Aussetzung der Vollstreckung im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I. Das Sozialgericht Kiel hat mit Urteil vom 13. Februar 2012 die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung
auf Dauer ab dem 1. Februar 2009 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Zur Begründung hat sich das Sozialgericht
auf die medizinischen Gutachten des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. A. und des Neurologen und Psychiaters Dr.
H. sowie auf das berufskundliche Gutachten des Verwaltungsbeamten L. gestützt. Gegen das ihr am 16. Februar 2012 zugestellte
Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, eingegangen beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht am 14. März
2012. Zur Begründung verweist sie auf ihren Schriftsatz zu dem Gutachten von Dr. H., dessen Einschätzung nach ergänzender
Stellungnahme des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten nicht gefolgt werden könne.
Am 19. April 2012 beantragt die Beklagte ergänzend, die Vollstreckung aus dem Urteil gemäß §
199 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auszusetzen. Zur Begründung weist sie auf die Aufforderung der Klägerin, die titulierte Rente wegen voller Erwerbsminderung
auszuzahlen, hin. Sie weist weiter darauf hin, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung
derzeit nicht erfüllt seien, wie sie in ihrer Berufungsbegründung ausgeführt habe. Die Auszahlung der Rente würde im Falle
der erfolgreichen Berufung zu einem Rückforderungsanspruch der Beklagten gegenüber der Klägerin führen, die derzeit ihren
Lebensunterhalt mit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) bestreite. Demgegenüber stehe eine zu erwartende Rente in Höhe von ca. 280,00 EUR netto. Es sei auch zu beachten, dass ein
Erstattungsanspruch des Jobcenters Kiel vorliege, das Leistungen in der Vergangenheit und laufend bereits erbracht habe, so
dass eine Rente ab 14. Februar 2012 nicht an die Klägerin zur Auszahlung zu bringen sei. Unter Berücksichtigung der derzeitigen
Situation sei von einer Notlage bzw. besonderen Härte der Klägerin nicht auszugehen.
Die Klägerin hat sich nicht geäußert.
II. Der statthafte Aussetzungsantrag ist zulässig und begründet.
Gemäß §
199 Abs.
2 Satz 1
SGG kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden
hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Bei der Entscheidung über die Aussetzung ist eine Interessen-
und Folgenabwägung vorzunehmen (Beschluss des Senats vom 16. Januar 2012 - L 5 AR 38/11 R ER). Abzuwägen sind das Interesse der Klägerin an der Vollstreckung gegenüber dem Interesse der Beklagten daran, dass nicht
vor endgültiger Klarstellung der Rechtslage geleistet wird (Leitherer in Meyer-Ladewig u.a.,
SGG-Kommentar, §
199 Rz. 8).
Diese Interessenabwägung führt hier dazu, dass dem Antrag der Beklagten auf Aussetzung der Vollstreckung stattgegeben wird.
Zwar ist bei der vorzunehmenden Interessenabwägung auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber dem Interesse des Leistungsberechtigten
Vorrang dadurch eingeräumt hat, dass Berufungen in der Regel keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich der für die Zeit nach
Erlass des Urteils zu zahlenden Beträge hat. Und hier spricht aufgrund der derzeitigen Sach- und Rechtslage einiges dafür,
dass ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht. So kommt der Gutachter Dr. H.,
dessen Gutachten allerdings von der Beklagten angegriffen wird, zu der Einschätzung, dass das Leistungsvermögen der Klägerin
unter täglich drei Stunden gemindert sei. Der berufskundige Sachverständige L. kommt zu dem Ergebnis, dass wegen der Einschränkungen
hinsichtlich der Hände und der eingeschränkten Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit eine Verweisbarkeit auf andere Tätigkeiten
nicht möglich sei. Gleichwohl kann bei der Interessenabwägung nicht unberücksichtigt bleiben, dass in der derzeitigen wirtschaftlichen
Situation die Klägerin keine wesentlichen Vorteile durch eine Vollstreckung aus dem Urteil hat. So weist die Beklagte unwidersprochen
darauf hin, dass die Klägerin Leistungen nach dem SGB II erhielt und erhält. Die zu erwartende Rente von ca. 280,00 EUR netto monatlich wird daher nicht zu einer wirtschaftlichen
Besserstellung der Klägerin führen. Dagegen kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin im nachfolgenden
Berufungsverfahren unterliegt und dann zu einer Rückzahlung der erhaltenen Rentenzahlungen verpflichtet wird. Für den Fall
würde sich die wirtschaftliche Situation der Klägerin nachteilig verändern, weil sie rückwirkend gegenüber dem Jobcenter Kiel
keinen Leistungsanspruch mehr geltend machen kann. Zudem besteht für die Beklagte die Gefahr, dass ein solcher Erstattungsanspruch
durch die Klägerin als Empfängerin von Leistungen nach dem SGB II nicht oder nur teilweise befriedigt werden kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.