Anspruch auf Anerkennung eines Harnblasenkrebses als Berufskrankheit in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer im Februar 2005 aufgetretenen Harnblasenerkrankung als Berufskrankheit
nach der Nr. 1310 (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine) der
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) im Streit.
Der 1968 geborene Kläger arbeitete seit 1990 als angelernter Chemikant bei der Firma C.-Spezialitätenchemie GmbH in G.-W.,
als der Urologe Dr. H. der Beklagten am 15.4.2005 eine Verdachtsanzeige über das Vorliegen einer Berufskrankheit wegen eines
bei dem Kläger festgestellten noninvasiven, gut differenzierten papillären Urothelkarzinoms mitteilte (Bericht der Pathologie
O. vom 15.3.2005).
Die Beklagte führte daraufhin Ermittlungen zur Chemikalienexposition des Klägers an seinem Arbeitsplatz durch. Der Präventionsbeauftragte
J. teilte in seinem Bericht vom 23.05.2005 nach einer Besichtigung des Arbeitsplatzes des Klägers und einem gemeinsamen Gespräch
mit, dass der Kläger seit 1990 bei seinem Arbeitgeber arbeite, unterbrochen lediglich durch den 12-monatigen Grundwehrdienst
von 1992 bis 1993. Zunächst habe er eineinhalb Jahre lang in der Trocknerei gearbeitet, wobei die Produkte Tinopale, Monoazo,
Orasole und Pergasolfarbstoffe verarbeitet worden seien. Nach eineinhalb Jahren habe der Kläger in den Bereich des Ansatzes
gewechselt, in denen die Ansätze in verschiedenen großen Kesseln gefahren worden seien. Beim Einfüllen insbesondere der Amine
seien Arbeitsschutzmaßnahmen entsprechend den Vorschriften getroffen worden, allerdings sei früher weniger Arbeitsschutz betrieben
worden. An den Kesseln sei eine Abluftanlage installiert. Insbesondere bei den Lederfarbstoffen sei hierbei Staub entstanden,
der eingeatmet worden sei. Beim Kläger sei am 23.02.2005 eine Nierensteinerkrankung behandelt worden; hierbei sei ein Tumor
in der Harnblase entdeckt worden. Der Tumor sei entfernt worden, weitere Therapien seien nicht eingeleitet worden. Der Kläger
habe angegeben, in jährlichen Abständen über den Organisationsdienst für nachgehende Untersuchungen (ODIN) durch den Werksarzt
der Firma C. untersucht worden zu sein. Der Kläger sei immer Nichtraucher gewesen und habe den Genuss alkoholischer Getränke
verneint. Besondere Erkrankungen seien innerhalb seiner Familie nicht aufgetreten. Er benötige keine Hilfsmittel für die Verrichtung
des täglichen Lebens. Der behandelnde Urologe Dr. H. teilte am 03.06.2005 ergänzend mit, dass der Kläger wegen Koliken rechts
und einem Harnleiterstein rechts in Behandlung gewesen sei. Die Tumorresektion in der Harnblase sei ambulant erfolgt. Es fänden
nachträgliche regelmäßige Kontrollen statt.
Die Firma Holzleimbau W. in R.-M. teilte am 23.08.2005 mit, dass der Kläger vom 01.09.1984 bis 31.08.1987 als Zimmerer-Azubi
im Bereich Werkshalle/Schule/Baustelle und vom 01.09.1987 bis zum 02.01.1990 als Zimmerer im Bereich Werkshalle/Baustelle
tätig gewesen sei. Er habe beim Abbinden und Aufrichten von Holzbauteilen geholfen. Ungefähr ein Fünftel der Holzbauteile
sei mit Holzschutzmitteln behandelt worden. Die Holzschutzmittel seien umweltfreundlich und geruchsschwach gewesen, bei den
Arbeiten seien Gummihandschuhe und eine Gummischürze getragen worden, und eine Berührung der Mittel habe nie stattgefunden.
Die Messwerte hätten immer im zulässigen Bereich gelegen.
Der Aufsichtsbeamte teilte zu den bei der Firma Holzleimbau W. verwendeten Chemikalien am 17.10.2005 nähere Einzelheiten mit.
Die genannten Stoffen hätten nicht die Schadstoffe aromatische Amine, 4-Aminodiphenyl, Benzidin oder ß-Naphtylamin enthalten.
Mit einer erneuten Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 24.10.2005 wurde mitgeteilt, dass hinsichtlich der Tätigkeit
bei der Firma Holzleimbau W. keine Exposition gegenüber krebserzeugenden aromatischen Aminen vorgelegen habe.
Die Firma C. Spezialitätenchemie teilte am 31.10.2005 mit, dass der Kläger vom 18.06.1990 an bei ihr als angelernter Chemiearbeiter
in der Fabrikation (unterbrochen durch den Wehrdienst von 12 Monaten Dauer im Zeitraum 1992/1993) gearbeitet habe. Im betroffenen
Zeitraum von 1990 bis 2005 seien im Fabrikationsgebäude keine Stoffe der Gefährdungskategorie 1 (sogenannte K1-Stoffe) verwendet
worden. Rohstoffe mit Verunreinigungen an 2-Naphtylamin (< Klassierungsgrenze) seien unter analytischer Eingangskontrolle
und vorsorglicher PSG verwendet worden. Als K2-Stoffe seien 3,3-Dimethoxybenzidin (Odin 15486) und 3,3-Dimethylbenzidin (Odin
15419) als Rohstoffe zum Einsatz gekommen, deren Verwendung im 1. Halbjahr 1991 eingestellt worden sei. Als weitere K2-Stoffe
würden bis zum heutigen Tag Dimethylsulfat (geschlossenes System) im Lokal 9076 des Arbeitgebers (wo der Kläger seit 1991
gearbeitet hat) sowie p-Kresidin (zeitweise) eingesetzt. Aufgrund der Arbeitsweise werde eine Exposition gegenüber den genannten
Stoffen als nicht wahrscheinlich beurteilt. Das Fabrikationsgebäude habe seit seiner Errichtung eine zentrale Abluftanlage
zur Kesselentlüftung und örtliche Quellabsaugungen für Dämpfe. Für alle Verfahren gebe es Betriebsvorschriften, in denen Arbeitsweise
und die PSA (persönliche Schutzausrüstung) geregelt seien. Zur PSA gehörten neben dem Standard (Sicherheitsschuhe, Helm, Brille,
Handschuhe) stoffspezifische Zusatzgegenstände gemäß den Arbeitsvorschriften und den Chemikalienkurzmerkblättern. Laut Angaben
des Versicherten sei die PSA (persönliche Schutzausrüstung) auch verwendet worden.
