Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I ab Dezember
2002.
Der 1946 geborene Kläger ist seit 26. November 1994 bei der Beklagten in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert und
wird durch seinen Bruder aufgrund der Generalvollmacht vom 8. September 2000 vertreten. Der Kläger, der unter den Folgen einer
langjährigen Alkoholkrankheit leidet, war zunächst Bewohner eines Behindertenheims und wohnt seit 1. August 2006 im Rahmen
des betreuten Wohnens in einer eigenen Wohnung. Der Landkreis S.-R., Sozialamt gewährte ihm ab 10. August 2006 Leistungen
zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft als Hilfe zu selbst bestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten nach § 54 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Verbindung mit §
55 Abs.
2 Nr.
6 des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB IX).
Bereits zuvor - am 3. Dezember 2002 - hatte der Klägervertreter bei der Beklagten Leistungen der sozialen Pflegeversicherung
für den Kläger beantragt. Nach dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Thüringen e.V. vom 4.
Februar 2003 leidet der Kläger an "Alkoholkrankheit mit Verwahrlosungstendenz/Einzelgänger"; es sei aber keine tägliche Hilfe
bei den Verrichtungen der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität nötig, so dass keine Pflegestufe gegeben werden könne.
Mit Bescheid vom 24. Februar 2003 lehnte die Beklagte den "Antrag auf Leistungen der Behindertenhilfe" ab. Bei dem Kläger
sei nach dem Gutachten des MDK keine tägliche Hilfe bei der Grundpflege nötig. Deshalb könne keine Pflegestufe gegeben werden.
Verschlechtere sich der Gesundheitszustand, könne er jederzeit einen neuen Antrag auf Leistungen der vollstationären Pflege
in einer Behinderteneinrichtung nach §
43a des
Elften Buches Sozialgesetzbuchs (
SGB XI) stellen.
Am 4. August 2003 beantragte der Klägervertreter die Überprüfung dieses Bescheides nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Der Bescheid sei unrichtig, da der Kläger pflegebedürftig sei und ohne fremde Hilfe nicht zurecht komme. Zusätzlich legte
er ein im Auftrag des Rentenversicherungsträgers erstelltes neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. Sch. vom 8. März
2003 vor, wonach bei dem Kläger eine Alkoholabhängigkeit in der chronischen Phase nach Jellineck mit körperlichen Folgezuständen
(Polyneuropathie) sowie eine Persönlichkeitsstörung mit schizoiden Zügen bestehen. Die Beklagte beauftragte daraufhin erneut
den MDK mit einer Begutachtung. Dipl.-Med. G. kam im Gutachten vom 20. Januar 2004 zu dem Ergebnis, dass der Kläger zum Waschen,
Duschen, zur Nahrungsaufnahme und zum Kleidungswechsel die Aufforderung durch das Pflegepersonal benötige. Zu den Verrichtungen
selbst benötige er keine personelle Hilfe. Unterstützung benötige er insbesondere in der hauswirtschaftlichen Versorgung und
hier vor allen beim Zubereiten einer Mittagsmahlzeit, zum Reinigen der Wohnung (Verwahrlosungstendenz), zum Spülen des Geschirrs
sowie zum Waschen und Wechseln der Kleidung und Bettwäsche. Der Zeitaufwand des Hilfebedarfs bei der Grundpflege betrage 12
Minuten.
Mit Bescheid vom 5. Februar 2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab und wies den dagegen am 13. Februar 2004 erhobenen Widerspruch
mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2004 zurück.
Der Klägervertreter hat am 14. Juni 2004 beim Sozialgericht Gotha Klage erhoben und sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren
wiederholt. Der Kläger sei aufgrund seiner Alkoholkrankheit mit Verwahrlosungstendenz hilflos und habe Anspruch auf Pflegegeld.
Er müsse durch die Pflegekraft angewiesen werden, die entsprechenden Verrichtungen, z.B. der Körperpflege, durchzuführen.
Es nütze nichts, wenn er zwar körperlich in der Lage sei, Körperpflege usw. zu betreiben, dies aber durch alkoholbedingte
und psychische Gründe nicht selbständig tue. Durch die Alkoholerkrankung sei er nicht in der Lage, Tag- und Nachtzeiten entsprechend
einzuteilen. Der Lebens- und Schlafrhythmus seien erheblich gestört. Außerdem hat er einen Sozialbericht des Deutschen Roten
Kreuzes, Kreisverband Rudolstadt e.V. vom 18. Mai 2005, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten nach Aktenlage des Facharztes
für Psychiatrie und Psychotherapie Kern vom 20. Mai 2005 (Az.: S 14 KN 2339/04 U) sowie ein MDK-Gutachten vom 11. Juli 2005 (Hilfebedarf in der Grundpflege von 2 Minuten täglich, in der hauswirtschaftlichen
Versorgung von 69 Minuten täglich) vorgelegt.
