Tatbestand
In der Sache wendet sich der Kläger gegen die Vollstreckung aus einem Beitragsbescheid und die Zuständigkeitsfeststellung
der Beklagten für den Kläger als Unternehmer. Im Streit steht, ob die von dem Kläger im Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht
Aachen (SG) zu S 6 U 164/18 erklärte Klagerücknahme wirksam ist.
Der 1946 geborene Kläger ist ehemaliger Oberstudienrat und Beamter des Landes Nordrhein-Westfalen im Ruhestand. Nach den Feststellungen
der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (Rechtsvorgängerin der Beklagten - im Folgenden: Beklagte) vom 03.07.2006 nutzte
er 4,2 Hektar Grundlandfläche und züchtete Pferde. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 05.07.2006 stellte die Beklagte gegenüber
dem Kläger als Unternehmer für Pferdezucht und Pferdehaltung ihre Zuständigkeit fest. Mit Bescheid vom 23.10.2017 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2018 lehnte die Beklagte eine Rücknahme des Zuständigkeitsbescheides vom 05.07.2006 nach
§ 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ab. Mit weiterem Bescheid vom 13.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2018 forderte die Beklagte
den Kläger zur Zahlung des zum 15.01.2018 fälligen Beitrages zuzüglich Mahngebühren und Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt
579,15 Euro auf.
Nachdem die Beklagte einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des Amtsgerichts N (Az. 0 M 00/18; Drittschuldner: Landesamt für Besoldung und Versorgung NRW) erwirkt hatte, erhob der Kläger am 23.06.2018 bei dem Sozialgericht
Aachen (SG) Vollstreckungsabwehrklage nach §
767 Zivilprozessordnung (
ZPO), welche unter dem Aktenzeichen S 6 U 164/18 geführt wurde. Er begehrte einerseits das Unterlassen der Zwangsvollstreckung und wandte sich andererseits gegen die Zuständigkeitsfeststellung
der Beklagten. In der nichtöffentlichen Sitzung des SG am 29. Mai 2019 hat der Kammervorsitzende den Kläger darauf hingewiesen, dass die Klage keine Aussicht auf Erfolg haben dürfte.
Es dürfte eine Zuständigkeit der Beklagten bestehen und der Kläger dürfte versicherungs- und beitragspflichtig sein. Der Kammervorsitzende
hat weiter darauf hingewiesen, weil die Unternehmereigenschaft des Klägers im Streit stehe, sei die Sache gerichtskostenpflichtig.
Da die Klage aussichtslos sei, würde sich der Streitwert bei einem klageabweisenden Urteil nach dem Streitwert der zugrundeliegenden
Forderungen gemessen. Bei einer Klagerücknahme hingegen würde sich der hierzu bemessene Streitwert jedenfalls auf ein Drittel
des entsprechenden Satzes reduzieren. Demgemäß dürften sich, so der Kammervorsitzende weiter, die Gerichtskosten erheblich
reduzieren, wenn der Kläger die aussichtslose Klage zurücknehme.
Sodann hat der Kläger in der nichtöffentlichen Sitzung des SG am 29. Mai 2019 erklärt:
"Ich nehme die Klage S 6 U 164/18 zurück".
Diese Erklärung wurde vorläufig aufgezeichnet, abgespielt und vom Kläger genehmigt und die Klage alsdann als durch Zurücknahme
erledigt ausgetragen.
Am 04.06.2019 hat der Kläger die Klagerücknahme angefochten bzw. widerrufen und erklärt, er sei "vom Vorsitzenden Richter
genötigt" worden, die Klage zurückzunehmen. Durch "arglistige Täuschung" habe der Vorsitzende Richter ihn "bedroht", die Kosten
des Verfahrens reduzieren zu können auf ein Drittel des Betrages bei sofortiger Klagerücknahme. Eine Mitgliedschaft bei der
Beklagten bestehe wegen seiner Sozialversicherungsfreiheit auch nicht. Wegen wahrheitswidriger Gutachten und gefälschter Urkunden
müsse in der Sache neu und anders entschieden werden.
Nach ordnungsgemäßer Anhörung der Beteiligten hierzu hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 28.06.2019 festgestellt, dass das Klageverfahren S 6 U 164/18 durch Rücknahme der Klage am 29.05.2019 erledigt sei. Zur Begründung hat das SG ausgeführt:
"Das Klageverfahren S 6 U 164/18 ist durch Klagerücknahme im Erörterungstermin am 29.05.2019 erledigt worden. Diese wurde ordnungsgemäß in der Sitzungsniederschrift
protokolliert, vorgelesen und genehmigt (§
122 SGG i.V.m. §
162 der Zivilprozessordnung/ZPO). Die Niederschrift wurde auch von dem Kammervorsitzenden und der Urkundsbeamtin gem. §