Der Betriebsarzt Dr. S. der Firma C. GmbH teilte am 07.11.2005 hierzu ergänzend mit, dass gefährdende Stoffe hinsichtlich
der geltend gemachten Berufskrankheit im Betrieb verwendet worden seien bzw. verwendet würden, wozu er auf die Ausführungen
des Arbeitgebers vom 31.10.2005 verwies. Vorsorgeuntersuchungen und technische Arbeitsschutzmaßnahmen seien durchgeführt worden.
Es liege ein typisches Erkrankungsbild der geltend gemachten Berufskrankheit Nr. 1301 nach der
BKV vor. Eine Exposition gegenüber krebserzeugenden aromatischen Aminen erscheine indes als nicht wahrscheinlich. Allerdings
seien außerberufliche Expositionen mit derartigen Stoffen nicht bekannt, zumal der Kläger zeitlebens Nichtraucher gewesen
sei. Die bisherigen technischen Arbeitsschutzmaßnahmen hätten in der Substitution krebserzeugender Stoffe soweit als möglich
durch weniger gesundheitsschädliche Stoffe, in der Installation geschlossener Anlagen, lüftungstechnischer Maßnahmen sowie
der konsequenten Benutzung der persönlichen Schutzausrüstung (soweit erforderlich) bestanden.
Die Gewerbeärztin G. G. schlug am 22.12.2005 die Nichtanerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 1301 der Anlage zur
BKV vor, da die haftungsbegründende Kausalität nicht wahrscheinlich gemacht worden sei.
Erst nach dieser Stellungnahme legte der Präventionsdienst am 16.02.2006 eine weitere Beurteilung des Arbeitsplatzes des Klägers
bei der Firma C. Spezialitätenchemie vor. Nach der Auskunft des Arbeitgebers sei im Arbeitsbereich 9076 des Klägers in der
Chemikalienproduktion 2-Naphthylamin als Beimengung in Naphthylamin-6-Sulfosäure mit einer maximalen Konzentration von 0,1
% aufgetreten. Ab ca. 1993 habe die Naphthylamin-6-Sulfosäure weniger als 0,01 % 2-Naphthylamin enthalten und sei damit kein
krebserzeugender Stoff im Sinne der Gefahrstoffverordnung mehr gewesen. In anderen Naphthylaminderivaten, die zum Einsatz kämen, sei die Konzentration des 2-Naphthylamins um mindestens
den Faktor 0,1 geringer. Letzteres gelte für alle Naphthylaminderivate, was durch die Eingangskontrolle belegbar sei. Vor
der Verwendung werde das Ausgangsprodukt bezüglich seines 2-Naphthylamingehaltes analytisch kontrolliert. 2-Naphthylamin werde
in den erzeugten Produkten nicht mehr nachgewiesen, weil es parallel zur Kupplung der Hauptkomponente verbraucht werde. Bei
der Verarbeitung seien für das Personal besondere Schutzvorkehrungen vorgesehen, nämlich das Tragen von Schutzmaske, Schürze
und Gummihandschuhen sowie anschließend das Duschen nach Beendigung des Stoffeintrags. Aufgrund der niedrigen Konzentration
sowie aufgrund der gemäß den Betriebsvorschriften vorgesehenen besonderen Schutzmaßnahmen könne davon ausgegangen werden,
dass der Kläger nicht in einem Ausmaß gegenüber 2-Naphthylamin exponiert gewesen sei, das geeignet gewesen sei, das Risiko
an einem Blasenkrebs erheblich zu erhöhen.
Mit Bescheid vom 07.04.2006 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 1301 der Anlage zur
BKV (Schleimhautveränderungen oder schwere Erkrankungen der Harnwege durch aromatische Amine) mit der Begründung ab, dass angesichts
der geringen Gefahrstoffexposition sowie der verwendeten Schutzmaßnahmen eine ausreichende Exposition für die Anerkennung
der geltend gemachten Berufskrankheit nicht vorgelegen habe.
Den Widerspruch vom 27.04.2006, der nicht begründet wurde, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.09.2006 als unbegründet
zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde am 05.09.2006 zur Post gegeben.
Der Kläger hat am 09.10.2006 (Montag) durch seine Bevollmächtigten beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben. Der Widerspruchsbescheid sei rechtswidrig, da er an seinem Arbeitsplatz den krebserregenden Stoffen Cobaltsulfat
und o-Toluidin (insbesondere in der hohen Konzentration von 2-Naphthylamin) ausgesetzt gewesen sei. Die aufgenommene Gesamtmenge
eines schädlichen Stoffes hänge nicht nur von dessen Konzentration in der Luft, sondern auch von der Häufigkeit bzw. der Dauer
des Exposition ab. Die vom Kläger aufgenommene Gesamtmenge sei extrem hoch gewesen, da er diesem Stoff in hoher Konzentration
nicht nur kurzfristig, sondern über 14 Jahre hinweg während seiner Vollzeittätigkeit bei der Firma C. ausgesetzt gewesen sei.