Mit Beschluss vom 6. Februar 2006 hat das Sozialgericht Gotha den Rechtsstreit wegen örtlicher Unzuständigkeit an das Sozialgericht
Meiningen (SG) verwiesen. Dieses hat eine Stellungnahme des Landratsamtes S.-R., Gesundheitsamt/Sozialpsychiatrischer Dienst vom 21. Juni
2006 beigezogen, wonach beim Kläger eine Persönlichkeits- und Verhaltensstörung bei Alkoholabhängigkeit in der chronischen
Phase mit körperlichen Folgezuständen bestehen. Der Kläger gehöre zu den Menschen mit einer seelischen Behinderung. Mit Beweisanordnung
vom 27. Oktober 2006 hat das SG sodann Dr. M.-H. mit der Begutachtung nach häuslicher Untersuchung beauftragt. Diese hat in ihrem Gutachten vom 26. November
2006 eine Störung des zentralen Nervensystems mit Antriebs- und Gedächtnisstörungen (alkoholtoxisches-hirnorganisches Psychosyndrom)
festgestellt. Der Kläger habe derzeit einen Hilfebedarf von 49 Minuten täglich bei der Grundpflege.
Mit Urteil vom 26. Juni 2007 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, mit dem Bescheid vom 24. Februar 2003 sei zwar ein Antrag auf Leistungen
der Behindertenhilfe abgelehnt worden, da aber in der Begründung die Voraussetzungen einer Pflegebedürftigkeit verneint wurde,
seien damit auch Pflegesachleistungen abgelehnt worden. Maßgeblicher Zeitpunkt sei der 24. Februar 2003, da es sich hierbei
um ein Überprüfungsverfahren, den Bescheid vom selben Datum betreffend handele. Zu diesem Zeitpunkt habe der Grundpflegebedarf
des Klägers nicht mehr als 45 Minuten täglich betragen. Der von der Sachverständigen Dr. M.-H. festgestellte Hilfebedarf in
der Grundpflege im Umfang von 49 Minuten täglich seit Antragstellung könne nicht anerkannt werden. Zum einen sei der genannte
Zeitpunkt, seit dem der Hilfebedarf bestehe, anhand der vorliegenden Unterlagen nicht nachvollziehbar. Zum anderen entspreche
der beschriebene Hilfebedarf sowohl bei der Nahrungsaufnahme als auch bei der Körperpflege nicht in vollem Umfang den Pflegerichtlinien.
Gegen das seinem Bevollmächtigten am 6. Oktober 2007 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17. Oktober 2007 Berufung eingelegt
und zur Begründung im Wesentlichen seinen erstinstanzlichen Vortrag wiederholt und vertieft.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 26. Juni 2007 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 5. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten,
den Bescheid vom 24. Februar 2003 zurückzunehmen und ihm ab dem 1. Dezember 2002 Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung
nach der Pflegestufe I zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht erfüllt sind. Nach der sozialmedizinischen Stellungnahme
des MDK vom 5. November 2008 zum Sachverständigengutachten der Dr. M.-H. vom 26. November 2006 und deren ergänzenden Stellungnahmen
vom 14. Juli und 2. September 2008 ist es nachvollziehbar, dass es durch die Veränderung der Wohnsituation zu einer deutlichen
Verschlechterung der Gesamtsituation gekommen ist. Dennoch seien die Ausführungen im Gutachten zum Hilfebedarf bei den gesetzlich
definierten Verrichtungen widersprüchlich und teilweise nicht nachvollziehbar. Dies betreffe zum einen den Hilfebedarf bei
der Teilwäsche von Ober- und Unterkörper sowie beim Duschen. Es müsse genügen, wenn der Kläger einmal täglich eine Gesamtkörperreinigung
gestatten würde. Zum anderen betreffe dies die Angaben zur Ernährung, da nicht nachvollziehbar sei, dass sich der antriebsarme
appetitlose Versicherte durch eine Person, die während der Nahrungsaufnahme neben ihm sitze, dazu anregen ließe, ausreichend
Nahrung zu sich zu nehmen. Schließlich seien auch die Aussagen zum Zeitpunkt, seit wann der Hilfebedarf bestehe, in keiner
Weise nachvollziehbar. Bis August 2006 habe der Kläger unter anderen Gesamtumständen, nämlich in einer Einrichtung der Behindertenhilfe
gelebt. Die auch dort notwendigen Hilfen hätten überwiegend in einer dauerhaften Beaufsichtigung und punktuellen Anleitung,
deren Zeitrahmen jedoch nicht den Kriterien der erheblichen Pflegebedürftigkeit entsprochen hätten, bestanden. Selbst unter
den veränderten Bedingungen des Wohnens in der eigenen Wohnung ab August 2006 habe der Schwerpunkt des Hilfebedarfs für den
Kläger eher im Bereich der Hauswirtschaft denn im Bereich der Grundpflege gelegen. Schließlich hat sie noch ein Kurzgutachten
des MDK nach Aktenlage vom 11. Mai 2011 übersandt, wonach das MDK-Gutachten vom 19. Januar 2011 nicht zu beanstanden sei.
