Zulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren trotz Nichterreichen der Berufungssumme
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Beklagte die Kosten für vier Autoreifen im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu übernehmen hat.
Der 1960 geborene Kläger bezieht nach einem Umzug seit November 2010 zusammen mit seiner Ehefrau und der 1995 geborenen Tochter
laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten. Für Unterkunft und Heizung (Mietwohnung)
fallen monatlich 652,50 Euro an. Für die Tochter erhält er Kindergeld in gesetzlicher Höhe. Die Ehefrau erzielt seit 01.01.2012
ein Einkommen aus Beschäftigung in Höhe von monatlich 800,- Euro netto.
Er begehrte seitdem mehrmals die Übernahme der Kosten für vier Autoreifen für seinen privaten Pkw vom Beklagten. Am 24.01.2011
(schriftlich am 05.02.2011) beantragte er beim Beklagten die Übernahme der Kosten für Winterreifen. Dazu legte er drei Vergleichsangebote
für jeweils vier Winterreifen vor mit Gesamtbeträgen von 274,80 Euro, 308,92 Euro bzw. 238,- Euro.
Am 28.03.2011 beantragte der Kläger per Telefax erneut die Übernahme der Kosten für vier Autoreifen (Ganzjahresreifen). Er
benötige diese für ein Vorstellungsgespräch am 04.04.2011.
Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20.04.2011 ab. Die Leistung sei nicht notwendig für die Anbahnung einer Tätigkeit
gemäß §
45 Abs.
1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB III). Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 04.07.2011 in der Sache zurückgewiesen.
Bereits am 26.04.2011 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht und stellte zugleich einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz.
Er sei Berufskraftfahrer und brauche dringend ein Kfz, weil in dieser Branche keine festen Arbeitszeiten bestünden. Es sei
Willkür, vorsätzliche Arbeitsbehinderung und Diskriminierung gegeben.
Mit Gerichtsbescheid vom 21.11.2011 hob das Sozialgericht München den Bescheid vom 20.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 03.07.2011 auf und verpflichtete den Beklagten, über den Antrag des Klägers vom 28.03.2011 unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts neu zu entscheiden. Der Beklagte habe dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu
erstatten.
Es handele sich um eine Leistung aus dem Vermittlungsbudget gemäß §
16 Abs.
2 Satz 1 SGB II i.V.m. §
45 SGB III. Es liege ein Ermessensfehler vor. Die Ablehnung der Leistung begegne hinsichtlich der fehlenden Notwendigkeit keinen Bedenken.
Es fehle an der Darlegung des Ermessens. Der Bescheid führe lediglich aus, dass die Anbahnung der Beschäftigungsverhältnisse
auch mittels öffentlicher Verkehrsmittel erfolgen könne. Es fehle eine Auseinandersetzung mit dem Einwand des Klägers, dass
die in Betracht kommenden Arbeitsorte vom Wohnort aus nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Aufwand mit öffentlichen Verkehrsmitteln
erreicht werden könnten. Auch habe der Beklagte eine mögliche Überschreitung von Lenk- und Ruhezeiten nicht ausreichend berücksichtigt.
Am 02.12.2011 hat der Kläger Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt.
Mit Bescheid vom 22.12.2011 hat der Beklagte den bisherigen Bescheid aufgehoben und neu über den Antrag vom 28.03.2011 entschieden.
Die Kosten könnten aus dem Vermittlungsbudget nur übernommen werden, wenn dies zur Anbahnung oder für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen
Beschäftigung notwendig, das heißt zwingend erforderlich, sei. Dass diese Kosten notwendig seien, ergebe sich jedenfalls nicht
zwingend. Vom Wohnort T. aus würden öffentliche Verkehrsmittel bereits vor 6:00 Uhr verkehren. Eine Überschreitung von Lenk-
und Ruhezeiten für Berufskraftfahrer sei nicht ersichtlich.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 21. November 2011, S 52 AS 1129/11 sowie den Bescheid vom 22.12.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten für vier Ganzjahresreifen zu übernehmen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Beklagten, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Berufungsgerichts
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG). Die Berufung ist jedoch nicht begründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für vier Autoreifen hat.