Die verwendete Schutzausrüstung, insbesondere die Staubmaske, seien absolut ungeeignet gewesen, die Aufnahme des Stoffes zu
verhindern. Der Fall des Klägers sei im Übrigen kein Einzelfall, da dem Bevollmächtigten des Klägers bisher zehn weitere Fälle
mit ähnlicher Erkrankung bei dem gleichen Arbeitgeber namentlich bekannt seien.
Die Firma C. hat am 05.04.2007 auf Anfrage des SG mitgeteilt, dass Kontakte mit Cobaltsulfat, o-Toluidin (als Verunreinigung in Rohstoffen mit < 1000 ppm) und 2-Naphthylamin
(als Verunreinigung in Rohstoffen mit < 100 ppm) möglich gewesen seien, und hat weitere Angaben zu den verwendeten Arbeitsvorgängen,
Arbeitsmengen und der verwendeten Schutzausrüstung gemacht. Bei dem als Rohstoff verwendeten Cobaltsulfat habe es bei regelmäßigen
Messungen am Arbeitsplatz lediglich ein Mal eine Grenzwertüberschreitung gegeben.
Ergänzend hat die Firma C. am 15.06.2007 mitgeteilt, dass bis zum Jahr 2000 ein höheres Vorhandensein von o-Toluidin zu verzeichnen
sei. Aufgrund einer weitergehenden Datenrecherche bei der Rohmaterialeingangskontrolle sei davon auszugehen, dass bei einem
Rohstoff (2-Aminotoluol-5-Sulfosäure) die Spezifikation vom Hersteller bis zum Jahr 2000 nicht eingehalten worden sei (Überschreitungen
bis 6000 ppm). Mit einem Lieferantenwechsel im Jahr 2001 hätten sich dann keine weiteren Überschreitungen der Spezifikation
von < 1000 ppm mehr gezeigt.
Die Beklagte hat eine Stellungnahme ihres Präventionsdienstes vom 28.06.2007 vorgelegt, wonach nach den neuen Angaben des
Arbeitsgebers für die Zeit von 1993 bis 1997 eine Exposition des Klägers von 6 µg/m³ o-Toluidin pro Schicht bei 24 Schichten
pro Jahr vorgelegen habe. Bei der anderen Verwendung des Stoffes für die Herstellung des Lederfarbstoffes Sellaecht Braun
CR und des Farbstoffs Pergasol Orange 6R sei aufgrund der Einwirkung und der festgestellten Verfahrensweise von einer Exposition
nicht auszugehen.
Im Auftrag des SG hat Prof. Dr. W. am 06.05.2008 ein fachurologisches Gutachten erstellt. Generell sei nach neueren Erkenntnissen auf dem Gebiet
der Krebsforschung davon auszugehen, dass die Entstehung von Krebserkrankungen ein Mehrstufenprozess sei, und hierbei in der
Regel genetische Disposition (Vererbung), endogene Prozesse und exogene Faktoren zusammenwirkten. Hieraus sei zu folgern,
dass im Einzelfall eine eindeutige Zuordnung, welcher Faktor letztendlich die Krebserkrankung verursacht habe, nicht möglich
sei. Die weitere Beurteilung könne demzufolge nur auf der Basis einer Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten durchgeführt werden.
Angesichts des relativ frühen Erkrankungsalters des Klägers im Alter von 37 Jahren, der Arbeitsanamnese und der Epidemiologie
sei von der Entwicklung des Harnblasenkarzinoms aufgrund der Einwirkung einer exogenen Noxe auszugehen. Bei Männern unter
45 Jahren sei das Auftreten eines Harnblasenkarzinoms mit 0,4 bis 1,0 % relativ selten. Außerdem könne das Rauchen als wichtigster
Risikofaktor ausgeschlossen werden, wobei anschließend der Exposition gegenüber krebserzeugenden aromatischen Aminen als zweitwichtigstem
Risikofaktor eine entscheidende Rolle zukomme. Weitere Risikofaktoren seien chronische Infektionen mit einhergehender chronischer
Entzündung, bestimmte Medikamente, Trinkwasserchlorierung (Bromatexposition, Arsenexposition, Nitratexposition), verschiedene
Verbrennungsprodukte, eine stattgehabte Strahlentherapie und weiteres. Bei dem Kläger liege außer der bekannten beruflichen
Exposition und den angeborenen Risikofaktoren (Alter, Geschlecht) kein weiterer Risikofaktor vor. Der Kläger habe Zeit seines
Lebens nie geraucht und neben der beruflichen Tätigkeit keine weitere Exposition gegenüber karzinogenen Stoffen gehabt. Die
Vermutung einer berufsbedingten Schädigung sei daher jedenfalls nicht unwahrscheinlich. Der Kläger habe sich bei seinem Beruf
als Chemiearbeiter in der Farbstoffindustrie auch in einer Berufsgruppe mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung eines
Urothelkarzinoms befunden. Ausgehend von einer in der Literatur angenommenen allgemeinen Latenzzeit von ca. 45 Jahren zwischen
dem Einwirken der Noxe und der Manifestation des Tumors und einer Latenzzeit bei Personen mit einer anerkannten BK Ziff. 1301
von 35 Jahren liege beim Kläger eine verhältnismäßig kurze Einwirkungsdauer und auch eine verhältnismäßig kurze Latenzperiode
vor. Die vorliegend untersuchten 2-Naphthylamin und o-Toluidin seien sogenannte K1-Amine, welche eindeutig und bekanntermaßen
beim Menschen Krebs erzeugen könnten. Grenzwerte (MAK- und BAT-Werte), bei deren Einhaltung Erkrankungen nicht zu befürchten seien, seien in der Kategorie 1 nicht angegeben. Dies sei nur
für krebserzeugende Arbeitsstoffe/aromatische Amine mit geringerer Wirkungsstärke der Kategorien 4 und 5 vorgesehen. Das aromatische
Amin o-Toluidin habe bis vor 2 Jahren noch zu den K2-Stoffen gezählt. Nach Tierversuchen mit eindeutig nachgewiesener krebserzeugender
Wirkung von o-Toluidin sei jener Stoff durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Neuerscheinung der MAK-und
BAT-Werte-Liste am 5.7.2006 in die Kategorie der K1-Stoffe eingeordnet worden. o-Toluidin könne neben der inhalativen Aufnahme
auch sehr gut über die Haut aufgenommen werden, was generell auch für alle aromatischen Amine (insbesondere auch 2-Naphthylamin)
gelte. Welche Mengen trotz der verwendeten Schutzausrüstung bei der Arbeitsweise des Klägers in den menschlichen Körper gelangen
könnten, bleibe rein spekulativ. Beim Kläger sei keine Maßnahme des Biomonitoring (Bestimmung des Azetylierstatus) erfolgt.