Der Senat hat ergänzende Stellungnahmen der Sachverständigen M.-H. vom 14. Juli und 2. September 2008 eingeholt, in denen
diese ihre im Gutachten vom 26. November 2006 getroffenen Einschätzungen aufrecht erhält und zur Begründung ausführt, der
Kläger sei aufgrund der hirnorganischen Schädigung nicht in der Lage, die Verrichtungen des täglichen Lebens über die Hirntätigkeit
zu steuern. Er bedürfe daher nicht nur der Anregung, sondern auch der Unterstützung und insbesondere Beaufsichtigung bei den
Verrichtungen. Da die alkoholtoxischen Veränderungen bereits am 24. Februar 2003 bestanden hätten, habe auch zu diesem Zeitpunkt
der beschriebene Hilfebedarf vorgelegen. Der Senat hat außerdem ein Gutachten des MDK vom 19. Januar 2011 beigezogen, wonach
aufgrund der persönlichen Untersuchung des Klägers am 12. Januar 2011 durch die Pflegefachkraft E. ein täglicher Zeitaufwand
bei der Hilfe in der Grundpflege im Umfang von 25 Minuten und im Bereich der Hauswirtschaft im Umfang von 60 Minuten festgestellt
wurde.
Der Berichterstatter des Senats hat mit den Beteiligten am 15. November 2010 einen Erörterungstermin durchgeführt. Hinsichtlich
der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Niederschrift verwiesen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat in Abwesenheit des Klägers und dessen Bevollmächtigten
entscheiden konnte, da sie in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§
110 Abs.
1 S. 2 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG)), ist zulässig. Insbesondere ist sie zulässigerweise durch den Bruder des Klägers eingelegt worden. Dieser vertritt den
Kläger aufgrund der Generalvollmacht vom 8. September 2000, was ihn nach §
73 Abs.
2 Satz 2 Nr.
2 1. Alt.
SGG i.V.m. §
15 Abs.
1 Nr.
4 der
Abgabenordnung (
AO) zur Führung des Rechtsstreits vor den Sozialgerichten befugt. Die Berufung ist jedoch nicht begründet, weil die Klage des
Klägers unbegründet ist.
Die Beklagte ist nicht, auch nicht im Wege des sogenannten Zugunstenverfahrens, verpflichtet, den Bescheid vom 24. Februar
2003 zurückzunehmen und dem Kläger ab dem 1. Dezember 2002 Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe
I zu gewähren. Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit
sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass dieses Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt
ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder
Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Der Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 2003 ist zwar bestandskräftig geworden. Es fehlen aber die übrigen Voraussetzungen
nach § 44 SGB X. Die Beklagte hat zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach
der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) nach §
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB XI hat.
Für die Gewährung von Leistungen des
SGB XI sind gemäß §
15 Abs.
1 Satz 1
SGB XI pflegebedürftige Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen
und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs
Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§
15 SGB XI) der Hilfe bedürfen (vgl. §
14 Abs.
1 SGB XI), einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Pflegebedürftige der Stufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei
der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens
einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen
(§
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
SGB XI). Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegepersonen für die erforderlichen
Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens
90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (§
15 Abs.
3 Nr.
1 SGB XI). In der Pflegestufe II sind es mindestens drei Stunden, wobei auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden (= 120 Minuten)
entfallen muss (§
15 Abs.
3 Nr.
2 SGB XI). Leistungen nach der Pflegestufe III erhalten Personen, welche die pflegerischen und zeitlichen Voraussetzungen des §
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
3 sowie Abs.