122 SGG in Verbindung mit §
163 ZPO unterzeichnet. Nach §
102 Abs.
1 SGG kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden (Satz 1). Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit
in der Hauptsache (Satz 2). Die Abgabe der Klagerücknahmeerklärung wird durch das Protokoll des Erörterungstermins vom 29.05.2019
bewiesen, das als öffentliche Urkunde Beweis für die tatsächliche Abgabe der darin bekundeten Erklärung begründet (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V.m. §
415 Abs.
1 ZPO). Das Sitzungsprotokoll ist auch geeignet, über die Abgabe einer derartigen Erklärung Beweis zu begründen (§
122 SGG i.V.m. §
160 Abs.
3 Nr.
8 ZPO). Die Erklärung ist dem Kläger vorgelesen und von diesem genehmigt worden (§
122 SGG i.V.m. §
162 Abs.
1 ZPO), sodass alle für die Errichtung des Protokolls vorgeschriebenen Förmlichkeiten beachtet worden sind. Die wirksam erklärte
Klagerücknahme kann nicht durch Anfechtung oder Widerruf beseitigt werden. Die Klagerücknahme ist eine Prozesshandlung, die
im Falle eines Irrtums über den Inhalt oder die Reichweite der abgegeben Erklärung im Interesse der Rechtssicherheit grundsätzlich
nicht anfechtbar oder widerrufbar ist (für die Rücknahme der Berufung etwa BSG, Beschluss vom 19.03.2002 - B 9 V 75/01 B; BSG, Beschluss v. 24.04.2003 - B 11 AL 33/03 B -; ferner BSG, Urteil vom 20.12.1995 - 6 RKa 18/95; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.05.2008 - L 19 AS 60/07-; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Auflage 2017, §
102 Rn 7c mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Abgesehen hiervon liegen auch keine Anfechtungsgründe vor. Denn wie die Sitzungsniederschrift
dokumentiert, hat der Kläger nach den Hinweisen des Kammervorsitzenden die Klage aus freien Stücken zurückgenommen. Ein Wiederaufgreifen
eines durch Rücknahme der Klage beendeten Rechtsstreits ist ausnahmsweise dann möglich, wenn Wiederaufnahmegründe im Sinne
der §§
179,
180 SGG i. V. m. §§
579,
580 ZPO vorliegen (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.02.2017 - L 25 AS 931/16 -; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.05.2008 - L 19 AS 60/07).
Die Voraussetzungen für eine Nichtigkeitsklage nach §
579 ZPO oder eine Restitutionsklage nach §
580 ZPO sind hier jedoch nicht gegeben."
Den Streitwert hat das SG im Urteil endgültig auf 579,15 Euro festgesetzt.
Gegen den ihm am 03.07.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 04.07.2019 Berufung eingelegt und zur Begründung
ausgeführt, durch falsche Tatsachenbehauptungen habe die Beklagte angegeben, dass er seit 1991 mit Land- und Forstwirtschaft
im Kataster ihrer Rechtsvorgängerin geführt werde. Dies sei nicht zutreffend. Das arglistige Verschweigen eines Mangels (kein
Unternehmen, keine landwirtschaftlichen Flächen und keine Nutztiere) berechtige ihn nach seiner Wahl zur Geltendmachung von
Schadensersatzansprüchen aus Gewährleistung gemäß §
437 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB.) Er habe den nicht vorhandenen Vertrag mit der Beklagten wirksam angefochten, so dass dieser "vernichtet sei". Er, der Kläger,
besitze kein landwirtschaftliches Unternehmen und gehöre zu dem Personenkreis, für den Versicherungsbefreiung gelte.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aachen vom 28.06.2019 zu ändern und festzustellen, dass die zu S 6 U 164/18 erhobene Klage nicht durch die in der nichtöffentlichen Sitzung des Sozialgerichts am 29.05.2019 erklärte Klagerücknahme
erledigt ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den Gerichtsbescheid für zutreffend.
Durch Beschluss vom 23.09.2019 ist die Entscheidung über die Berufung dem Berichterstatter übertragen worden.
In der nichtöffentlichen Sitzung des erkennenden Senats vom 04.03.2020 hat der Berichterstatter dem Kläger erläutert, dass
er mit seinen gegen den Bescheid vom 13.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2018 einer- und dem Bescheid
vom 23.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2018 andererseits gerichteten Begehren inhaltlich ohnehin
allenfalls im Rahmen von bei der Beklagten nach § 44 SGB X zu stellenden Überprüfungsanträgen durchdringen könne, während es in diesem Berufungsverfahren allein um die Wirksamkeit
der in der nichtöffentlichen Sitzung vor dem SG am 29.05.2019 erklärten Klagerücknahme im Verfahren S 6 U 164/18 gehe, an deren Wirksamkeit keine Zweifel bestünden.
Mit Schriftsatz vom 17.03.2020 hat der Kläger die erteilten Hinweise allesamt für falsch gehalten und die Fortführung der
Berufung erklärt.