Ausgehend von den verschiedenen Arbeitseinsätzen des Klägers stehe eine Exposition gegenüber einer 0,01 % Konzentration von
2-Naphthylamin im Zeitraum von 1993 bis heute (15 Jahre) im Vordergrund. Eine kumulative Gesamtdosis sei in den Akten nicht
dokumentiert worden. Dem aromatischen Amin o-Toluidin sei der Kläger während ca. 15 Minuten in ca. 24 Schichten im Jahr ausgesetzt
gewesen. Auch unter Berücksichtigung der o-Toluidin-Verunreinigung bis zum Jahr 2001 sei vor dem SG (Stellungnahme des technischen Arbeitsdienstes Bl. 37 und 83 der SG-Akte) demonstriert worden, dass der Kläger aufgrund der errechneten Menge von 6 µg/m³ pro 8 h an 240 Tagen im Jahr von der
"Risikoverdoppelungsmenge" von 30.000 mg o-Toluidin weit entfernt sei. Jedoch basiere das Rechenbeispiel nur auf der inhalierten
Menge o-Toluidin und berücksichtige nicht, das aromatische Amine generell sehr gut hautgängig seien. Das Rechenbeispiel sei
daher nicht repräsentativ, sondern spekulativ. Festzuhalten sei, dass bei den genannten Stoffen mit einer bekannten o-Toluidinverunreinigung
die Grenzwerte von < 1000 ppm teilweise erst seit einigen Jahren eingehalten würden. Aussagen über den o-Toluidingehalt in
m-Toluidin vor dem Jahr 1998 seien nicht möglich.
Die Beklagte stütze sich bei ihrer ablehnenden Entscheidung insbesondere auf das Symposium des Hauptverbandes der gewerblichen
Berufsgenossenschaften (HVBG) über aromatische Amine am 27.02.2007 (fortan: Symposium vom 27.02.2007). Dieses habe vorgeschlagen, dass eine geeignete
Exposition nur vorliege, wenn das Erkrankungsrisiko im Vergleich zur Normalbevölkerung um den Faktor 2 erhöht werde. Entgegen
den Ausführungen des Symposiums über aromatische Amine lasse sich aus epidemiologischen Studien in der englischen und deutschen
Industrie jedoch keine Dosis-Wirkungs-Beziehung ableiten. Die aktuelle Datenlage über aromatische Amine erlaube weder die
Angabe einer "sicheren Dosis" noch die Ermittlung einer Dosis, bei welcher sich das Normalrisiko durch 2-Naphthylamin verdoppele.
In Ermangelung besserer Vergleichsmöglichkeiten werde nach dem obigen Modell die Anerkennung einer Berufskrankheit grundsätzlich
in Betracht kommen, wenn die arbeitsbedingte Einwirkung krebserzeugender aromatischer Amine näherungsweise in dem Umfang erfolge,
der bei einem Raucher zum Verdoppelungsrisiko führe. Das bedeute für den Raucher ein Verdoppelungsrisiko für Harnblasenkarzinome
bei 15 Packungsjahren bzw. einer kumulativen Gesamtdosis von 6 mg aromatischen Aminen. Für den Kläger sei indes bisher eine
kumulative Gesamtdosis nicht festgestellt worden. Allerdings habe der Verordnungsgeber für die Berufskrankheit der Ziff. 1301
anders als bei anderen Berufskrankheiten einen Dosiswert nicht genannt. Deswegen könne auch der Vorschlag des Symposiums zum
Nachweis eines Verdoppelungsrisikos als Begründung für die Anerkennung einer Berufskrankheit nicht überzeugen. Das vorgeschlagene
Modell sei auch deswegen fragwürdig, weil Zigarettenrauch außer aromatischen Aminen eine Vielzahl anderer krebserzeugender
Gefahrenstoffe enthalte, die mit großer Wahrscheinlichkeit das Risiko von Rauchern im Hinblick auf Harnblasenkarzinome erhöhten.