3 Nr.
3 SGB XI erfüllen (§§
36 Abs.
3 Nr.
3,
37 Abs.
1 Satz 3 Nr.
3 SGB XI). Schwerstpflegebedürftige sind demnach Personen, die Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung und/oder der Mobilität (§
14 Abs
4 Nrn. 1 bis 3
SGB XI - sog Grundpflege) täglich rund um die Uhr, auch nachts, und zusätzlich mehrfach in der Woche bei der hauswirtschaftlichen
Versorgung (§
14 Abs.
4 Nr.
4 SGB XI) benötigen; der gesamte Pflegebedarf muss mindestens fünf Stunden (= 300 Minuten), die Grundpflege davon mindestens vier
Stunden (= 240 Minuten) betragen.
Der zeitliche Umfang der notwendigen Hilfe ist, weil naturwissenschaftliche Erkenntnismöglichkeiten, die eine exakte Bemessung
des Zeitbedarfes für einzelne Verrichtungen ermöglichen könnten, in der Regel nicht existieren und standardisierte Zeiten
oder Erfahrungswerte im Hinblick auf die jeweiligen individuellen Verhältnisse allenfalls einen Anhaltspunkt zur Ermittlung
des Zeitaufwandes geben können, durch Schätzung entsprechend §
287 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) an Hand der zur Verfügung stehenden medizinischen Feststellungen (z.B. Begutachtungsergebnisse medizinisch-pflegerischer
Sachverständiger) zu bestimmen (vgl. Bundessozialgericht &61500;BSG&61502;, Urteil vom 14. Dezember 1994 - Az.: 3 RK 9/94 in SozR 3 - 2500 § 53 Nr. 7; Senatsurteile vom 28. Februar 2001 - Az.: L 6 P 249/99, 24. Januar 2001 - Az.: L 6 P 348/00 und 20. Dezember 2000 - Az.: L 6 P 552/99). Dabei orientiert sich der Senat an den Zeitvorgaben der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung
von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches - BRi (Begutachtungsrichtlinien - BRi) vom 8. Juni 2009,
hier Abschnitt F "Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung für die in § 14 SGB X genannten Verrichtungen der Grundpflege", ohne letztlich daran gebunden zu sein (vgl. BSG, Urteil vom 31. August 2000 - Az.: B 3 P 14/99 R, in Breithaupt 2001, S. 120 ff.).
Unter Beachtung dieser Vorgaben ergibt sich im Falle des Klägers, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen
der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) nach §
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB XI weder zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses am 24. Februar 2003 noch in der Folgezeit bis zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung
zur Überzeugung des Senats nachgewiesen sind.
Der Senat folgt diesbezüglich nicht der gutachterlichen Einschätzung der Sachverständigen Dr. M.-H. vom 26. November 2006
und ihren ergänzenden Stellungnahmen vom 14. Juli und vom 2. September 2008. In Übereinstimmung mit dem SG und dem MDK (sozialmedizinische Stellungnahme vom 5. November 2008) hält er die Ausführungen im Gutachten zum Hilfebedarf
bei den gesetzlich definierten Verrichtungen für teilweise nicht nachvollziehbar. Dies betrifft zum einen den festgestellten
Hilfebedarf bei der Körperpflege. Der Senat teilt diesbezüglich die vom MDK in dessen sozialmedizinischer Stellungnahme geäußerte
Auffassung, dass für den Kläger die Berücksichtigung einer Gesamtkörperreinigung täglich ausreichend ist, zumal er ein Mehr
an Körperpflege mangels Einsicht nicht tolerieren dürfte. Eine Körperreinigung führt dieser selbständig durch wenn er hierzu
angehalten und beaufsichtigt wird. Der Senat erachtet deshalb einen täglichen Zeitaufwand von 10 Minuten für das Anleiten
und Beaufsichtigen des Duschens für ausreichend. Der für das Anhalten und Beaufsichtigen des Waschens des Ober- und Unterkörpers
daneben festgestellte zusätzliche Zeitaufwand von 8 Minuten täglich entfällt.
Auch der von Dr. M.-H. für die Nahrungsaufnahme vorgetragene tägliche Zeitaufwand von 16 Minuten ist nicht nachvollziehbar.
Die Sachverständige beschreibt hierbei lediglich die Notwendigkeit, den Kläger zur Nahrungs- und Getränkeaufnahme anzuhalten,
während er sowohl die Nahrung als auch die Flüssigkeiten gänzlich selbständig zu sich nehmen kann. Da die Sachverständige
daneben keinen besonderen Beaufsichtigungsaufwand während der Nahrungsaufnahme beschreibt, hält der Senat für das bloße Anhalten
einen täglichen Zeitaufwand von 6 Minuten für ausreichend. Der insgesamt anzuerkennende Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege
beläuft sich danach auf 31 Minuten täglich und entspricht somit nicht den Kriterien der erheblichen Pflegebedürftigkeit von
mindestens 45 Minuten täglich.
