragsgegner gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II als Leistungsträger zuständig. Der Antragsteller halte sich im zeit- und ortsnahen Bereich des Antragsgegners im Sinne von
§ 7 Abs. 4a SGB II auf. Aufgrund der Regelung des §
140 Abs.
4 Satz 2
SGB III sei ein auswärtiger Aufenthalt unschädlich, wenn der Leistungsträger bis zu 75 Minuten für eine einfache Strecke oder 150
Minuten für den Hin- und Rückweg zum Träger benötige. Die einfache Entfernung von E nach C mit der Deutschen Bahn betrage
45 Minuten, für den Hin- und Rückweg 90 Minuten. Sofern der Antrag auch als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
für den Zeitraum ab dem 01.02.2018 anzusehen sei, sei er abzulehnen. Es fehle diesbezüglich bereits an einem Weiterbewilligungsantrag
des Antragstellers.
Mit Widerspruchsbescheid vom 08.02.2018 wies der Antragsgegner den Widerspruch gegen den Bescheid vom 01.08.2017 zurück.
Am 19.02.2018 erhob der Antragsteller bei dem Sozialgericht Dortmund Klage gegen den Bescheid vom 01.08.2017 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2018 (S 58 AS 922/18). Das Sozialgericht hat der Klage zwischenzeitlich mit Gerichtsbescheid vom 05.06.2018 mit der Begründung aus dem Eilverfahren
S 58 AS 216/18 ER stattgegeben. Die Berufung ist beim Senat unter dem Aktenzeichen L 7 AS 987/18 anhängig.
Der Antragsgegner erhob beim Landessozialgericht Beschwerde gegen den Beschluss vom 02.02.2018 (L 2 AS 350/18 B ER). Er trug vor, die Vorschrift des § 36 Abs. 2 SGB II setze über die Wohnsitzauflage hinaus auch den gewöhnlichen Aufenthalt am Ort des Leistungsträgers voraus. Jedenfalls sei
der Antragsteller nach seinem Umzug nach C gemäß § 7 Abs. 4 a SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Für die Hin- und Rückfahrt zwischen dem Wohnort des Antragstellers und dem Dienstsitz
des Antragsgegners ergäben sich nach einer Abfrage beim Verkehrsverbund Wegezeiten von über drei Stunden. Zudem sei unklar,
wovon der Antragsteller seit dem September 2017 gelebt habe. Eine Unterstützung durch die Schwiegereltern sei angesichts deren
eigenen Leistungsbezuges fraglich. Mit Beschluss vom 13.03.2018 setzte das Landessozialgericht die Vollstreckung aus dem Beschluss
aus (L 2 SF 50/18 ER). Dies sei insbesondere geboten, weil der streitige Zeitraum in der Vergangenheit liege und der Antragsteller vortrage,
dass er über seine Schwiegereltern und seine Ehefrau unterstützende Leistungen erhalte. Auf richterlichen Hinweis nahm der
Antragsteller den Eilantrag zurück.
Am 26.03.2018 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner erneut Leistungen. Mit Bescheid vom 17.04.2018 lehnte der Antragsgegner
den Antrag ab. Der Antragsteller sei gemäß § 7 Abs. 4a SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller am 25.04.2018 Widerspruch, über den nach
dem Stand der Akte noch nicht entschieden ist.
Am 25.04.2018 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Dortmund erneut beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Gestalt
des Regelbedarfs und der Kosten der Unterkunft zu zahlen.
Er verfüge nicht über Einnahmen und habe die Miete seit dem Erstbezug nicht mehr überwiesen. Wegen der fehlenden Wohnungsausstattung
wohne Frau N noch in der Nachbarschaft bei ihren Eltern. Diese versorgten auch ihn mit Essen. Von Frau N erhalte er einen
Teil des Taschengeldes, das diese von ihren Eltern bekomme. Er hat weiter dem Antrag zur Untermauerung seines Vortrags eine
eidesstattliche Versicherung und ein Schreiben des Bevollmächtigten seines Vermieters vom 06.03.2018 beigefügt, wonach er
diesem für den Zeitraum von August 2017 bis März 2018 acht Monatsmieten in Höhe von jeweils 330,00 EUR, insgesamt 2.640,00
EUR schulde. Der Antragsteller hat eine eidesstattliche Versicherung von Frau N vorgelegt, in der diese erklärt, dem Antragsteller
monatlich ihr Taschengeld von 50,00 EUR zu überlassen, damit dieser sich Zigaretten und ähnliches kaufen könne. Deren Vater,
Herr U N, hat in einer weiteren eidesstattlichen Versicherung erklärt, dass er und seine Frau den Antragsteller mit Essen
versorgten. Weiter hat der Antragsteller ein auf den 04.05.2018 datiertes Schreiben seines Vermieters vorgelegt, in dem dieser
ihm die fristlose Kündigung ausspricht.