Der Kläger sei vorliegend unbestritten einer bestimmten Dosis der K1-Stoffe 2-Naphthylamin, o-Toluidin und sicherlich auch
den K2-Stoffen 3,3-Dimethoxybenzidin, 3,3-Dimethylbenzidin und p-Kresisin ausgesetzt gewesen. Da ein Konsens über Grenzwerte
nicht bestehe, könne das Vorliegen einer Berufskrankheit aufgrund der oben genannten Dosiswerte bei dem Kläger nicht ausgeschlossen
werden. Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände (Alter des Klägers, jahrelang nicht eingehaltene Grenzwerte für die Chemikalien,
nicht einberechnete kutane Resorptionen der aromatischen Amine und der ausführlichen Darlegung der kanzerogenen Eigenschaften)
liege mehr als die bloße Wahrscheinlichkeit für die Verursachung der vorliegend geltend gemachten Berufskrankheit vor. Eine
hinreichende Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen der Exposition und der Verursachung der Blasenerkrankung sei daher
zu bejahen. Nach erfolgreicher Entfernung des malignen Blasentumors am 09.03.2005 sei bisher kein Rezidiv aufgetreten und
eine Heilungsbewährung von 2 Jahren damit bereits verstrichen. Da bei dem Kläger keine Funktionseinschränkungen vorlägen,
werde nach Ablauf der Heilungsbewährung von 2 Jahren keine weitere Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bejaht, nachdem bis
zum 09.03.2007 eine MdE um 50 von Hundert (v. H.) anzunehmen sei.
Die Beklagte hat zu dem Gutachten eine ergänzende Stellungnahme ihres Präventionsbeauftragten G. vom 02.10.2008 vorgelegt.
Erneut weist der Präventionsbeauftragte darauf hin, dass seiner Auffassung nach wegen der Schutzausrüstung keine nennenswerten
Expositionen (inhalativ oder dermal) stattgefunden hätten. Selbst bei einer worst-case-Einschätzung der Exposition von o-Toluidin
könne inhalativ nur eine Gesamtexposition von ungefähr 17 mg erreicht werden. Dabei werde jedoch von keiner dermalen Exposition
ausgegangen, da als persönliche Schutzausrüstung sei 1993 Gummihandschuhe, Korbbrille und Gesichtsschutz verwendet worden
seien. Die Exposition gegenüber 2-Naphthylamin sei nicht nennenswert gewesen.
Mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 07.01.2009 hat der Gutachter Prof. Dr. W. hierzu die Auffassung vertreten,
dass der Präventionsbedienstete der Beklagten insoweit keine neuen Argumente vortrage. Es werde erneut dargelegt, dass die
Risikoverdoppelungswerte von 6 mg 2-Naphthylamin bzw. 30.000 mg o-Toluidin bei dem Kläger nicht im Entferntesten erreicht
würden. Da es sich bei diesen immer wieder diskutierten Risikoverdoppelungswerten keineswegs um anerkannte Grenzwerte handele,
sei die Einschätzung der Beklagten, dass der Kläger diesen Werten nicht im Entferntesten ausgesetzt gewesen sei, kein Nachweis
dafür, dass eine Berufskrankheit nicht vorliege. Hilfreich könne bei der Gesamteinschätzung vorliegend nur ein biologisches
Monitoring (Messung der aromatischen Amine im Urin sowie Messung der Hämoglobinabddukte aromatischer Amine im Blut) sein,
welches bei dem Kläger nach den vorliegenden Erkenntnissen niemals stattgefunden habe. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die
Beklagte eine dermale Resorption derart ausschließen könne. Auch das Rechenbeispiel über die worst case-Abschätzung mit einer
Gesamtexposition von 17 mg o-Toluidin (1/2000 des Risikoverdoppelungswertes) führe vorliegend nicht weiter, da eine sichere
Aussage über die tatsächliche Aufnahme von aromatischen Aminen bei dem Kläger derzeit nicht getroffen werden könne. Da kein
Konsens über Grenzwerte bestehe, bei deren Einhaltung Erkrankungen nicht zu befürchten seien, könne das Vorliegen einer Berufskrankheit
aufgrund der genannten Dosiswerte bei dem Kläger nicht ausgeschlossen werden. Es sei bereits darauf hingewiesen worden, dass
unter Berücksichtigung sämtlicher Faktoren wie Alter, Exposition und nicht quantifizierbare kutane Resorption die Zusammenhänge
im vorliegenden Fall über die Tatsache einer "bloßen" Wahrscheinlichkeit hinausgingen und schließlich stimmig erscheine.
Mit Urteil vom 14.05.2009 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Vorliegend sei die versicherte Tätigkeit ebenso nachgewiesen wie die schwere Harnblasenerkrankung
des Klägers. Auch bestehe kein Zweifel, dass der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit mit Gefahrstoffen in Kontakt
gekommen sei, die geeignet seien, seine Erkrankung auszulösen. Dennoch sei die Erkrankung nicht als Berufskrankheit der Ziff.
1301 der Anlage 1 zur
BKV anzuerkennen, da der Kläger nicht in einem Ausmaß beruflich mit aromatischen Aminen in Berührung gekommen sei, welches ausreiche,
um ursächlich seine Harnblasenerkrankung auszulösen. Ausgehend von den festgestellten Expositionswerten liege die Belastung
des Klägers erheblich unter dem ehemaligen TRK-Wert (Technische Richtkonzentration) von o-Toluidin auf 500 mg/m³. Auch sei
in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit der sogenannten Risikoverdoppelung für das Harnblasenkrebsrisiko beachtlich, wie
er im Symposium über aromatische Amine am 27.02.2007 mit absolut 30.000 mg vorgeschlagen worden sei. Zwar sei einzuräumen,
dass bei o-Toluidin eine wissenschaftlich begründete Dosis-Wirkung-Beziehung nicht existiere. Die nachgewiesene Menge des
aufgenommenen Gefahrstoffes nach einer worst-case Berechnung sei jedoch so gering, dass sich daraus die erforderliche Wahrscheinlichkeit
eines Ursachenzusammenhangs zwischen aufgenommener Menge des Gefahrstoffes und der Erkrankung des Klägers nicht ableiten lasse.