Auf seine Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 24.06.2020 zum Termin am 27.07.2020 hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13.07.2020
erklärt, sein Erschienen im Termin sei ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich. Mit Schriftsatz vom 17.07.2020 hat
er ein dies bestätigendes Attest Dr. Schütts vom selben Tag vorgelegt. Der Kläger hat ferner mit Schriftsatz vom 13.07.2020
erklärt, er sei bereit, zur Verhandlung eine/n Vertreter/in zu entsenden, der/die zur Aufklärung des Tatbestandes in der Lage
ist sowie zur Abgabe der gebotenen Erklärungen. Er hat Frau J U ermächtigt, zur Verhandlung am 27.07.2020 seine Interessen
wahrzunehmen als Vertreterin und sie auch zur Abgabe der gebotenen Erklärungen ermächtigt.
Unter dem 20.07.2020 hat der Vorsitzende die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers aufgehoben, mitgeteilt, dass
eine Vertretung durch Familienangehörige gem. §
73 Abs.
2 S. 2 Nr.
2 SGG zulässig ist und erklärt, er gehe davon aus, dass Frau J U diesem Personenkreis unterfällt. Er hat ferner darauf hingewiesen,
dass die im Termin von ihr schriftlich vorzulegende, vom Kläger unterschriebene Vollmacht die Befugnis enthalten müsse, Antrage
zu stellen, Rechtsmittel einzulegen oder zurückzunehmen sowie den Rechtsstreit durch Rechtsmittelverzicht oder Anerkenntnis
bzw. dessen Annahme zu erledigen. Eine entsprechende Vollmacht hat die Ehefrau des Klägers, Frau Dr. J U, mit Datum 24.07.2020
im Termin zur mündlichen Verhandlung am 27.07.2020 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten
Bezug genommen. Ihre Inhalte sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Die von ihm fristgerecht eingelegte Berufung ist auch sonst zulässig. Insbesondere besteht keine Zulassungsbedürftigkeit gem.
§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG. Bei einem Streit über - wie hier - die Wirksamkeit einer Klagerücknahme bemisst sich der Wert des Beschwerdegegenstandes
nach dem Gegenstandswert der ursprünglichen, dann zurückgenommenen Klage (vergl. BSG, Urteil vom 10.10.2017, B 12 KR 3/16 R, Orientierungssatz 1 und Rn. 12 juris). Mit seiner ursprünglich zu S 6 U 164/18 erhobenen Klage hat sich der Kläger zum einen im Rahmen einer Vollstreckungsabwehrklage nach §
767 ZPO gegen die Vollstreckung aus dem Bescheid vom 13.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 22.10.2018 in Höhe von
579,15 Euro gewandt und zum anderen hat er unter Aufhebung des Bescheides vom 23.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 03.05.2018 die Rücknahme des Bescheides vom 05.07.2006 begehrt, mit dem die Beklagte ihre Zuständigkeit für das Unternehmen
des Klägers festgestellt hat. Hinsichtlich des letztgenannten Begehrens hatte die Klage also bereits keine Geld-, Dienst-
oder Sachleistung im Sinne des §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG, sondern eine bloße Feststellung der Beklagten zum Gegenstand, sodass die Berufung insgesamt zulässig ist.
Weder liegen, wie das SG zutreffend dargelegt hat, die Voraussetzungen einer Nichtigkeits- oder Restitutionsklage vor, noch kann der Kläger die Rücknahme
entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wegen Irrtums oder Drohung (§§
119,
123 BGB) anfechten, denn die Rücknahme ist eine gestaltende Prozesshandlung, auf die die Vorschriften des
BGB über Nichtigkeit, Widerruf und Anfechtung grundsätzlich nicht anwendbar sind. Unabhängig davon, dass die Irrtumsanfechtung
einer Prozesserklärung nach Rechtsprechung und vorherrschender Lehre, der sich der Senat anschließt, unzulässig ist (vgl.
m.w.N. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.2004, L 16 P 5/03), und unabhängig davon, dass eine Nichtigkeit der Rücknahmeerklärung selbst dann nicht anzunehmen ist, wenn diese Erklärung
auf einer - wie vom Kläger behauptet - Überrumpelung durch das Gericht oder infolge einer unrichtigen Belehrung über die Prozessaussicht
abgegeben worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 24.04.1980, Az.: 9 RV 16/79), liegt hier ein einschlägiger Sachverhalt nicht vor.
Allerdings ist der Streitwert entgegen dem diesbezüglichen Ausspruch des SG für jeden Rechtszug auf 5.579,15 Euro festzusetzen. Zwar ist der Streitwert, wie das SG richtig erkannt hat, soweit sich der Kläger im Ausgangsverfahren gegen die Zwangsvollstreckung aus dem Beitragsbescheid vom
13.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.2018 gewandt hat, gem. § 52 Abs. 1 GKG mit 579,15 Euro festzusetzen. Allerdings ist zudem für das weitere im Ausgangsverfahren ebenfalls verfolgte Begehren, unter
Aufhebung des Bescheides vom 23.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2018 den Zuständigkeitsbescheid
der Beklagten vom 05.07.2006 aufzuheben, zudem der Auffangstreitwert in Höhe von 5.000 Euro gem. § 52 Abs. 2 GKG festzusetzen, was einen insgesamt festzusetzenden Streitwert in Höhe von 5.579,15 Euro ergibt.