Mit Beschluss vom 14.05.2018 in der Gestalt des Berichtigungsbeschlusses vom 15.05.2018 hat das Sozialgericht den Antragsgegner
verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 25.04.2018 bis zum 30.04.2018 Leistungen in Höhe von monatlich 139,20
EUR und für den Zeitraum vom 01.05.2018 bis zum 30.09.2018 in Höhe von monatlich 696,00 EUR nebst den Bedarfen für die Krankenversicherung
zu gewähren. Der Antragsteller erfülle nach summarischer Prüfung die gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erforderlichen Voraussetzungen für einen Leistungsbezug. Insbesondere habe er seine Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht.
Er habe eidesstattlich versichert, nur über Einkommen in Höhe von 50,00 EUR in Form des weitergeleiteten Taschengeldes von
Frau N zu verfügen und im Übrigen Essen von deren Eltern zu erhalten. Miete zahle er momentan nicht. Der Antragsgegner sei
für die Leistungserbringung an den Antragsteller aufgrund der Vorschrift des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II zuständig. Dem Antragsteller sei eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage für die Stadt E erteilt worden. Auf den gewöhnlichen
Aufenthalt des Antragstellers komme es nicht an. Der Antragsteller halte sich im zeit- und ortsnahen Bereich des Antragsgegners
im Sinne von § 7 Abs. 4a SGB II auf. Die Voraussetzungen der §§ 2 Nr. 3 EAO und § 140 Abs. 4 Satz 2 SGB II lägen vor. Die errechneten Beträge ergäben sich aus der Berücksichtigung des Regelbedarfs in Höhe von monatlich 416,00 EUR
und der Kosten der Unterkunft in Höhe von 330,00 EUR. Das dem Antragsteller überlassene Taschengeld in Höhe von 50,00 EUR
sei unbereinigt anzusetzen, weil es vom Antragsteller vorläufig zur Lebensführung eingesetzt werden könne. Für April 2018
sei der Betrag nur anteilig für sechs Tage ab dem 25.04.2018 zu gewähren, weil der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht habe,
dass eine Notlage aus dem Zeitraum vor dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren fortbestehe.
Am 18.05.2018 hat der Antragsgegner Beschwerde gegen den am 14.05.2018 zugestellten Beschluss erhoben. Die Hilfebedürftigkeit
des Antragstellers sei weiter ungeklärt. Wovon er seit Juli 2017 gelebt habe, sei unklar. Die Unterstützung durch die Familie
N scheine angesichts deren eigenen Bezugs von Leistungen nach dem SGB II zweifelhaft. Zwar sei § 36 Abs. 2 SGB II anwendbar, weil dem Antragsteller ein Wohnsitz in E zugewiesen worden sei. Über den gesetzlichen Wortlaut hinaus müsse der
Hilfebedürftige aber auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt entsprechend der Wohnsitzzuweisung begründet haben. Nur damit werde
sichergestellt, dass dieser auch Folge geleistet werde. Überdies lägen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 a SGB II nicht vor.
Der Antragsteller trägt ergänzend vor, als Flüchtling sei er auch ohne den Bezug von Sozialleistungen mit weniger Geld ausgekommen.
Gleichwohl könne er nicht dauerhaft auf die freiwilligen Unterstützungsleistungen Dritter verwiesen werden.
Einen mit der Beschwerde gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung hat der Senat mit Beschluss vom 15.06.2018 abgelehnt
(L 7 SF 143/18 ER). Die Stadtsparkasse E hat auf Anfrage des Senats bestätigt, dass das aus der Verwaltungsakte ersichtliche Konto des Antragstellers
zwischenzeitlich nicht mehr geführt wird. Weitere Konten habe der Antragsteller nicht.
II.
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antragsgegner zur vorläufigen
Zahlung von Regelleistungen und Unterkunftskosten an den Antragsteller verpflichtet.
Einstweilige Anordnungen sind nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt
grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung.
Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung
(Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG iVm §
920 Abs.
2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln (ständige Rechtsprechung des
Senats, vgl. nur Beschluss vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) und einen Anordnungsgrund iSd §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG glaubhaft gemacht. Der Antragsteller erfüllt die auf das Lebensalter bezogenen Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Zweifel an der Erwerbsfähigkeit in medizinischer Hinsicht im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II bestehen nicht. Seine Erwerbsfähigkeit in rechtlicher Hinsicht ergibt sich aus der Bescheinigung der Stadt E vom 25.04.2017,
wonach ihm die Aufnahme einer Erwerbsfähigkeit uneingeschränkt gestattet ist.