Deswegen sei der vorgeschlagene Risikoverdoppelungswert bei dem Symposium über aromatische Amine vom 27.02.2007 zwar ein unverbindlicher
Richtwert, der allerdings dann Gewicht habe, wenn die Menge des aufgenommenen Gefahrstoffes im Vergleich zu diesem Wert auch
nicht annähernd gewichtig erscheine. Dementsprechend führe der Gutachter Prof. Dr. W. auch aus, dass aufgrund des Fehlens
von Grenzwerten das Vorliegen einer Berufskrankheit aufgrund der o. g. Dosiswerte nicht ausgeschlossen werden könne, was jedoch
für die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nicht ausreiche. Hierbei seien auch die von dem Gutachter benannte relativ
geringe Expositionsdauer und kurze Latenzzeit und das junge Alter des Klägers zu berücksichtigen gewesen. Das Urteil des SG ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 25.05.2009 zugestellt worden.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat am 25.06.2009 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt, die sich im Wesentlichen auf
das Gutachten und die ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. W. stützt. Nachdem ein Grenzwert bezüglich der nachgewiesenen
Belastungen nicht anerkannt sei, müsse der Nachweis der Belastung vorliegend zur Anerkennung der Berufskrankheit führen. Unabhängig
hiervon sei aber auch von einer höheren Belastung durch die genannten Gefahrstoffe als von der Beklagten eingeräumt auszugehen,
da insbesondere die Schutzausrüstung des Klägers nicht ausreichend gewesen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 14.05.2009 und den Bescheid der Beklagten vom 07.04.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 04.09.2006 aufzuheben und festzustellen, dass die bei ihm aufgetretene Harnblasenerkrankung eine Berufskrankheit nach
der Ziff. 1301 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig. Das SG habe anerkannt, dass ein Grenzwert für die Exposition nicht existiere, aber überzeugend argumentiert, dass zu den diskutierten
Grenzwerten ein so großer Abstand bestehe, dass die Verursachung vorliegend als nicht wahrscheinlich anzusehen sei. Wenn nach
Ausschöpfung aller Beweismittel die anspruchsbegründenden Tatsachen aber nicht mit dem erforderlichen Grad der Überzeugung
bewiesen seien, gehe die mangelnde Beweisbarkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen zu Lasten des Versicherten. Eine Umkehr
der Beweislast finde vorliegend nicht statt. Die Beklagte hat den Aufsatz "Berufskrankheit 1301" (Weiß/Henry/Brüning, Arbeitsmed.Sozialmed.Unfall-med.
2010, 222) vorgelegt.
Am 17.11.2009 hat der Berichterstatter des Verfahrens im Landessozialgericht einen Erörterungstermin durchgeführt. Hierin
gab der Kläger unter anderem an, dass in seinem Arbeitsbereich bei der Firma C. Spezialitätenchemie die Schutzausrüstung zu
Anfang seiner Tätigkeit nicht vollständig benutzt worden sei; auf die weiteren Ausführungen des Klägers hierzu wird verwiesen.
Im Auftrag des Landessozialgerichts hat der Urologe Prof. Dr. S. von der Klinik für Urologie des Universitätsklinikums U.
am 02.07.2010 ein weiteres Fachgutachten nach Aktenlage erstellt, in welchem er sich im Wesentlichen den Ausführungen des
Vorgutachters hinsichtlich des Vorliegens der geltend gemachten Berufskrankheit und des Vorliegens einer MdE um 50 v. H. vom
09.03.2005 bis zum 09.03.2007 anschließt.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten,
die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Gegenstand der Berufungsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 07.04.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 04.09.2006, mit dem die Beklagte im Verfügungssatz die Feststellung der beim Kläger vorliegenden Harnblasenerkrankung
als BK nach Nr. 1301 und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung abgelehnt hat. Mit der Ablehnung
von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat die Beklagte aber nicht über eine konkrete Leistung - z. B. Verletztengeld
oder Verletztenrente - entschieden. Bei sachgerechter Auslegung ist daher das Begehren des Klägers im Hinblick auf die im
Ausgangsbescheid erfolgte Ablehnung einer BK als Anfechtungs- und Feststellungsklage zu sehen (BSG, Urteil vom 20.03.2007
- B 2 U 19/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 23; Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.09.2008 - L 1 U 2116/08 - und vom 12.05.2009 - L 9 U 1415/08 -). Dem hat der Kläger durch die Rücknahme der im erstinstanzlichen Verfahren noch verfolgten Leistungsklage auch Rechnung
getragen.
Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§
7 Abs.
1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch -
SGB VII -). Berufskrankheiten (BK) sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates
als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §
2,
3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§
9 Abs.
1 Satz 1
SGB VII). Gemäß §
56 Abs.
1 Satz 1
SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H.
gemindert ist, Anspruch auf eine Rente.
Ein Harnblasenkarzinom, wie es beim Kläger aufgetreten ist, kann als BK anerkannt werden, wenn es sich um eine Erkrankung
durch aromatische Amine handelt. Wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 02.04.2009 (B 2 U 9/08 R = SGb 2009, 355) ausgeführt hat, lassen sich aus der gesetzlichen Formulierung bei einer BK, die in der
BKV aufgeführt ist (sog. Listen-BK), im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten:
Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen,
Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit
verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen"
und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die
nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit,
nicht allerdings die bloße Möglichkeit (unter Hinweis auf BSG vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7, jeweils RdNr. 15; BSG vom 09. 05.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 13 ff.).
Klarstellend und abweichend von der früheren gelegentlichen Verwendung des Begriffs durch den 2. Senat des BSG (vgl. BSG vom
02.05.2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr. 16; BSG vom 04.12.2001 - B 2 U 37/00 R - SozR 3-5671 Anl. 1 Nr. 4104 Nr. 1) hat das BSG in der genannten Entscheidung betont, dass im BK-Recht der ursächliche Zusammenhang
zwischen der versicherten Tätigkeit und den Einwirkungen nicht als haftungsbegründende Kausalität bezeichnet werden kann.