Gestützt wird dieses Ergebnis durch die Pflegegutachten des MDK vom 4. Februar 2003, vom 20. Januar 2004, vom 11. Juli 2005
sowie aktuell vom 19. Januar 2011, die ursprünglich (d.h. Anfang des Jahres 2003) von keinem feststellbaren Hilfebedarf im
Bereich der Grundpflege, bzw. im Jahr 2004 von 12 Minuten, Mitte 2005 von 2 Minuten und schließlich im Januar 2011 von 25
Minuten täglich ausgehen. Mit dem MDK ist der Senat davon überzeugt, dass der Schwerpunkt des Hilfebedarfs des Klägers nicht
im Bereich der Grundpflege lag und aktuell liegt, sondern im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Im Bereich der Grundpflege
beschränken sich die notwendigen Hilfen auf das Anhalten zur Vornahme der Verrichtungen sowie auf deren Beaufsichtigung, erreichten
jedoch weder zum Zeitpunkt der Antragstellung noch gegenwärtig einen pflegeversicherungsrechtlich relevanten Umfang. Dagegen
sind die ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen Dr. M.-H. vom 14. Juli und vom 2. September 2008 nicht geeignet,
die Bedenken gegenüber dem von ihr festgestellten Hilfebedarf auszuräumen. Insoweit verweist sie in den Stellungnahmen im
Wesentlichen auf die Alkoholkrankheit des Klägers mit den dadurch hervorgerufenen toxischen Schädigungen einzelner Hirnareale
sowie den alkoholikertypischen Verdeckungsmechanismus. Dagegen geht sie auf die Frage z.B. der Erforderlichkeit des zusätzlichen
Waschens nicht ein, sondern bekräftigt ihre gutachterliche Einschätzung mit dem Hinweis auf die "Kausalitätskette Hirnschädigung
&61614; Fähigkeitsstörung &61614; Hilfebedarf". Allein anhand dieser mehr theoretischen Kausalitätskette kann sich der Senat
jedoch keine Überzeugung vom Umfang des tatsächlich bei den notwendigen Verrichtungen vorliegenden Hilfebedarfs verschaffen.
Da für den gesamten Zeitraum seit der Antragstellung bis zur Entscheidung des Senats das Erreichen der zeitlichen Voraussetzungen
für einen Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) nach
§
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGB XI nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen ist, kommt es auf die Einschätzung der Sachverständigen Dr. M.-H., der von
ihr festgestellte Hilfebedarf habe bereits seit dem 24. Februar 2003 bestanden, eigentlich nicht (mehr) an. Dennoch ist es
angezeigt, auch diesbezüglich auf die fehlende Plausibilität hinzuweisen. Denn bis August 2006 lebte der Kläger in einer Einrichtung
der Behindertenhilfe. Auch die dort notwendigen Hilfen bestanden aus Beaufsichtigung und punktueller Anleitung, wobei deren
Zeitrahmen jedoch ausweislich der zeitnahen MDK-Gutachten vom 4. Februar 2003, vom 20. Januar 2004 sowie vom 11. Juli 2005
den Kriterien der erheblichen Pflegebedürftigkeit eindeutig nicht entsprachen. Mit dem Umzug in das betreute Wohnen und der
damit verbundenen Veränderung der Wohnsituation kam es zu einer deutlichen Verschlechterung der Gesamtsituation, die auch
der MDK in seinem Gutachten vom 19. Januar 2011 mit einer Vervielfachung des Grundpflegebedarfs im Vergleich zum Juli 2005
beschreibt. In diesen Zeitraum fällt aber die Begutachtung durch die Sachverständige Dr. M.-H ... Es ist nicht nachvollziehbar,
dass der Umstand dieser Verschlechterung bei der Beantwortung der Frage, seit wann der Hilfebedarf vorliegt, durch die Sachverständige
völlig unberücksichtigt bleibt.
Die Beklagte war nach alledem nicht verpflichtet, den Bescheid vom 24. Februar 2003 gemäß § 44 Abs. 1 SGB X zurückzunehmen und dem Kläger die beantragten Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I zu gewähren,
weshalb die Berufung unbegründet ist und damit zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.2 Nr.1, 2
SGG).