Streitgegenstand ist die Übernahme der Kosten für vier Autoreifen, die zunächst mit Bescheid vom 20.04.2011 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 04.07.2011 abgelehnt wurde. Während des Berufungsverfahrens wurde der vorgenannte Bescheid durch
den Bescheid vom 22.12.2011 in Vollzug des Gerichtsbescheids vom 21.11.2011 aufgehoben und ersetzt. Dieser Bescheid wurde
kraft §
151 Abs.
2, §
96 Abs.
1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens. Voraussetzung für die Einbeziehung ist, dass Berufung eingelegt wurde (vgl. Leitherer
in Meyer-Ladewig,
Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, §
96 Rn. 7). In der Folge gehen Vorverfahren und erste Gerichtsinstanz verloren. Das Landessozialgericht entscheidet dann auf
eine Klage, nicht auf Berufung (Leitherer, aaO.).
Die Berufungssumme von 750,- Euro wird zwar nicht überschritten (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG), jedoch wurde der neue Bescheid vom 22.12.2011 Gegenstand des Berufungsverfahrens. Damit ist aus rein formalen Gründen der
notwendige Beschwerdewert einer Berufung nach §
144 Abs.
1 SGG nicht mehr zu prüfen.
Der Kläger ist - zusammen mit seiner Familie, mit der er gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 1, 3a und 4 SGB II in Bedarfsgemeinschaft lebt
- leistungsberechtigt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Als Erwerbsfähiger kann er gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB II grundsätzlich
Leistungen zur Eingliederung in Arbeit erhalten.
Die Ablehnung der Kostenübernahme ist aber rechtlich nicht zu beanstanden. Sie entspricht §
16 Abs.
1 Satz 2 SGB II i.V.m. §
45 SGB III. Sonstige Anspruchsgrundlagen, insbesondere im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, etwa Mehrbedarf
nach § 21 SGB II oder unabweisbarer Regelbedarf nach § 24 Abs. 1 SGB II (vgl. dazu Urteil des BSG vom 01.06.2010, B 4 AS 63/09 R, Rn. 15), sind nicht einschlägig. Der Kläger wird durch die rechtmäßige Ablehnung der Kostenübernahme nicht in seinen Rechten
verletzt.
"Ausbildungssuchende, von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitsuchende und Arbeitslose können aus dem Vermittlungsbudget der Agentur
für Arbeit bei der Anbahnung oder Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gefördert werden, wenn dies für die
berufliche Eingliederung notwendig ist."
Unter Anbahnung fallen alle Aktivitäten, die mittelbar die Aufnahme eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis
unterstützen, auch durch den Abbau vermittlungsrelevanter Hemmnisse; die Förderung der Beschäftigungsaufnahme kann einsetzen,
wenn sich eine Einstellung hinreichend konkretisiert hat (Niesel,
SGB III,.5. Auflage 2010, §
45 Rn. 19).
Eine Einstellung hat sich nicht konkretisiert, so dass allenfalls eine Unterstützung der Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses
durch Beseitigung von Vermittlungshemmnissen in Frage kommt.
Die Förderung nach Satz 1 setzt aber nur ein, wenn sie für die berufliche Eingliederung - objektiv - notwendig ist. Der unbestimmte
Rechtsbegriff "notwendig", enthält schon seinem Wortlaut nach ein Element der Unverzichtbarkeit im Sinne einer "engen Kausalität"
(vgl. BSG, Urteil vom 04.03.2009 - B 11 AL 50/07 R). Der Begriff "Notwendigkeit" bringt zum Ausdruck, dass Fördermittel nur einzusetzen sind, wenn das angestrebte Ziel ansonsten
nicht realisiert werden kann (Niesel aaO. Rn. 20). Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor. Die Übernahme der Kosten für
vier Autoreifen war nicht notwendig für eine Berufstätigkeit. Zum einen waren die zumutbaren Tätigkeiten in keiner Weise auf
Berufskraftfahren beschränkt, zum anderen ist nicht erkennbar, dass diese Tätigkeit nur mit einem eigenen Pkw ausgeübt werden
kann. Frühestens wenn eine konkrete Arbeitsplatzzusage vorgelegen hätte und die dabei erforderlichen Arbeitszeiten eine Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel ausgeschlossen hätten, hätte von einer Notwendigkeit für die berufliche Eingliederung gesprochen
werden können. Die vage Möglichkeit, es könnte Arbeitsplätze geben, die mit dem privaten Pkw nicht nur leichter, sondern überhaupt
erst erreichbar wären, genügt nicht für eine Notwendigkeit der Förderung. Es fehlt daher bereits an einer Tatbestandsvoraussetzung
der Förderung.
Selbst wenn man, wie das Sozialgericht, die Tatbestandsvoraussetzungen bejahen würde, wäre der neue Bescheid nicht zu beanstanden.
Es ist kein Ermessensfehler ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil keine Gründe nach §
160 Abs.
2 SGG ersichtlich sind.