Durch diesen Zusammenhang wird keine Haftung begründet, weil Einwirkungen durch die versicherte Tätigkeit angesichts ihrer
zahlreichen möglichen Erscheinungsformen und ihres unterschiedlichen Ausmaßes nicht zwangsläufig schädigend sind. Denn Arbeit
- auch körperliche Arbeit - und die damit verbundenen Einwirkungen machen nicht grundsätzlich krank. Erst die Verursachung
einer Erkrankung durch die der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Einwirkungen begründet eine "Haftung". Ebenso wie die
haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheits(-erst-)schaden und Unfallfolge beim Arbeitsunfall (vgl. nur BSG vom 9.
Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 10) ist die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der berufsbedingten Erkrankung
und den BK-Folgen, die dann ggf. zu bestimmten Versicherungsansprüchen führen, bei der BK keine Voraussetzung des Versicherungsfalles.
Die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit des Klägers bei seinen letzten beiden Arbeitgebern ist gegeben. Nach Maßgabe
der oben aufgeführten, für das BK-Recht modifizierten Terminologie des BSG sind vorliegend nach den übereinstimmenden und
überzeugenden Gutachten von Prof. Dr. W. und Prof. Dr. S. darüber hinaus auch die Einwirkungen (durch aromatische Amine) und
eine Erkrankung der Harnwege durch Neubildung (Harnblasenkarzinom) im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen. Darüber hinaus
ist mit den beiden Gutachtern auch im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch
von einer beruflich bedingten Entstehung des Harnblasenkarzinoms auszugehen.
Der Kläger war unstreitig bei seinem letzten Arbeitgeber, der Firma C. Spezialitätenchemie, neben anderen Gefahrstoffen den
Chemikalien Cobaltsulfat, o-Toluidin (als Verunreinigung in Rohstoffen bis zum Jahr 2000 mit bis zu 6000 ppm, danach mit <
1000 ppm) und 2-Naphthylamin (als Verunreinigung in Rohstoffen mit < 100 ppm) ausgesetzt. Bei dem als Rohstoff verwendeten
Cobaltsulfat hat der Arbeitgeber am Arbeitsplatz eine einmalige Grenzwertüberschreitung bei einer Messung eingeräumt. Bei
den Stoffen o-Toluidin und 2-Naphthylamin handelt es sich um Stoffe der Gefahrkategorie 1 (K1-Stoffe), die nach gesichertem
wissenschaftlichem Konsens beim Menschen als krebserregend gelten und sowohl über die Atmung als auch über die Haut aufgenommen
werden können. Insoweit ist insbesondere festzustellen, dass diese Chemikalien nur teilweise in geschlossenen Kreisläufen
verwendet wurden und nach den mehrfachen Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten die Exposition unzweifelhaft,
wenn auch nach Ansicht der Beklagten nur in äußerst geringer Menge, stattgefunden hat.
Die Einwirkungen der genannten Schadstoffe auf den Kläger waren ausreichend, um ein Harnblasenkarzinom zu verursachen. Der
Versuch der Beklagten, mit Hinweis auf das am 27.02.2007 veranstaltete Symposium über aromatische Amine verbindliche Grenzwerte
für die Entstehung einer BK nach der Nr. 1301 der Anlage zur
BKV zu bestimmen, vermag nicht zu überzeugen (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 12.05.2009 - L 9 U 1415/08 -; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 03.11.2004 - L 3 U 1613/97 -). Bei der Formulierung des Tatbestandes der bereits durch die 3. BKVO vom 16. Dezember 1936 Nr. 14 eingeführten BK Nr. 1301 (vgl. Mehrtens/Brandenburger, Die
Berufskrankheitenverordnung, M 1301 S. 3) hat der Verordnungsgeber auf die Angabe eines konkreten Belastungsgrenzwerts verzichtet. Der Verzicht auf die
Angabe konkreter Belastungsarten und Belastungsgrenzwerte bei der Formulierung von BK-Tatbeständen geschah vielfach bewusst,
um bei der späteren Rechtsanwendung Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener oder bekannt
gewordener Erkenntnisse zu lassen (BSG, Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R -, in Juris Rdnrn. 18 ff. mwN). Auch das Merkblatt zur BK Nr. 1301 der Anlage zur
BKV (Bek. des BMA vom 12.06.1963, BArbBl. Fachteil Arbeitsschutz 1964, 129 f.) sowie der aktuelle BK-Report 1/2009 über Aromatische
Amine (herausgegeben vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, im Internet verfügbar unter
http://www.dguv.de/ifa/de/pub/rep/pdf/reports2009/bk0109/bk_rep_1_2009.pdf) enthalten für die Chemikalien, mit denen der Kläger
in Kontakt gekommen ist, keine Mindestexpositionsmenge. Dies entspricht dem im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen
wissenschaftlichen Forschungsstand.