Auch die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers gemäß §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II ist jedenfalls in dem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Maße glaubhaft gemacht, indem der Antragsteller
seinen Vortrag, von Frau N und deren Vater durch Essen und eine monatliche Barzuwendung in Höhe von 50,00 EUR unterstützt
zu werden, durch eidesstattliche Versicherungen bekräftigt hat. Auch wenn diese selbst im Leistungsbezug nach dem SGB II stehen, erscheint diese Form der Unterstützung angesichts der Mittellosigkeit des Antragstellers dennoch plausibel. Nicht
unglaubhaft ist auch der Vortrag des Antragstellers, aufgrund des aus Syrien gewohnten niedrigen Lebensstandards mit diesen
Zuwendungen die Zeiträume ohne Leistungsbezug überbrückt zu haben. Für eine Hilfebedürftigkeit des Antragstellers spricht
auch, dass er keine Mietzahlungen für seine Wohnung in C geleistet hat. Den Vortrag des Antragstellers zur Schließung seines
bisherigen Kontos hat die Stadtsparkasse E bestätigt.
Verbleibenden Zweifeln wird im Hauptsacheverfahren nachzugehen sein. Dies gilt auch für die Fragestellung, ob der Antragsteller
die nach seinem Vortrag bislang nicht eingerichtete Wohnung M Str. 00 tatsächlich bewohnt.
Der Antragsgegner ist für den geltend gemachten Anspruch gem. §§ 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II örtlich zuständig und passivlegitimiert. Hiernach ist abweichend von § 36 Abs. 1 SGB II für die jeweiligen Leistungen nach diesem Buch der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach
§ 12a Abs. 1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes ihren Wohnsitz zu nehmen hat.
Diese gesetzliche Pflicht wurde - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - durch die Erteilung einer konkret-individuellen
Wohnsitzauflage iSd § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG umgesetzt, was - wie der Senat bereits ausgeführt hat (vgl. Beschlüsse des Senats vom 12.12.2016 - L 7 AS 2184/16 B ER und vom 17.03.2017 - L 7 AS 228/17 B ER) - eine von § 36 Abs. 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit zur Folge hat.
Abweichend zur Auffassung des Antragsgegners ist für die Begründung einer Leistungspflicht des für das Gebiet der Wohnsitzauflage
zuständigen Trägers zusätzlich ein gewöhnlicher Aufenthalt des Leistungsberechtigten in diesem Gebiet nicht erforderlich.
Der Wortlaut und die systematische Stellung von § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II geben für eine derartige Auslegung nichts her. Auch die Gesetzesbegründung zum IntegrationsG (BT-Drs. 18/8615 S. 33 ff) trägt
die Rechtsauffassung des Antragsgegners nicht. Hiernach wurde mit dem neuen § 36 Abs. 2 SGB II lediglich eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit und des kommunalen Trägers am Ort eines nach
§ 12a AufenthG zugewiesenen Wohnorts begründet. Der Gesetzgeber führt aus, dass leistungsberechtigte Personen einen Antrag nach § 37 SGB II auf Leistungen nach dem SGB II nur beim Jobcenter, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person ihren Wohnsitz zu nehmen hat, stellen und nur dort Leistungen
erhalten können. Die Leistungserbringung soll im Übrigen ausdrücklich unter den allgemein geltenden Voraussetzungen und Regelungen
des SGB II erfolgen. Insbesondere sollen erwerbsfähige Leistungsberechtigte nur unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 4a SGB II keine Leistungen erhalten. Kommen Leistungsberechtigte einer Meldeaufforderung des zuständigen Leistungsträgers nicht nach,
wird das Arbeitslosengeld II nach den Sanktionsvorschriften der §§ 31 ff. SGB II gemindert. Über diese mittelbaren materiell-rechtlichen Wirkungen hinaus sollte eine zusätzliche Anspruchsvoraussetzung -
gewöhnlicher Aufenthalt am Ort der Wohnsitzauflage - gerade nicht geschaffen werden.
Eine abweichende Interpretation folgt nicht aus der Begründung des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.07.2017. Mit diesem Gesetz wurde § 22 Abs. 1a SGB II mWv 25.07.2017 wieder aufgehoben (BGBl 2017 I Nr. 49, 2541, 2556). Diese Vorschrift lautete: "Bei leistungsberechtigten Personen, die einer Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 2 und 3 des Aufenthaltsgesetzes unterliegen, bestimmt sich die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Ort, an dem die leistungsberechtigte
Person ihren Wohnsitz zu nehmen hat." Die Aufhebung dieser Bestimmung begründet der Gesetzgeber wie folgt (BT-Drs. 18/12611,
S. 98): "Die Änderung stellt klar, dass ein Leistungsbezug nur am Ort des rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalts möglich ist.