Der vom SG herangezogene Sachverständige Prof. Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 06.05.2008 und in seiner weiteren Stellungnahme vom
07.01.2009 unter Einbeziehung aktueller wissenschaftlicher Literatur schlüssig und überzeugend dargelegt, dass beim Kläger
unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Risikofaktoren eine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer beruflichen Verursachung
seines Harnblasenkarzinoms besteht. Er hat - ebenso wie die Sachverständigen in dem der Entscheidung des Landessozialgerichts
vom 12.05.2009 (Az. L 9 U 1415/08) zugrundeliegenden Fall - bestätigt, dass es wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über die Frage und den Umfang eines
erhöhten Blasenkrebsrisikos durch berufliche Einwirkung aromatischer Amine im Niedrig-Dosis-Bereich nicht gibt. Entgegen den
Ausführungen des Symposiums über aromatische Amine lassen sich aus epidemiologischen Studien in der englischen und deutschen
Industrie keine Dosis-Wirkungs-Beziehungen ableiten. Die Datenlage erlaubt weder die Angabe einer "sicheren Dosis" noch die
Ermittlung einer Dosis, bei der sich das Normalrisiko verdoppelt. Der im Rahmen des Konsensusgesprächs "in Ermangelung besserer
Vergleichsmöglichkeiten" vorgeschlagene Vergleich mit Rauchern bei der quantitativen Einordnung der Aufnahme krebserzeugender
aromatischer Amine (Erfahrungssatz 7) und der Vorschlag, die Anerkennung einer BK grundsätzlich in Betracht zu ziehen, wenn
die berufsbedingte Einwirkung krebserzeugender aromatischer Amine in dem Umfang erfolgte, die bei einem Raucher zu einer Verdoppelung
des Blasenkrebsrisikos führt (Erfahrungssatz 8), sind nach dem Ergebnis des Symposiums Aromatische Amine, das am 27.02.2007
in der Berufsgenossenschaftlichen Akademie in B. H. mit 180 Teilnehmern stattfand, in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion
noch nicht Konsens. Da der Kläger unbestritten einer bestimmten Dosis der K1-Stoffe 2-Naphthylamin, o-Toluidin und sicherlich
auch den K2-Stoffen 3,3-Dimethoxybenzidin, 3,3-Dimethylbenzidin und p-Kresisin ausgesetzt gewesen ist, kann das Vorliegen
einer Berufskrankheit aufgrund der ermittelten Dosiswerte bei dem Kläger deshalb nicht ausgeschlossen werden. Unter Berücksichtigung
sämtlicher Umstände wie dem Alter des Klägers, der jahrelang nicht eingehaltenen Grenzwerte für die Chemikalien, der nicht
einberechneten (aber anzunehmenden) kutanen Resorptionen der aromatischen Amine und der ausführlichen Darlegung der kanzerogenen
Eigenschaften liegt deshalb eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Verursachung der vorliegend geltend gemachten Berufskrankheit
vor.
Die Ausführungen des Prof. Dr. W. werden durch das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten des Prof. Dr. S. vom 02.07.2010
vollumfänglich bestätigt. Der Senat schließt sich den Ausführungen des Gutachters an. Als wichtigster Risikofaktor hat danach
in unterschiedlichem Ausmaß von 1993 bis 1998 eine dem Umfang nach unstreitige berufliche Exposition gegenüber Stoffen der
so genannten K1-Amine (2-Naphtylamin und o-Toluidin) stattgefunden. Tabakkonsum als konkurrierender Risikofaktor für die Entstehung
eines Harnblasenkarzinoms kann ausgeschlossen werden. Die Benennung von Schwellenwerten kanzerogener Stoffe ist wegen langer
Latenzzeit und möglicher Kumulationseffekte nicht möglich. Auch eine genaue Expositionszeit, welche zu einem Auftreten des
stochastischen Schadens führt, kann nicht angegeben werden. Die Erfassung kumulativer Dosen ist zwar von Bedeutung, jedoch
kann auch mit abnehmenden kumulativen Dosen eine Erkrankung nicht völlig ausgeschlossen werden. Auch beim Nichterreichen der
diskutierten Risikoverdoppelungswerte von 6 mg 2-Naphtylamin und 30.000 mg o-Toluidin kann ein naturwissenschaftlicher Zusammenhang
mit der Erkrankung des Klägers an einem Harnblasenkarzinom nicht ausgeschlossen werden. Auch soweit die Latenzzeit beim Kläger
als zu gering beurteilt worden ist, schließt dies danach nicht die Annahme eines naturwissenschaftlichen Zusammenhanges aus,
weil es sich hierbei um Durchschnittswerte handele, bei denen unter dem Median liegende Zeiten mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit vorliegen. Dabei ist nur ergänzend darauf hinzuweisen, dass nach aktuellem wissenschaftlichen Kenntnisstand
Latenzzeiten zwischen 5 und 64 Jahren nachgewiesen wurden (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit,
8. Auflage 2009 S. 1125), so dass bereits fraglich ist, ob die Latenzzeit beim Kläger tatsächlich gegen eine berufliche Verursachung
spricht. Prof. Dr. W. hat danach auch zu Recht darauf hingewiesen, dass wegen des von der Beklagten nicht berücksichtigten
Risikos der dermalen Resorption auch bei Verwendung der zur Verfügung stehenden PSA Schwellenwerte, Richtwerte und Expositionszeiten
weitgehend spekulativ sind. Unter Berücksichtigung des sehr frühen Auftretens der Erkrankung bei dem Kläger in einem Alter
von 37 Jahren ist, zumal eine Verschiebung der Tumormanifestation in jüngere Altersgruppen insbesondere bei beruflicher Exposition
bekannt sei, von einem kausalen Zusammenhang der Exposition mit der Erkrankung des Klägers auszugehen. Dies gilt in verstärktem
Maße deswegen, weil der konkurrierende Hauptrisikofaktor eines Nikotinkonsums beim Kläger nicht vorliegt.
Diesen Ausführungen kann auch der von der Beklagten vorgelegte Aufsatz "Berufskrankheit 1301" (Weiß/Henry/Brüning, Arbeitsmed.Sozialmed.Unfall-med.
2010, 222) nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden. Die Autoren schlagen zwar ein Berechnungsmodell, das dem Symposiumsergebnis
entspricht, vor, räumen aber auch ausdrücklich ein, dass sich den in der internationalen Literatur verfügbaren epidemiologischen
Arbeiten weder Dosis-Wirkungs- noch Dosis-Risiko-Beziehungen entnehmen lassen, und dass diese Studien in der Regel sogar keine
Exposition angeben (aaO. S. 223).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.