Aus § 22 Abs. 1a SGB II konnte ein Maßstab für die Zahlungsverpflichtung eines Trägers abgeleitet werden, der zu der abschließenden Regelung des
§ 36 Abs. 2 SGB II zur örtlichen Zuständigkeit bei Bestehen einer Wohnsitzregelung nach § 12a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Widerspruch stand und diese Regelung ins Leere laufen ließ. Bei Vorliegen einer Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 1 bis 4 AufenthG sieht § 36 Abs. 2 SGB II für die Begründung der örtlichen Zuständigkeit nunmehr die zwingende Voraussetzung vor, dass der gewöhnliche Aufenthalt rechtmäßig
am Wohnort der Zuweisung genommen werden muss. Dies gilt auch dann, wenn bei einer Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 1 AufenthG ohne Mitwirkung des Antragstellers kein konkret zuständiger Träger bestimmbar ist" (BT-Drs. 18/12611, S. 98).
Diese Ausführungen in der Gesetzesbegründung allein sind nicht geeignet, § 36 Abs. 2 SGB II eine über den Gesetzeswortlaut hinausgehende materiell-rechtliche Bedeutung zuzumessen. Zum einen findet sie keinen Niederschlag
in der im Übrigen unveränderten Fassung von § 36 Abs. 2 SGB II. Ein materiell-rechtlicher Leistungsausschluss bei Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs einer Wohnsitzauflage ist dem
Gesetz nach wie vor nicht zu entnehmen. Insbesondere bei - wie dargestellt - einander widersprechenden Gesetzesbegründungen
ist eine Gesetzesbegründung allein nicht geeignet, einer Vorschrift einen Regelungsinhalt beizumessen, der sich aus ihrem
Wortlaut nicht ergibt. Auch gesetzessystematische Gründe sprechen gegen eine entsprechende Interpretation. In den Fällen,
in denen der Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem in der Wohnsitzauflage bezeichneten Gebiet hat, liegt keine
Abweichung iSd § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II von dem auf den gewöhnlichen Aufenthalt abstellenden § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB II vor. Die örtliche Zuständigkeit würde sich in diesen Fällen aus dieser Norm ergeben, ohne dass es der Vorschrift des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II überhaupt bedürfte.
Keine anspruchsausschließende Bedeutung hat im vorliegenden Fall § 77 SGB II iVm § 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung, wonach Leistungen nicht erhält, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners
außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten
zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält und die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung entsprechend gelten. Zum Nahbereich entsprechend
§ 2 Satz 2 EAO gehören alle Orte in der Umgebung des Jobcenters, von denen aus der Arbeitslose erforderlichenfalls in der Lage wäre, das
Jobcenter täglich ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen. Die Wohnung des Antragstellers in C erfüllt diese Voraussetzungen
im Hinblick auf die Dienststelle des Antragsgegners in E noch. Als Richtschnur für die Zumutbarkeit des Aufwands kann mangels
anderweitiger normativer Anknüpfungspunkte §
140 Abs.
4 Satz 2
SGB III entsprechend herangezogen werden, der die Zumutbarkeit von Pendelzeiten bei der Vermittlung einer Beschäftigung regelt. Als
unverhältnismäßig lang sind im Regelfall Pendelzeiten von insgesamt mehr als zweieinhalb Stunden bei einer Arbeitszeit von
mehr als sechs Stunden und Pendelzeiten von mehr als zwei Stunden bei einer Arbeitszeit von sechs Stunden und weniger anzusehen.
Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, werden diese Fahrzeiten zwischen E und C nicht erreicht. Zudem ist die Bestimmung
für gelegentliche Vorsprachen bei dem SGB II-Leistungsträger nur eingeschränkt entsprechend anwendbar und §
140 Abs.
4 Satz 3
SGB III zu berücksichtigen. Sind in einer Region unter vergleichbaren Beschäftigten längere Pendelzeiten üblich, bilden diese den
Maßstab. Der Ballungsraum Rhein-Ruhr wird als zusammenhängender Lebens- und Arbeitsraum wahrgenommen. Arbeitswege vom Raum
E/L auch in das östliche Ruhrgebiet (und umgekehrt) sind keine Ausnahmeerscheinung, sondern an der Tagesordnung und werden
von zahlreichen Arbeitnehmern täglich bewältigt
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).